Vertane Chancen: Putins Radikalisierung zum antiwestlichen Nationalisten
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Sicherheitsgefühl durch Religion und Atomwaffen: Was sich im Denken des russischen Präsidenten veränderte – und wie es dazu kam. (Teil 3 und Schluss)
Die Abweisung durch den Westen, insbesondere unter dem US-Präsidenten George Bush junior zwischen 2001 bis 2009, führte Wladimir Putin vermehrt dazu, Ideen der Nationalpatrioten aufzugreifen, die von der spirituellen Sicherheit, dem Schutz der religiösen Identität Russlands sprachen, und sie mit den Herausforderungen der nationalen Sicherheit zu verbinden.
Die traditionellen Religionen der Russischen Föderation und der nukleare Schutzschild Russlands sind zwei Dinge, die den russischen Staat stärken und die notwendigen Bedingungen schaffen, um die innere und äußere Sicherheit des Landes zu gewährleisten.
Wladimir Putin am 1. Februar 2007 vor russischen und ausländischen Journalisten. Vergl. Juliette Faure: Wer sind die russischen Falken? Hinter Putins politischer Radikalisierung stehen ultranationalistische Ideologen, in: Le Monde Diplomatique, April 2022
Er griff Ideen des Nationalpatrioten Alexander Prochanow und seiner in den 1990er-Jahren gegründeten Zeitschrift Sawtra auf. Dort fanden sich Stalin-Anhänger, Nationalisten oder monarchistisch-orthodoxe Priester und auch jemand wie Alexander Dugin.
Sie setzten auf einen starken Staat und wandten sich in ihrem Staatspatriotismus gegen die Separatisten im Nordkaukasus und erhielten Zulauf, mit der Finanzkrise 1998, mit der Osterweiterung Ungarns, Polens und Tschechiens 1999 in die Nato oder der Nato-Bombardierung Serbiens ohne UN-Mandat sowie dem Beginn des zweiten Tschetschenien-Krieges 1999. Aber erst mit den Konflikten in den Jahren 2005 folgende, etwa in der Ukraine, wurde eine ähnliche Ideologie in der Präsidenten-Partei Einiges Russland zu einer Art neuer Staatsideologie unter dem Leitbegriff der souveränen Demokratie.
Autoritäre Clubgründungen und ihr wachsender Einfluss ab 2012
Neuen Auftrieb bekamen diese autoritär-nationalistischen Bestrebungen mit der Wiederwahl von Putin zum Präsidenten im Jahr 2012 (nach der Interims-Präsidentschaft von Dimitri Mededew 2008 bis 2011). Prochanow gründete in diesem Jahr 2012 den einflussreich werdenden Isborsk-Club als ideologisches Bündnis patriotischer Staatsmänner, die sich den Manipulationen ausländischer Einflusszentren entgegenstellt, unter anderem mit dem späteren Kulturminister Wladimir Medinski (dem hochideologisierten russischen Verhandlungs"partner" im Ukraine-Krieg). In diesen Jahren Anfang des letzten Jahrzehnts weitete sich der Einfluss der Nationalpatrioten aus.
Dugin war 2010 zum Professor für internationale Beziehungen in Moskau ernannt worden, Prochanow nun häufiger Gast in den Talkshows des bekannten, regierungstreuen Journalisten Wladimir Solowjew im Sender ntv. Die jungen Konservativen gründeten eine Denkfabrik innerhalb der Partei Einiges Russland, den russischen Club. Der Einfluss großrussischer Fantasien und Strategievorschläge etwa von Alexander Dugin, Wladimir Solowjew oder Ivan Iljin (1883-1954) nahm zu.
Andreas Umland hebt in seiner Analyse über neue rechtsextreme Intellektuellenzirkel in Putins Russlands (Bundeszentrale für politische Bildung, 3. Mai 2013) hervor, dass diese ins rechtsextreme reichende Neuformierung nationalistischer Ideen und Organisationsansätze in den Jahren 2011 und 2012 erfolgt ist: "Es scheint sich ein aggressiv antiwestlicher Rechtsextremismus im politischen Leben der Russischen Föderation als stabiler dritter Pol zwischen dem autoritären Regime und der demokratischen Opposition zu bilden."
In "Putins Kopf" nach Michel Eltchaninoff
Michel Eltchaninoff erörtert in "Putins Kopf. Logik und Willkür eines Autokraten", wie sich Putin im Rückgriff auf philosophische und ideologische Traditionen nicht zuletzt des 19. Jahrhunderts sein eigenes politisch philosophisches Patchwork entwickelt hat. Eltchaninoff beginnt seine Einführung mit einer bezeichnenden Szene Anfang Januar 2014.
Da erhielten die Kader der Partei einiges Russland und andere Funktionäre von der präsidialen Verwaltung Putins "Unsere Aufgabe" von einem gewissen Illjin; regelmäßig zitiert Präsident Putin aus diesen Werken und deutet Parallelen an wie die folgenden: Da sei die Rolle des Führers der Nation in einer authentischen Demokratie, die Bedeutsamkeit einer konservativen Haltung, die Sorge um die Verankerung der Moral in der Religion, der historische Auftrag des russischen Volkes angesichts der tausendjährigen Feindseligkeit des Westens.
In diesem kurzen Verweis sind die Kernelemente der konservativen Ausrichtung des Präsidenten im Kern versammelt: eine Rückbesinnung auf die orthodoxe religiöse Tradition, ein prekärer Demokratiebegriff, eine Rückbesinnung auf die Rolle Russlands und ein damit verbundener völkisch anmutender Ethnozentrismus - weniger noch, aber zunehmend danach eine aus der Auseinandersetzung mit dem Zaren herrührende imperiale Mission Russlands und nicht zuletzt ein immer umfassenderer Kampf gegen den Westen.
Schon zuvor, in einem Text zum Russland an der Jahrtausendwende, richtet er sich gegen die kommunistische Vergangenheit; als Sowjetmensch war er zu einem quasi religiösen Respekt vor den Büchern und großen Namen der Kultur erzogen worden.
Eltchaninoff sieht Putin in einer Entwicklung, zunächst in Andeutungen, während seiner zweiten Amtszeit und seit 2012 als Imperialisten; er repräsentiere ein Stück Vergeltung derer, die den Untergang der UdSSR und ihre Umwandlung in eine Demokratie nicht ertragen hätten; Eltchaninoff fühlt sich an Dostojewskis Dimitri Karamasow erinnert, den zügellosen und widersprüchlichen ältesten Sohn des Fjodor Karamasow, zugleich ernsthaft zynisch und ernsthaft idealistisch.
Zur Entourage Putins, seinen Ideengebern und Beratern, gehört Wladislaw Surkow, ein Vertreter der souveränen Demokratie, später Berater des Präsidenten in Sachen der Ukraine-Politik (und natürlich die Silowiki mit Alexander Bortnikow, Alexander Bastrykin, Chef des Ermittlungskomitees der Russischen Föderation, einer der höchsten Strafverfolgungsbeamten Russlands, mit dem unvermeidlichen Igor Setschin, vermutlich einer der Hauptverantwortlichen für die Verhaftung von Michail Chodorkowski sowie mit Juri Kowaltschuk und Wladimir Jakunin, Sergei Schoigu und auch Dmitri Rogosin, einem stellvertretenden Ministerpräsidenten).
Von Eltchaninoff wird Wladimir Jakunin hervorgehoben, der am tiefsten im russischen Denken und einer konservativen Weltanschauung verwurzelt sei; als Dr. der Politikwissenschaften organisiert er den Dialogue of Civilisations und verteidigt antiwestliche Positionen. Jakunin ist streng gläubig und begibt sich jedes Jahr zur orthodoxen Ostermesse nach Jerusalem, um von dort das ihm erschienene heilige Feuer nach Russland zu bringen; er sieht sich als Repräsentant einer religiösen und moralischen Wiedergeburt Russlands.
Dann sei da noch der berühmte Filmregisseur Nikita Michalkow, der ein weißes Russland wieder aufleben lassen will; er hat Putin mit dem Werk des reaktionär konservativen und für Putin wohl wichtigsten Philosophen, nämlich Iwan Iljin bekanntgemacht. Schließlich ist da noch ein Beichtvater, Vater Tichon Schewkunow.
Wenn der von einer Putin-Doktrin spricht, dann ist sie komplex; sie geht vom sowjetischen Erbe aus, stellt lediglich einen ihr vorgetäuschten Liberalismus dar und ist alles in allem eine konservative Vision. Wichtig sei die Theorie des russischen Weges und schließlich ein von eurasischen Denkern inspirierter imperialer Traum. Eine Doktrin, die, wie der Eltchaninoff behauptet, hybrid ist, sich wandelt und eine unruhige Zukunft verheißt
Trauma und Nostalgie auf dem Weg zur autokratischen Macht
Der Eltchaninoff sieht Putin in erster Linie als Sowjetbürger, ohne der kommunistischen Ideologie gefolgt zu sein, im Gegenteil: Putin nennt den Kommunismus ein gefährliches schönes Märchen, das in die Sackgasse geführt habe; er weiß als international erfahrener KGB-Mann und Pragmatiker um das Scheitern der Planwirtschaft.
Aber er sieht sich als russischer Patriot. Man habe in der Sowjetunion die Liebe zur Heimat gelehrt bekommen – und zur Anerkennung einer Militärkultur, die alle Ebenen des Alltags durchdringt.
Die Stimmung des gesamten Daseins zwischen Militärparaden, Helden und Märtyrer Kult und kollektiver Disziplin war allgemein martialisch, schreibt die weißrussische Autorin Svetlana Alexijewitsch: "Wir haben so sehr geglaubt! Geglaubt, dass eines Tages ein gutes Leben kommen würde. Warte, hab Geduld ... ja, warte, hab Geduld .... Das ganze Leben in Kasernen, in Wohnheimen in Baracken."
Wladimir Putin, aufgewachsen einige Jahre nach Kriegsende in der für immer in unantastbarer Erinnerung bleibenden Heldenstadt Leningrad, sei ein Kind dieses alltäglichen Militarismus. Die UdSSR stoppte als erste Nation den deutschen Vormarsch, zwang in Stalingrad die gegnerische Armee in die Knie und drängte sie dann bis nach Berlin zurück.
Die Kultur des permanenten Krieges ist auch die Kultur des Sieges. Und diese verleiht nach Meinung der russischen und sowjetischen Führungsriege den Siegern bestimmte Rechte und eine Art moralischer Überlegenheit in den internationalen Beziehungen.
Hinzu kommt die auch bei Putin beobachtbare Identifizierung mit dem KGB, dem Komitee für Staatssicherheit, und nach dem Untergang der UdSSR mit dem FSB, dem föderalen Sicherheitsdienst, als einer Eliteeinheit, die die Wiedergeburt des Landes betreiben könne. Mit dieser Institution habe er die soziale Stabilisierung des im Jahrzehnt der Freiheit gedemütigten neuen Russland betrieben – und das in einer höchst autoritären, gewalttätigen Weise.
Dabei hat eine kritische Auseinandersetzung mit der kommunistisch autoritären Vergangenheit keinen wirklichen Raum. Es ist vielmehr eine Mischung aus politischem Willen zur Versöhnung, historischer Tiefenperspektive und Sentimentalismus, wenn man so will, eine mächtige Nostalgie: "Wer den Zusammenbruch der Sowjetunion nicht bedauert, hat kein Herz. Wer will, dass sie identisch wiederhergestellt wird, hat keinen Verstand." (So der gerade gewählte Präsident am 9. Februar 2000).
Diese sentimentale Nostalgie bleibt ein Leitmotiv, noch in der Feier zur Annexion der Krim am 18. März 2014 erklärt er: "Was undenkbar schien, ist unglücklicherweise Realität geworden: Die UdSSR hat sich aufgelöst."
In der Folge mehren sich die Indizien nach einer Revision dieser Unglücksgeschichte. Eltchaninoff sieht sie bei Putin zum einen darin, der ideologischen Leere nach dem Ende des Kommunismus eine Ersatzideologie entgegenzusetzen; in der Kritik an der Übergriffigkeit des Westens, als diese als Nato in Serbien und dem Kosovo militärisch intervenierte; Putin sah dies als Demütigung, so schon im Interview mit dem russischen Fernsehsender ORT am 15. Januar 2000, unmittelbar nach dem Beginn seiner Präsidentschaft.
Als weiteren Aspekt sieht der Eltchaninoff die zunehmende Rehabilitierung der "kriminellsten" Persönlichkeiten der sowjetischen Geschichte, allen voran Stalin, aber auch des Gründers der Tscheka, Felix Dserschinski; dies geht einher mit der Verachtung der kleinen Völker und der besonderen Bedeutung der Nuklearmächte.
Es ist fraglich, ob nach den mehrfachen Traumata – auch Putins eigener Familie im Leningrad während der tödlichen Belagerung durch die Wehrmacht mit mehr als 1.000.000 Toten – in der Geschichte Russlands: dem Tod von an die 27.000.000 Menschen durch den Nationalsozialismus, der nachfolgenden brutalen Ausplünderung durch eine sogenannte liberale Zersetzungsökonomie ohne Rücksicht auf Land und Leute – eine Politik des Ausgleichs hätte greifen können.
Katja Gloger beschreibt in "Putins Welt" die besondere Konstellation, in die Wladimir Putin 1952 hineingeboren worden war.
Neben Stalingrad war die heldenhafte Verteidigung des eingekesselten Leningrad zum Symbol für die Überlebenswillen eines ganzen Volkes geworden. Fast 900 Tage und drei grauenhafte Winter lang dauerte die Blockade durch die deutsche Wehrmacht mit dem Ziel, die Bevölkerung systematisch verhungern zu lassen. Mehr als 1.000.000 Menschen starben. Frauen, Kinder, Alte, sie verhungerten, erfroren, wurden von Krankheiten dahingerafft. Ein Wunder, wenn man, wie Marija und Wladimir Putin (Putins Vater), Blockade und Krieg überlebt hatte.
Das junge Arbeiterehepaar war Ende der dreißiger Jahre (...) nach Leningrad gekommen (...) Wladimir Putin hatte den Krieg schwer verletzt überlebt. Eine Granate war vor seinen Beinen explodiert. 32 Jahre dauerte es, bis er als Kriegsinvalide anerkannt wurde. (...) Die Putins trauerten um zwei Kinder. Wiktor, ihr erstes Kind, war noch als Baby gestorben, er wurde kein Jahr alt. Ihren 2. Sohn, Oleg, hatten die Eltern zu Kriegsbeginn in einem staatlichen Kinderheim abgeben müssen.
Man versprach bessere Versorgung für das Kind. Dort muss der kleine Junge bald gestorben sein, wie es hieß, an Diphtherie. Während der 900 Todestage im eingeschlossenen Leningrad blieb auch Marija Putina irgendwann leblos in der Wohnung liegen. Man wollte ihren verhungerten Körper schon abtransportieren. Dann sah ihr Mann, gerade aus dem Lazarett entlassen, wie sie sich bewegte …
Katja Gloger / "Putins Welt" (München/ Berlin 2015: 21 ff)