Vertane Chancen: Putins Radikalisierung zum antiwestlichen Nationalisten
Innere und äußere "Sicherheit" durch Tradition und Religion: Putin und der russisch-orthodoxe Patriarch Kirill. Bild: The Presidential Press and Information Office / CC BY 4.0
Sicherheitsgefühl durch Religion und Atomwaffen: Was sich im Denken des russischen Präsidenten veränderte – und wie es dazu kam. (Teil 3 und Schluss)
Die Abweisung durch den Westen, insbesondere unter dem US-Präsidenten George Bush junior zwischen 2001 bis 2009, führte Wladimir Putin vermehrt dazu, Ideen der Nationalpatrioten aufzugreifen, die von der spirituellen Sicherheit, dem Schutz der religiösen Identität Russlands sprachen, und sie mit den Herausforderungen der nationalen Sicherheit zu verbinden.
Die traditionellen Religionen der Russischen Föderation und der nukleare Schutzschild Russlands sind zwei Dinge, die den russischen Staat stärken und die notwendigen Bedingungen schaffen, um die innere und äußere Sicherheit des Landes zu gewährleisten.
Wladimir Putin am 1. Februar 2007 vor russischen und ausländischen Journalisten. Vergl. Juliette Faure: Wer sind die russischen Falken? Hinter Putins politischer Radikalisierung stehen ultranationalistische Ideologen, in: Le Monde Diplomatique, April 2022
Er griff Ideen des Nationalpatrioten Alexander Prochanow und seiner in den 1990er-Jahren gegründeten Zeitschrift Sawtra auf. Dort fanden sich Stalin-Anhänger, Nationalisten oder monarchistisch-orthodoxe Priester und auch jemand wie Alexander Dugin.
Sie setzten auf einen starken Staat und wandten sich in ihrem Staatspatriotismus gegen die Separatisten im Nordkaukasus und erhielten Zulauf, mit der Finanzkrise 1998, mit der Osterweiterung Ungarns, Polens und Tschechiens 1999 in die Nato oder der Nato-Bombardierung Serbiens ohne UN-Mandat sowie dem Beginn des zweiten Tschetschenien-Krieges 1999. Aber erst mit den Konflikten in den Jahren 2005 folgende, etwa in der Ukraine, wurde eine ähnliche Ideologie in der Präsidenten-Partei Einiges Russland zu einer Art neuer Staatsideologie unter dem Leitbegriff der souveränen Demokratie.
Autoritäre Clubgründungen und ihr wachsender Einfluss ab 2012
Neuen Auftrieb bekamen diese autoritär-nationalistischen Bestrebungen mit der Wiederwahl von Putin zum Präsidenten im Jahr 2012 (nach der Interims-Präsidentschaft von Dimitri Mededew 2008 bis 2011). Prochanow gründete in diesem Jahr 2012 den einflussreich werdenden Isborsk-Club als ideologisches Bündnis patriotischer Staatsmänner, die sich den Manipulationen ausländischer Einflusszentren entgegenstellt, unter anderem mit dem späteren Kulturminister Wladimir Medinski (dem hochideologisierten russischen Verhandlungs"partner" im Ukraine-Krieg). In diesen Jahren Anfang des letzten Jahrzehnts weitete sich der Einfluss der Nationalpatrioten aus.
Dugin war 2010 zum Professor für internationale Beziehungen in Moskau ernannt worden, Prochanow nun häufiger Gast in den Talkshows des bekannten, regierungstreuen Journalisten Wladimir Solowjew im Sender ntv. Die jungen Konservativen gründeten eine Denkfabrik innerhalb der Partei Einiges Russland, den russischen Club. Der Einfluss großrussischer Fantasien und Strategievorschläge etwa von Alexander Dugin, Wladimir Solowjew oder Ivan Iljin (1883-1954) nahm zu.
Andreas Umland hebt in seiner Analyse über neue rechtsextreme Intellektuellenzirkel in Putins Russlands (Bundeszentrale für politische Bildung, 3. Mai 2013) hervor, dass diese ins rechtsextreme reichende Neuformierung nationalistischer Ideen und Organisationsansätze in den Jahren 2011 und 2012 erfolgt ist: "Es scheint sich ein aggressiv antiwestlicher Rechtsextremismus im politischen Leben der Russischen Föderation als stabiler dritter Pol zwischen dem autoritären Regime und der demokratischen Opposition zu bilden."
In "Putins Kopf" nach Michel Eltchaninoff
Michel Eltchaninoff erörtert in "Putins Kopf. Logik und Willkür eines Autokraten", wie sich Putin im Rückgriff auf philosophische und ideologische Traditionen nicht zuletzt des 19. Jahrhunderts sein eigenes politisch philosophisches Patchwork entwickelt hat. Eltchaninoff beginnt seine Einführung mit einer bezeichnenden Szene Anfang Januar 2014.
Da erhielten die Kader der Partei einiges Russland und andere Funktionäre von der präsidialen Verwaltung Putins "Unsere Aufgabe" von einem gewissen Illjin; regelmäßig zitiert Präsident Putin aus diesen Werken und deutet Parallelen an wie die folgenden: Da sei die Rolle des Führers der Nation in einer authentischen Demokratie, die Bedeutsamkeit einer konservativen Haltung, die Sorge um die Verankerung der Moral in der Religion, der historische Auftrag des russischen Volkes angesichts der tausendjährigen Feindseligkeit des Westens.
In diesem kurzen Verweis sind die Kernelemente der konservativen Ausrichtung des Präsidenten im Kern versammelt: eine Rückbesinnung auf die orthodoxe religiöse Tradition, ein prekärer Demokratiebegriff, eine Rückbesinnung auf die Rolle Russlands und ein damit verbundener völkisch anmutender Ethnozentrismus - weniger noch, aber zunehmend danach eine aus der Auseinandersetzung mit dem Zaren herrührende imperiale Mission Russlands und nicht zuletzt ein immer umfassenderer Kampf gegen den Westen.
Schon zuvor, in einem Text zum Russland an der Jahrtausendwende, richtet er sich gegen die kommunistische Vergangenheit; als Sowjetmensch war er zu einem quasi religiösen Respekt vor den Büchern und großen Namen der Kultur erzogen worden.
Eltchaninoff sieht Putin in einer Entwicklung, zunächst in Andeutungen, während seiner zweiten Amtszeit und seit 2012 als Imperialisten; er repräsentiere ein Stück Vergeltung derer, die den Untergang der UdSSR und ihre Umwandlung in eine Demokratie nicht ertragen hätten; Eltchaninoff fühlt sich an Dostojewskis Dimitri Karamasow erinnert, den zügellosen und widersprüchlichen ältesten Sohn des Fjodor Karamasow, zugleich ernsthaft zynisch und ernsthaft idealistisch.
Zur Entourage Putins, seinen Ideengebern und Beratern, gehört Wladislaw Surkow, ein Vertreter der souveränen Demokratie, später Berater des Präsidenten in Sachen der Ukraine-Politik (und natürlich die Silowiki mit Alexander Bortnikow, Alexander Bastrykin, Chef des Ermittlungskomitees der Russischen Föderation, einer der höchsten Strafverfolgungsbeamten Russlands, mit dem unvermeidlichen Igor Setschin, vermutlich einer der Hauptverantwortlichen für die Verhaftung von Michail Chodorkowski sowie mit Juri Kowaltschuk und Wladimir Jakunin, Sergei Schoigu und auch Dmitri Rogosin, einem stellvertretenden Ministerpräsidenten).
Von Eltchaninoff wird Wladimir Jakunin hervorgehoben, der am tiefsten im russischen Denken und einer konservativen Weltanschauung verwurzelt sei; als Dr. der Politikwissenschaften organisiert er den Dialogue of Civilisations und verteidigt antiwestliche Positionen. Jakunin ist streng gläubig und begibt sich jedes Jahr zur orthodoxen Ostermesse nach Jerusalem, um von dort das ihm erschienene heilige Feuer nach Russland zu bringen; er sieht sich als Repräsentant einer religiösen und moralischen Wiedergeburt Russlands.
Dann sei da noch der berühmte Filmregisseur Nikita Michalkow, der ein weißes Russland wieder aufleben lassen will; er hat Putin mit dem Werk des reaktionär konservativen und für Putin wohl wichtigsten Philosophen, nämlich Iwan Iljin bekanntgemacht. Schließlich ist da noch ein Beichtvater, Vater Tichon Schewkunow.
Wenn der von einer Putin-Doktrin spricht, dann ist sie komplex; sie geht vom sowjetischen Erbe aus, stellt lediglich einen ihr vorgetäuschten Liberalismus dar und ist alles in allem eine konservative Vision. Wichtig sei die Theorie des russischen Weges und schließlich ein von eurasischen Denkern inspirierter imperialer Traum. Eine Doktrin, die, wie der Eltchaninoff behauptet, hybrid ist, sich wandelt und eine unruhige Zukunft verheißt
Trauma und Nostalgie auf dem Weg zur autokratischen Macht
Der Eltchaninoff sieht Putin in erster Linie als Sowjetbürger, ohne der kommunistischen Ideologie gefolgt zu sein, im Gegenteil: Putin nennt den Kommunismus ein gefährliches schönes Märchen, das in die Sackgasse geführt habe; er weiß als international erfahrener KGB-Mann und Pragmatiker um das Scheitern der Planwirtschaft.
Aber er sieht sich als russischer Patriot. Man habe in der Sowjetunion die Liebe zur Heimat gelehrt bekommen – und zur Anerkennung einer Militärkultur, die alle Ebenen des Alltags durchdringt.
Die Stimmung des gesamten Daseins zwischen Militärparaden, Helden und Märtyrer Kult und kollektiver Disziplin war allgemein martialisch, schreibt die weißrussische Autorin Svetlana Alexijewitsch: "Wir haben so sehr geglaubt! Geglaubt, dass eines Tages ein gutes Leben kommen würde. Warte, hab Geduld ... ja, warte, hab Geduld .... Das ganze Leben in Kasernen, in Wohnheimen in Baracken."
Wladimir Putin, aufgewachsen einige Jahre nach Kriegsende in der für immer in unantastbarer Erinnerung bleibenden Heldenstadt Leningrad, sei ein Kind dieses alltäglichen Militarismus. Die UdSSR stoppte als erste Nation den deutschen Vormarsch, zwang in Stalingrad die gegnerische Armee in die Knie und drängte sie dann bis nach Berlin zurück.
Die Kultur des permanenten Krieges ist auch die Kultur des Sieges. Und diese verleiht nach Meinung der russischen und sowjetischen Führungsriege den Siegern bestimmte Rechte und eine Art moralischer Überlegenheit in den internationalen Beziehungen.
Hinzu kommt die auch bei Putin beobachtbare Identifizierung mit dem KGB, dem Komitee für Staatssicherheit, und nach dem Untergang der UdSSR mit dem FSB, dem föderalen Sicherheitsdienst, als einer Eliteeinheit, die die Wiedergeburt des Landes betreiben könne. Mit dieser Institution habe er die soziale Stabilisierung des im Jahrzehnt der Freiheit gedemütigten neuen Russland betrieben – und das in einer höchst autoritären, gewalttätigen Weise.
Dabei hat eine kritische Auseinandersetzung mit der kommunistisch autoritären Vergangenheit keinen wirklichen Raum. Es ist vielmehr eine Mischung aus politischem Willen zur Versöhnung, historischer Tiefenperspektive und Sentimentalismus, wenn man so will, eine mächtige Nostalgie: "Wer den Zusammenbruch der Sowjetunion nicht bedauert, hat kein Herz. Wer will, dass sie identisch wiederhergestellt wird, hat keinen Verstand." (So der gerade gewählte Präsident am 9. Februar 2000).
Diese sentimentale Nostalgie bleibt ein Leitmotiv, noch in der Feier zur Annexion der Krim am 18. März 2014 erklärt er: "Was undenkbar schien, ist unglücklicherweise Realität geworden: Die UdSSR hat sich aufgelöst."
In der Folge mehren sich die Indizien nach einer Revision dieser Unglücksgeschichte. Eltchaninoff sieht sie bei Putin zum einen darin, der ideologischen Leere nach dem Ende des Kommunismus eine Ersatzideologie entgegenzusetzen; in der Kritik an der Übergriffigkeit des Westens, als diese als Nato in Serbien und dem Kosovo militärisch intervenierte; Putin sah dies als Demütigung, so schon im Interview mit dem russischen Fernsehsender ORT am 15. Januar 2000, unmittelbar nach dem Beginn seiner Präsidentschaft.
Als weiteren Aspekt sieht der Eltchaninoff die zunehmende Rehabilitierung der "kriminellsten" Persönlichkeiten der sowjetischen Geschichte, allen voran Stalin, aber auch des Gründers der Tscheka, Felix Dserschinski; dies geht einher mit der Verachtung der kleinen Völker und der besonderen Bedeutung der Nuklearmächte.
Es ist fraglich, ob nach den mehrfachen Traumata – auch Putins eigener Familie im Leningrad während der tödlichen Belagerung durch die Wehrmacht mit mehr als 1.000.000 Toten – in der Geschichte Russlands: dem Tod von an die 27.000.000 Menschen durch den Nationalsozialismus, der nachfolgenden brutalen Ausplünderung durch eine sogenannte liberale Zersetzungsökonomie ohne Rücksicht auf Land und Leute – eine Politik des Ausgleichs hätte greifen können.
Katja Gloger beschreibt in "Putins Welt" die besondere Konstellation, in die Wladimir Putin 1952 hineingeboren worden war.
Neben Stalingrad war die heldenhafte Verteidigung des eingekesselten Leningrad zum Symbol für die Überlebenswillen eines ganzen Volkes geworden. Fast 900 Tage und drei grauenhafte Winter lang dauerte die Blockade durch die deutsche Wehrmacht mit dem Ziel, die Bevölkerung systematisch verhungern zu lassen. Mehr als 1.000.000 Menschen starben. Frauen, Kinder, Alte, sie verhungerten, erfroren, wurden von Krankheiten dahingerafft. Ein Wunder, wenn man, wie Marija und Wladimir Putin (Putins Vater), Blockade und Krieg überlebt hatte.
Das junge Arbeiterehepaar war Ende der dreißiger Jahre (...) nach Leningrad gekommen (...) Wladimir Putin hatte den Krieg schwer verletzt überlebt. Eine Granate war vor seinen Beinen explodiert. 32 Jahre dauerte es, bis er als Kriegsinvalide anerkannt wurde. (...) Die Putins trauerten um zwei Kinder. Wiktor, ihr erstes Kind, war noch als Baby gestorben, er wurde kein Jahr alt. Ihren 2. Sohn, Oleg, hatten die Eltern zu Kriegsbeginn in einem staatlichen Kinderheim abgeben müssen.
Man versprach bessere Versorgung für das Kind. Dort muss der kleine Junge bald gestorben sein, wie es hieß, an Diphtherie. Während der 900 Todestage im eingeschlossenen Leningrad blieb auch Marija Putina irgendwann leblos in der Wohnung liegen. Man wollte ihren verhungerten Körper schon abtransportieren. Dann sah ihr Mann, gerade aus dem Lazarett entlassen, wie sie sich bewegte …
Katja Gloger / "Putins Welt" (München/ Berlin 2015: 21 ff)
Grenzen unserer Aufarbeitung
Putin hatte nach einer Politik des Ausgleichs gerufen – in seiner mit Beifall unterbrochenen großen Rede im Bundestag 2001 und auch noch in seiner Kritik Jahre später auf der Münchner Sicherheitskonferenz, der nicht zugehört, sondern über die arrogant hinweggegangen worden war.
Ausgleich aber hätte bedeutet, im Wissen und einer angemessenen breiten gesellschaftlichen und politischen Aufarbeitung um die kollektiven Mehrfachtraumata in der sowjetisch/russischen/weißrussischen und ukrainischen Geschichte eine politische, vor allem aber ökonomische und kulturelle Kooperation auf Augenhöhe entgegengesetzt zu haben.
Das ist nicht geschehen: Russland ist darüber hinaus weder die EU-Perspektive noch die gemeinsame Sicherheit mit der Nato angeboten worden. Der Test einer solchen Kooperation nicht zuletzt der Vereinigten Staaten, Europas und Deutschlands ist nie ernsthaft unternommen worden.
Putin habe als Liberaler begonnen, im Blick auf Peter I. aus dem frühen 18. Jahrhundert, der damals entstandenen großen Metropole Sankt Petersburg, damals einer Stadt der Aufklärung, Ort der administrativen, politischen und ideologischen Rationalität - und ihrem Einfluss auf Katharina II. In den Anfangsjahren seiner Herrschaft zitiert er vor allem den Aufklärer Immanuel Kant (!).
Er erinnert an Kants Zum ewigen Frieden; er klingt überzeugt darin, dass es die ökonomische Entwicklung der riesigen Territorien und die Zusammenarbeit mit Europa und der übrigen zivilisierten Welt brauche. Von einer Konfrontation mit der übrigen Welt ist noch nirgendwo die Rede.
Im Jahr 2004 verhält sich Putin allerdings schon zurückhaltender. Es geht ihm weniger um das aufgeklärte Europa als um das christliche und die Wahrung russischer Identität. Inzwischen kritisiert er den Vormarsch Europas nach Osten – nach dem drei frühere Sowjetrepubliken, die baltischen Staaten, der Europäischen Union beigetreten waren - und sieht Russland an den Rand der europäischen Politik gedrängt.
Zwischen 2004 und 2012 habe Putin die konservative Wende vollzogen und mit ihr die Ablehnung einer europäischen Bestimmung Russlands. Unmittelbar nach seiner Ernennung im August 1999 zu Jelzins Premierminister, betrieb er den zweiten Tschetschenien-Krieg, nachdem es im September 1999 Bombenexplosionen gab, die womöglich Putins Entscheidung zuzurechnen sind.
In schneller Folge gab es mörderische Bombardements, in der Republik Tschetschenien, die 100-200.000 militärische und zivile Opfer forderten. Alsbald bemächtigte er sich des von dem Oligarchen Vladimir Gussinski beherrschten Fernsehgesellschaft NTW; später ging er gegen Boris Beresowski, dem Hauptaktionär des Fernsehsenders ORT vor.
Eltchaninoff zufolge gebe es bei Putin noch eine andere quasi philosophische Bedeutung: nämlich Judo als "Philosophie", den Weg des sanften Nachgebens gegenüber dem respektierten Partner und einer Problembearbeitung, die nicht auf roher Kraft beruht, sondern auf Können, auf Taktik und natürlich auf Willensstärke. (…)
Der Wandel zum russischem Neokonservatismus
Eltchaninoff sieht Putins Wandel in den Neokonservatismus auch durch ein Ereignis beschleunigt, das am 1. September 2004 erfolgt ist: die Tragödie von Beslan.
Bei der Geiselnahme in der nordossetischen Stadt haben Terroristen in einer Schule mehr als 1.100 Kinder und Erwachsene in ihre Gewalt gebracht. Im Zuge einer chaotischen Befreiungsoperation der russischen Spezialkräfte verlieren hunderte Menschen, vor allem Kinder, ihr Leben.
Putin kündigt zwei Wochen später an, dass die Gouverneure der Region von nun an nicht mehr gewählt, sondern bestimmt werden, da die Lokalverantwortlichen nachlässig waren und dies Ausdruck einer der Schwächen der Demokratie sei.
Nun erklärt er die orthodoxe Kirche zu seinen Verbündeten bei der Moralverstärkung des Volkes. Nun ist es die Verteidigung traditioneller familiärer Werte (im Gegensatz zur Homosexualität) sowie die Verteidigung der kulturellen Immunität Russlands gegenüber ausländischen Invasionen.
2007 wendet sich Putin in seiner berühmten Münchner Rede gegen die monopolare Ordnung, möchte seine Kultur vor fremder Ansteckung bewahrt sehen und sie zu einem Arm der nationalen Politik machen. 2012 ist dieser Konservatismus offenkundig, nachdem die Bürger gegen die manipulierten Parlamentswahlen vom Dezember 2011 protestiert hatten.
Zwei Jahre später kommt es im September zu einer regelrechten antiwestlichen und antimodernen Schmährede im Waldai-Club und zur Verteidigung von Patriotismus, christlichen Werten und der traditionellen Familie. Er wendet sich gegen die nostalgischen Anhänger einer sowjetischen Ideologie ebenso wie gegen die Idealisierung des Russland aus der Zeit vor 1917 sowie gegen die Verfechter eines westlichen Ultraliberalismus.
Er kritisiert die Ablehnung der eigenen Wurzeln vieler euro-atlantischer Staaten und der christlichen Wurzeln, die das Fundament der westlichen Zivilisation bildeten. In diesen Staaten würden laut Putin die moralischen Grundlagen und jede traditionelle Identität verneint, sei sie national, religiös, kulturell oder sogar geschlechtlich. Immer stärker wendet er sich gegen die westlichen Werte zugunsten seines neuen Konservatismus – in etwa zeitgleich zu dem von ihm argwöhnisch beobachteten Maidan-Protesten.
2014 wird die Internetseite Russkaja Idea, unter anderem mit einem Boris Meschujew ins Leben gerufen - um die verbotenen russischen Denker wie Vladimir Solowjew im Sinne einer konservativen Renaissance ebenso einen Konstantin Leontjew, einen russischen Nietzsche (1831-1891) wieder zu "entdecken". Es ist eine konservative Renaissance, die sich vor allem Ende der Achtzigerjahre des 19. Jahrhunderts ausweitet und gegen den europäischen Weg der Säkularisierung und die Demokratie richtet.
Leontjews paradoxes, sinnliches und mystisches Werk ist voller Verachtung für die bürgerliche Mittelmäßigkeit und den Konformismus, radikaler als alles bei Dostojewski und in Verehrung der byzantinischen Kirche. Ein Aristokratismus, Dogmatismus, Pessimismus - der Demokratie gegenüber feindlich – und den entsprechenden Werten von Freiheit, Gleichheit, Laizismus, Säkularisierung, Bequemlichkeit und Eudämonismus.
Es ist der gleiche Leontjew, der einen fast notwendigen Aufstieg und Niedergang der Zivilisationen beschwört – ähnlich dem späteren Oswald Spengler und seinem Untergang des Abendlandes.
Inzwischen wird von den Kreisen um Putin das gesamte konservative Denken der Weimarer Republik verwendet, und der Nationalbolschewist Ernst Niekisch und nicht zuletzt Ernst Jüngers Begeisterung des Krieges, aber auch Carl Schmitts Freund Feind Dimension als Politisches, gegen jede moralische oder juristische Lesart von Politik. Putin, so Eltchaninoff, verschreibt sich eine nur nach Kräfteverhältnissen verstandenen Politik.
Für ihn gebe es nur Freund oder Feind, Kampf oder Allianz zwischen politischen Körperschaften, Recht und Moral haben an Bedeutung verloren. Das ist anders, als Eltchaninoff schreibt, mehr als konservativ, es ist eine Ideologie der konservativen Revolution.
Es ist dann die Siegrede nach der Eroberung der Krim vom 18. März 2014, die nun eindrücklich einen russischen Weg vorschreibt: Nach der ökonomischen und sozialen Krise, der Demütigung des Untergangs seines Imperiums dem Land sein Ansehen und seine führende Rolle in der Welt zurückzugeben. Inzwischen ist es das heilige Russland, die besondere Rolle als Hüter der authentischen christlichen Werte im Sinne einer spezifischen nationalen Identität, aufgerufen, eine Rolle in der Welt zu spielen.
Als könne die Religionsideologie die kommunistische Ideologie von einst ersetzen. Es ist die besondere russische Eigenheit christlicher Traditionen, des Patriotismus und der Anhänglichkeit an die Tradition, die Putin mit der Aufforderung verbindet, die Begriffe des Menschenrechts und der Meinungsfreiheit auf seine Weise neu zu interpretieren. Zwar akzeptiere er die Universalität und Diversität demokratischer Prinzipien, aber nicht die der Sprache oder der konkreten politischen Formen, in denen sie zum Ausdruck kommen.
In der Geschichte sieht der Eltchaninoff zwei große philosophische Traditionen in Russland - neben der slawophilen Bewegung die Bewegung nach Westen, nach der Russland seit Peter dem Großen dazu berufen sei, voll und ganz Teil Europas zu werden - mit den Ideen der Pflicht, der Gerechtigkeit, des Rechts und der Ordnung. Auf der anderen Seite dagegen finden sich Traditionen des deutschen Idealismus, vor allem Hegels und Schellings, die einen nationalen Geist förderten.
Aber nicht das ist, woran Putin sich orientiert. Wichtiger ist Nicolai Danilewski, eine der Praxis zugewandte Version des slawophilen Denkens, nach Boris Meschujew die wohl wichtigste Inspirationsquelle für Putins Politik. Er forderte den Zusammenschluss aller Slawen unter der Führung Russlands und die Abkehr der Vorstellung, Teil Europas zu sein); für ihn ist der Kampf mit dem Westen das einzige Rettungsmittel, einschließlich des "sittlichen" Momentes Krieg.
Dugins Welt
Von hohem, wenn auch im Detail ungeklärtem Einfluss ist Putins Umfeld, nicht zu- letzt das des eurasischen Neofaschisten Alexander Dugin. Andreas Umland hat 2019 in Das alte Denken der neuen Rechten. Die langen Linien der antiliberalen Revolte (Zentrum Liberale Moderne. Berlin 2019) auf die Ähnlichkeiten von Putins irredentistischer Agenda: seiner Eurasischen Union und Dugins "Neoeurasismus" hingewiesen.
In seiner sogenannten 4. politischen Theorie propagiert dieser die Befreiung Europas vom Westen und der Neuzeit, die Rückkehr Europas nach Hause, seine Wurzeln und seine Quellen. (Ebenda 115) Ihm geht es in seinem Neofaschismus (Andreas Umland) um eine kategorische Ablehnung der existierenden Lage und eine absolute Überzeugtheit davon, dass Russland, Europa und die Welt eine fundamentale geistige, kulturelle und politische Revolution nötig hat. Der Titel eines jüngeren Buches von Dugin spricht für sich: "The Great Awakening vs. the Great Reset".
Dugins "Foundation of Geopolitics" ("Die Grundlage der Geostrategie") ist ein wirres, verbreitetes ideologisches Machwerk, in der er die Bedeutung einer Machtexpansion Russlands – u.a. gegen die Türkei – gemeinsam mit Armenien, dem Iran und dem "Menschen des Nordens" als heilige beschwört; das Buch ist in hohen politischen und Militärkreisen Moskaus verbreitet.
Das Buch enthält Weltmachtfantasien und die radikalsten sind ihm die wichtigsten, so die Antidemokraten der sogenannten konservativen Revolution, unter anderem Friedrich Georg Jünger oder Moeller van den Bruck, alles Propagandisten der extremen Rechten in der Weimarer Republik und der nationalsozialistischen Bewegung in den späten zwanziger und frühen dreißiger Jahre.
Longue Durée ideologischer und politischer Radikalisierung
Anders als mittelosteuropäische Experten teilweise annehmen – Putin war keineswegs von Anfang an darauf aus, Russland gegen Europa in Stellung zu bringen. Was ihn indes offensichtlich umtreibt, ist, dass Russland vom Westen schlecht behandelt worden ist.
Dies geht auf die Neunzigerjahre zurück, als es unter dem Rubrum einer liberalen Ökonomie nahezu zum Ausverkauf Russlands unter Jelzin kam (Vgl Jeffrey Sachs).
In den Folgejahren hat Putin vehement kritisiert, dass die Nato-Osterweiterung entschieden bis an die Grenze Russlands durchgezogen wurde.
Prof. Dr. Hajo Funke ist Politikwissenschaftler, Rechtsextremismus-Forscher und Autor mehrerer Bücher, darunter "Staatsaffäre NSU" sowie "AfD - Pegida - Gewaltnetze. Von Wutbürgern zu Brandstiftern und "Die Höcke-AfD".
Nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine im Februar sprach er sich zunächst für die militärische Unterstützung des angegriffenen Landes aus, knapp ein Jahr später unterzeichnete er das Manifest für Frieden.
Dieser Artikel basiert auf einem Kapitel seiner Flugschrift "Ukraine. Verhandeln ist der einzige Weg zum Frieden" (Die Buchmacherei Berlin, 110 Seiten / ISBN 978-3-9825440-1-4)