Verzicht: Wer, worauf, wofür?

Claudia Wangerin

Verzicht bedeutet nicht für alle das Gleiche. Symbolbild: Manuel Alvarez auf Pixabay (Public Domain)

Weniger Konsum für Umwelt, Klima und mehr "Zeitwohlstand" kann eine gute Sache sein – für Einkommensgruppen, die dafür Spielraum haben. Was aber aktuell gefordert wird, ist Frieren für geopolitische Machtspiele.

Bei Amazon gibt es fast alles: Sogar T-Shirts mit dem Aufdruck "Stressed, depressed, but well dressed" können bei dem Online-Versandhandelsgiganten bestellt werden. Für ein Augenzwinkern ist sich der Kapitalismus nicht zu schade, wenn er schon so offensichtlich seine Glücksversprechen nicht einlösen kann. So lässt sich auch den Desillusionierten noch etwas verkaufen.

"Gestresst, depressiv, aber gut angezogen" sind einige westliche Menschen, die trotz ihrer psychischen Probleme noch "funktionieren" und ihren Job behalten. Sie outen sich nur nicht alle, wenn sie ihn behalten wollen.

Das Bundesgesundheitsministerium bezeichnet Depressionen als "Volkskrankheit" – und psychische Probleme sind in Deutschland einer der häufigsten Gründe für Krankschreibungen. Dass sie keinen Seltenheitswert haben, heißt aber noch lange nicht, dass es in den meisten Unternehmen kein Problem wäre, offen darüber zu sprechen. Unternehmen wollen schließlich wettbewerbsfähig sein. Viele versuchen dies durch Arbeitsverdichtung und erwarten von Mitarbeitenden vor allem Belastbarkeit.

Konsum als Ersatzbefriedigung

Vielleicht werden solche T-Shirts auch eher in Schule, Uni oder Psychiatrie getragen – oder von Berufstätigen in der knapp bemessenen Freizeit. Kostenpunkt: 19,95 Euro. Wer sich die Misere auch selbst nicht eingestehen will, kann stattdessen High-Tech-Spielzeug, Seidenkrawatten oder Nagellack in allen Regenbogenfarben bestellen, solange das Geld reicht, um sich für den Stress und die verkaufte Lebenszeit zu belohnen – im ungünstigsten Fall als Ersatzbefriedigung für nicht gepflegte Sozialkontakte und vergeblich erträumte Beziehungen.

Das kann funktionieren, solange die Energiepreise nicht so hoch sind, dass das Gehalt restlos für die reinen Lebenshaltungskosten draufgeht. So wurde jedenfalls bisher ein Großteil der arbeitenden Bevölkerung in reichen Industrieländern bei der Stange gehalten. Viele machte und macht das nicht glücklich – und die Ersatzbefriedigung beruht auf knallharter Ausbeutung von Mensch und Natur, vor allem im Globalen Süden.

So gesehen ist Konsumkritik berechtigt, wenn sie nicht zu undifferenziert daherkommt – und bei allem Elend in anderen Teilen der Welt noch zwischen deutscher High Society, deutscher Mittelschicht und deutschen "Working Poor" unterscheidet.

Reiche üben nämlich schon "Verzicht", wenn sie ihre Villa mit beheizbarem Swimming Pool aufgeben und sich ein hübsches Tiny House mit Solarzellen auf dem Dach anfertigen lassen, das dann auf ein lauschiges Grundstück mit Brombeerhecken und Gemüsegarten gestellt wird.

Ein solches Leben kann aber bei Menschen mit Nettolöhnen um 1300 Euro, die 700 Euro Kaltmiete für ein 25-Quadratmeter-Appartment in einem hässlichen Betonklotz oder 600 für ein Großstadt-WG-Zimmer zahlen, immer noch heftigen "Sozialneid" auslösen.

Diese Einkommensgruppe muss bei den aktuellen Energiepreisen jedenfalls nicht mit konsumkritischen Argumenten davon überzeugt werden, keine überflüssigen Dinge zu kaufen. Sie kann es einfach nicht und wäre schon froh, für die reinen Lebenshaltungskosten nicht den Dispo ausschöpfen zu müssen.

Wenn selbst diese Menschen in Deutschland einen zu großen "ökologischen Fußabdruck" haben, ist das zum allergrößten Teil nicht ihre freie Entscheidung, denn sie wohnen in der Regel zur Miete, können sich den Heizungstyp nicht aussuchen, müssen im Supermarkt nach billigen Angeboten suchen und können nichts dafür, dass regionale Lebensmittel oft teurer sind als Produkte, die in aus fernen Niedriglohnländern nach Deutschland transportiert werden.

Besserverdienende leben aber in aller Regel umweltschädlicher, obwohl sie sich regionale Lebensmittel in Bio-Qualität leisten können. Das ist nur nicht mehr entscheidend, wenn sie nicht bewusst auf andere Extras verzichten, über die im Mindestlohnbereich gar nicht erst nachgedacht werden muss.

Die Perspektive wachstumskritischer Bildungsbürger

Daran krankte auch der Vorschlag des "wirtschaftswissenschaftlichen Dissidenten" Niko Paech, sowohl die Industrieproduktion als auch die übliche Wochenarbeitszeit ohne vollen Lohnausgleich zu halbieren, um das Klima zu schützen.

Eine 20-Stunden-Woche gäbe den Menschen Zeit, um ergänzend zum reduzierten Geldeinkommen Dinge zu reparieren, selbst Nahrungsmittel anzubauen oder größere Gebrauchsgegenstände wie Autos und Rasenmäher in lokalen Netzwerken gemeinschaftlich zu nutzen, argumentierte er.

Mit einem Professorengehalt oder vergleichbarem Einkommen macht das Sinn. Wer heute 3000 bis 4000 Euro netto verdient, nicht kaufsüchtig ist und einen älteren Mietvertrag oder schon abbezahltes Wohneigentum hat, käme damit vielleicht ganz gut klar, könnte die bessere Work-Life-Balance genießen und in Repair Cafés, auf Kleidertausch-Parties oder beim Urban Gardening entspannt neue Leute kennenlernen.

Es wäre nicht das schlechteste Leben. Auf jeden Fall besser, als nach einem langen Arbeitstag matt und müde neuen Plunder bei Amazon zu bestellen – und immer wieder Schocknachrichten über den Klimawandel und den unveränderten Kamikaze-Kurs unserer Spezies verdrängen zu müssen.

Wer sich aber schon jetzt trotz Vollzeitarbeit am Ende des Monats fad und ungesund ernähren muss, weil die Miete für das kleinste Kabuff den größten Teil seines Einkommens frisst, wäre sehr bald obdachlos, wenn die Wochenarbeitszeit ohne Lohnausgleich halbiert würde. Der neue Zeitwohlstand könnte den Verlust der Wohnung nicht aufwiegen.

Fehlentwicklung als Vorbild

Professor Paech unterschätzt aber die Macht- und Eigentumsfrage. Er sieht das Problem nicht im Kapitalismus, sondern ausschließlich im Wachstumswahn, der auch im Realsozialismus nicht hinterfragt worden sei.

Letzteres erklärt sich aber zum Teil durch die Systemkonkurrenz: In der DDR war den politisch Verantwortlichen klar, dass große Teile der Bevölkerung neidvoll nach Westdeutschland blickten – oder zum Teil sogar die Werbung im Westfernsehen mit der Lebensrealität dort verwechselten – und nicht in ärmere kapitalistische Länder, deren Arbeitskräfte diesen Wohlstand erst ermöglichten.

So geriet der Realsozialismus in einen Wettbewerb mit dem westdeutschen Kapitalismus, den die DDR auf der Ebene des Konsumangebots nicht gewinnen konnte. Dass westliche Länder mit ihrem absurden Autokult und den damals schon zu großen Plastikmüllbergen ein falsches Vorbild abgaben, das aus ökologischen Gründen nicht auf die gesamte Menschheit übertragbar war, wollten in beiden Teilen Deutschlands die wenigsten wissen.

Viele DDR-Bürger warteten lieber jahrelang auf Autos, über die "Wessis" nur lachen konnten als das Motto "Überholen ohne einzuholen" revolutionär zu interpretieren und im Sinne einer ökologisch nachhaltigen Planwirtschaft mit Leben zu füllen.

Das wäre zumindest theoretisch denkbar gewesen. Immerhin gab es dort keine mächtigen Interessengruppen, die ständig behaupteten, der Markt regle alles, um dann mit der Verlagerung von Arbeitsplätzen zu drohen, wenn die Politik ihnen nicht zu Willen war.

Die DDR-Obrigkeit hatte sich aber so weit von der Bevölkerung entfernt, dass dort am Ende Umweltbewegte und Leute, die es gar nicht erwarten konnten, endlich mal bei MacDonalds zu essen und nach Malle zu fliegen, gemeinsam gegen die "Parteibonzen" auf die Straße gingen.

Vorher profitierten aber ausgerechnet die "Wessis" vom besagten Systemwettbewerb, denn in den unteren Einkommensklassen der BRD sollte kein Neid auf die soziale Sicherheit der DDR-Bürger aufkommen. Insofern wäre ein Verarmungsprogramm wie die Agenda 2010 in der alten BRD schwer vorstellbar gewesen: Erwerbslose sollten es hier materiell nicht schlechter haben als einfache Arbeiter in der DDR.

Das Ende der Schonzeit

Das war einmal. Im Hier und Jetzt werden die unteren Einkommensklassen nicht mehr geschont. Die unterschiedlichen Spielräume für materiellen Verzicht sind offensichtlich: Für eine rheumatische Rentnerin ist eine kalte Wohnung schlicht unzumutbar – und auf kulturelle Teilhabe, Reisen oder Restaurantbesuche verzichten viele Menschen mit Mini-Renten, schlecht bezahlten Jobs oder Arbeitslosengeld II – demnächst "Bürgergeld" – sowieso schon.

Für gestresste Vollzeitbeschäftigte mittleren Einkommens ist es aber auch frustrierend, auf die gewohnte Ersatzbefriedigung zu verzichten, wenn sie dafür eben nicht mehr Freizeit bekommen und auch keine handfesten Fortschritte in Sachen Umwelt- und Klimaschutz beobachten können.

Stattdessen wird gerade einfach nur alles teurer – durch eine Energiepolitik, die eigentlich Russland schwächen soll. Dabei sind russische Energiekonzerne weit davon entfernt, darunter zu leiden, dass Deutschland von russischem Gas loskommen will. Im Gegenteil, sie machen angesichts der gestiegenen Gas- und Ölpreise Milliardengewinne.

Nachdem jahrelang die Energiewende verschleppt wurde, soll Deutschland schnellstmöglich von russischen Energieträgern unabhängig werden – unter anderem durch Reaktivierung von Kohlekraftwerken, möglicherweise auch durch längere Laufzeiten für Atomkraftwerke – sowie eben durch Verzicht.

Nicht wegen der Klimakrise, sondern wegen geopolitischer Machtspiele von vorgestern wird neuerdings in Deutschland Verzicht gepredigt, wie es sich wählbare Parteien zuvor sehr lange nicht getraut hätten. Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) stimmte schon im Juni auf "Jahre der Knappheit" ein, die nicht ihn selbst treffen dürfte.

Warum die "Menschheitsherausforderung" schon wieder warten soll

Dabei geht es nicht um die Zukunft der Welt und auch nicht wirklich um die Zukunft der Ukraine, sondern eher um die Ukraine als heroische, leidensfähige Stellvertreterin des Westens und der Nato im Kräftemessen mit Russland.

Dass vor dem russischen Einmarsch in das Nachbarland Nato-Manöver in der Ukraine abgehalten worden waren, hat beiden Seiten signalisiert, dass die Ukraine zwar kein Nato-Mitglied ist, aber irgendwie doch – zumindest wurde der Eindruck erweckt, dass sie jederzeit als Aufmarschgebiet der Nato dienen könnte, ohne dass die Nato dabei direkt Bündnisverpflichtungen einging.

Angeblich gibt es aber keine Vorgeschichte, in der das Agieren der Nato auch nur ansatzweise zur Eskalation beigetragen hat. Wer diese Lesart in Zweifel zieht, setzt sich in der emotionalisierten Debatte dem Verdacht aus, einen Putin-Fanclub gründen zu wollen. Gleiches gilt paradoxerweise für den Einwand, die Sanktionspolitik gegenüber Russland schade eher "uns" und der russische Präsident lache darüber.

Gegenüber der Ukraine gilt die Erwartungshaltung, dass dort weiterhin für westliche Interessen gekämpft und gestorben wird, als legitim, der Rat zu Verhandlungen aber als Affront.

Nach der Invasion und russischen Geländegewinnen hieß es in der etablierten deutschen Politik- und Medienlandschaft zuerst, die Ukraine müsse ihre Position für Verhandlungen durch militärische Erfolge stärken – nachdem sie dies getan hat, raten führende Politiker des "Wertewestens" aber trotzdem von Verhandlungen ab.

Im Zuge dieser instrumentalisierenden Solidarität mit der Ukraine muss auch die "Menschheitsherausforderung", wie Altkanzlerin Angela Merkel (CDU) den Klimawandel nannte, erst mal zurückstehen. Genauer gesagt: mal wieder.

Wäre dies "wertebasierte Außenpolitik", hätte Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck wohl kaum versucht, ausgerechnet von Katar Ersatz für russisches Gas zu bekommen. Denn nicht einmal die Grünen können behaupten, dass es in dem Emirat demokratischer zugehe als in Russland. Zudem unterstützt Katar im Jemen-Krieg Saudi-Arabien, das dort ebenfalls für Kriegsverbrechen verantwortlich ist.

Das "Wir sind die Guten"-Geschrei, mit dem aktuell die Forderung nach Verzicht begründet wird, ist demnach mehr als verlogen. Umwelt- und Klimaschutz als "Kollateralnutzen" dieser Politik ist schwer vorstellbar.

Der private Konsum mag angesichts der hohen Energiepreise zwar einbrechen – und ein paar sinnvolle Maßnahmen, die wegen der Klimakrise schon längst hätten getroffen werden können, sind scheinbar nur wegen der Konfrontation mit Russland möglich – wie etwa der für Privathaushalte unproblematische Verzicht auf die nächtliche Beleuchtung von Sehenswürdigkeiten in deutschen Großstädten.

Aber wie soll das Klima davon spürbar profitieren, wenn ausgerechnet die Rüstungsindustrie volle Auftragsbücher hat und russisches Gas erst mal nur durch andere fossile Energieträger ersetzt wird?

Verzicht auf überflüssigen Konsum wäre jedenfalls besser vermittelbar, wenn es dafür durch andere Faktoren mehr Lebensqualität gäbe – etwa durch mehr freie Zeit und weniger Zukunftsängste.

Einigen, die finanziell noch Spielräume haben, würde wohl auch der Verzicht auf Flugreisen leichter fallen, wenn sie mehr Urlaubstage zur Verfügung hätten. "Wir müssen uns langsamer bewegen? Dann brauchen wir mehr Zeit", schrieb Elsa Koester auf dem Höhepunkt der "Flugscham"-Diskussion in der Wochenzeitung Freitag.

Von solchen Anreizen kann aber aktuell keine Rede sein. Selbst in den USA sorgt es für Kopfschütteln, dass in Deutschland die Bereitschaft, zu frieren, verlangt wird, während es immer noch kein Tempolimit gibt. Ein gesundes Verständnis von Lebensqualität ist das nicht.