"Völkerrecht nicht mehr Referenzsystem staatlichen Handelns"

Harald Neuber

Bild: Fraktion Die Linke im Bundestag / CC-BY-2.0

Daniela Dahn über die die schlimmste denkbare Variante der Scholz'schen Zeitenwende. Über die historische Frage, ob der Russe Krieg will. Und ein Problem der Geschichtsschreibung. (Teil 1)

Frau Dahn, der Titel Ihres neuen Buches, "Im Krieg verlieren auch die Sieger. Nur der Frieden kann gewonnen werden" bezeugt schon Ihre Ablehnung aller Siegesfantasien. Was bedeutet für Sie die Scholz'sche Zeitenwende?

Daniela Dahn: Die eigentliche Zeitenwende war Anfang der 1990er-Jahre der Zerfall des Ostblocks. Und mit ihm des bipolaren Sicherheitssystems, das Ende der Entspannungspolitik. Russland war so schwach, dass man alles mit ihm machen konnte. Sogar in aller Öffentlichkeit mit US-Spezialisten Wahlen manipulieren, damit der dem Westen willfährige Jelzin gegen alle Vorhersagen noch einmal gewinnt.

Wir haben dann über 30 Jahre eine unipolare Welt erlebt, in der einen Platz zu finden, Putin immer wieder vergeblich versucht hat. Lange Zeit galt im Westen die Faustregel, Russland habe kein Recht, irgendetwas zu fordern. Die USA gaben den Ton an, nicht nur in der Nato, sondern in der ganzen Welt.

Das Forschungsinstitut des US-Kongresses hat unlängst eine Studie veröffentlicht, aus der hervorgeht, dass das Pentagon seit 1991 weltweit 251 "militärische Aktionen" unternommen hat.

Darunter als "Humanitäre Intervention" oder "Krieg gegen den Terror" ausgegebene Angriffskriege, in denen ungesühnt Kriegsverbrechen begangen wurden und in deren Folge failed states bis heute in Chaos und Armut versinken. Oder europäische Grenzen verschoben und Souveränität verletzt wurden, wie in dem völlig sinnlosen Nato-Angriffskrieg gegen Russlands Verbündeten Serbien.

Das Völkerrecht war leider schon lange nicht mehr das Referenzsystem staatlichen Handelns. Ja, Autokraten wie Putin setzen jetzt mühsam errungene internationale Regeln außer Kraft. Aber zuvor haben Demokraten diese Regeln außer Kraft gesetzt.

Das Neue seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine ist für mich, dass derjenige, der glaubt unbegrenzt provozieren zu können, erkennen muss, dass man auch überreizen kann.

Wer derart herausfordert, muss mit dem Versagen der Politik auf der anderen Seite rechnen. Aber ich sehe im politischen Establishment wenig Nachdenken über die von der Vorgeschichte ausgelösten Kausalitäten. Die schlimmste Variante der Zeitenwende wäre ein langanhaltender, eskalierender Weltordnungskrieg.


Daniela Dahn
Im Krieg verlieren auch die Sieger: Nur der Frieden kann gewonnen werden
Rowohlt Verlag, 224 Seiten, 16 Euro
ISBN: ‎ 978-3499011740


Ein Hinterfragen der militärischen und politischen Ziele des Westens scheint ebenso wenig möglich wie eine Debatte über einen Umgang mit Russland. Über die politischen Lager hinweg macht sich ein Gefühl der Hilflosigkeit breit; formuliert von erfahrenen Akteuren ganz unterschiedlicher Fachrichtungen und politischer Strömungen: dem Sozialdemokraten Klaus von Dohnanyi etwa, der ehemaligen Bundestagsvizepräsidentin Antje Vollmer oder dem Politologen Christian Hacke. Wie kommt es zu dieser Diskursverengung, und vor allem: wie kann man ihr entgegenwirken?

Daniela Dahn: Auf eine solche Frage kann ich nur mit einem Buch antworten oder mit einem Satz: Hinter einer Diskursverengung stecken Interessen, von denen man sich nicht einschüchtern lassen sollte, die stattdessen aufzudecken sind.

Sie schreiben, man müsse eigene Einsichten und Schlussfolgerungen hinterfragen. Das tun nicht alle, Linke posten nach neun Monaten Krieg immer noch das Gedicht "Meint Ihr, die Russen wollen Krieg?" von Jewgeni Jewtuschenko. Weshalb schafft es die Linke so wenig, das sowjetische und antifaschistische Russland von dem kapitalistischen Kriegsstaat Wladimir Putins und seiner Oligarchen zu unterscheiden?

Daniela Dahn: Ich fände es auch zu einfach, den Krieg damit zu erklären, dass Russland nun eben kapitalistisch ist und Kapitalismus nach der reinen Lehre gesetzmäßig zum Krieg führt, wie nun einmal mehr bewiesen sei.

Ich poste zwar nicht, aber Jewtuschenkos rhetorische Frage halte auch ich noch für berechtigt. Ich glaube nach wie vor nicht, dass Russen Krieg wollen - warum sollten sie nach drei historischen Großerfahrungen, in denen sie angegriffen wurden und unermessliches Leid erfuhren.

Allerdings glaube ich auch, dass es eins gibt, was sie noch weniger wollen als Krieg, nämlich noch mal mit derart brutalem Vernichtungswillen überfallen und ausgerottet zu werden, wie im letzten Krieg. Dieser Schrecken, von dem keine Familie verschont blieb, ist zu Erbgut geworden.

Im Übrigen zitiere ich aus einem Brief Albert Einsteins an Sigmund Freud: "Die Massen sind niemals kriegslüstern, solange sie nicht durch Propaganda vergiftet werden."

"Glaube generell nicht an objektive Kriegsgeschichtsschreibung"

Dann kommen wir zu diesem Gift. Wie schon während vergangener Kriege setzen viele Medien in ihre Beiträge über den Ukraine-Krieg Disclaimer, in denen sie darauf hinweisen, dass Informationen oft nicht unabhängig überprüft werden können. Das weist auf den Willen zur Objektivität hin, oder?

Daniela Dahn: Nein, nach meinem Eindruck eher auf das Gegenteil. Während Meldungen, die nicht ins veröffentlichte Bild passen, meist auch dann nicht gebracht werden, wenn sie gesicherte Quellen haben, werden solche, die die offizielle Version bestärken, auch ohne überprüfbaren Wahrheitsgehalt gemeldet.

Ich empfinde das eher wie ein Sich-aus-der-Verantwortung-Stehlen – sollte die Unhaltbarkeit der Nachricht herauskommen, dann hat man sich ja vorsichtshalber abgesichert. Warum müssen unüberprüfbare Fakten und Behauptungen überhaupt in die Welt gesetzt werden? Was einmal verkündet ist, ist schwer wieder einzufangen.

Ich glaube generell nicht an eine objektive Kriegsgeschichtsschreibung. Militärische, propagandistische und logistische Täuschung gehört zur Strategie und Taktik jedes Krieges. Ich habe allerdings nicht den Eindruck, dass das die Botschaft der erwähnten Disclaimer ist.

Sie verweisen in ihrem Buch auf Julian Nida-Rümelins Lamento, in der "Zeit", unsere Medien zeigten "auffallend wenig Resistenz gegen eine Ideologisierung der Außenpolitik des Westens". Er spricht von doppelten Standards, gar von "Kriegspropaganda".

Die ARD widmete der weniger russlandkritischen Haltung im Osten des Landes einen ganzen, reichlich belehrenden Themenabend. Wie steht es um das Verhältnis zwischen Journalisten und Mediennutzern im Krieg, zwischen den Menschen und den Medien?

Daniela Dahn: Es ist mir kaum möglich, Aussagen über die Journalisten oder die Menschen zu treffen, es gibt immer und überall Ausnahmen und Zwischentöne. Gehen wir doch z.B. davon aus, dass schon die Autoren und Leser von Telepolis etwas anders sind.

Generell lassen die Großmedien das Einhalten einer Grundregel vermissen, die sowohl bei Streitigkeiten im Buddelkasten gilt als auch bei den ganz großen Konflikten: Man muss immer beide Seiten hören. Das ist in der Justiz bei der Suche nach Gerechtigkeit selbstverständlich und galt auch im Journalismus als unverzichtbar.

Inzwischen herrscht das Axiom: Was immer aus einer russischen Quelle kommt, kann nur Propaganda sein und muss ungeprüft aus dem Verkehr gezogen werden. Den Lesern und Hörern wird nicht zugetraut, sich eine eigene Meinung zu bilden, ja es wird ihnen nicht zugestanden.

Die russische Sicht sollen wir nur in deutscher oder westlicher Kommentierung zur Kenntnis nehmen und die ist oft genug verkürzt, verdreht und verfälscht. Nicht wenige empfinden sie selbst von Propaganda nicht weit entfernt, wie das in Umfragen dokumentierte, wachsende Misstrauen in die "Qualitätsmedien" belegt. Da sind die Öffentlich-Rechtlichen nicht besser als die Privaten.

Daniela Dahn, geboren in Berlin, studierte Journalistik in Leipzig und war Fernsehjournalistin. 1981 kündigte sie und arbeitet seitdem als freie Schriftstellerin und Publizistin. Sie war Gründungsmitglied des "Demokratischen Aufbruchs" und hatte mehrere Gastdozenturen in den USA und Großbritannien.

Sie ist Mitglied des PEN sowie Trägerin unter anderem des Fontane-Preises, des Kurt-Tucholsky-Preises für literarische Publizistik, der Luise-Schroeder-Medaille der Stadt Berlin und des Ludwig-Börne-Preises.

Bei Rowohlt sind bislang 13 Essay- und Sachbücher erschienen, vor dem aktuellen Buch "Im Krieg verlieren auch die Sieger: Nur der Frieden kann gewonnen werden" (2022).

Artikel von Daniela Dahn bei Telepolis.