Vom Atlas zum Algorithmus: Die Macht der Karten und ein vergessenes Können
Navigationssysteme und Google Maps haben traditionellen Kartenwerken den Rang abgelaufen. Was bedeutet das für unser Leseverständnis von Karten?
Die Zeiten, als die besten Beifahrer aller Zeiten einen Shell-Atlas auf den Beinen liegen hatten und den Fahrer an das Familienferiendomizil an der italienischen Adria lotsten, sind schon lange Geschichte. Wenn man heutzutage noch einen Straßenatlas findet, dann im Buchantiquariat. Auch Straßenkarten erscheinen im täglichen Leben viel zu unhandlich.
Da vertraut man sich im Auto aus Bequemlichkeit lieber einem Navigationssystem an, das heute beinahe obligatorisch in jedem Fahrzeug verbaut ist, auch wenn man dem System nicht immer blind vertrauen sollte.
Gab es in früheren Zeiten noch das Studienfach Karteninterpretation, das sich mit dem Informationsinhalt der Karten befasste und bei dem die Interpretation von Messtischblättern ein schriftliches Examen im Fach Geografie wert war, hat die digitale Technik die analoge Kultur inzwischen überholt.
Wie macht man aus der kugeligen Erde eine plane Karte?
Während ein Globus das abgeplattete Rotationsellipsoid mit dem Namen Erde noch weitgehend neutral wiedergibt, ist dies bei planen Karten systembedingt nicht der Fall. Obwohl Karten neutral zu sein scheinen, da sie nur die Welt beschreiben, indem sie sie abbilden, wird bei der Umsetzung der Kugelform in die Fläche massivst manipuliert.
Die im Westen bis heute gebräuchliche Mercator-Projektion kommt aus der Seefahrt und verzerrt in ihrer eurozentrischen Sicht die Größenverhältnisse der Erde. Afrika wird bei Mercator zu klein dargestellt, Europa und die USA zu groß. Grönland wird auch viele größer dargestellt, als man es bei einem Überflug wahrnehmen könnte.
Die 1569 von Gerhard Mercator aus Flandern in Duisburg vorgestellte ″Nova et Aucta Orbis Terrae Descriptio ad Usum Navigantium Emendate Accommodata″ auf Deutsch ″die neue und vollständigere Darstellung des Erdglobus für den Einsatz in der Navigation".
Die heute als Mercator-Projektion bekannte plane Darstellung ist somit eine winkeltreue Zylinderkartenprojektion, die ursprünglich zum Darstellen genauer Kompasspeilungen für die Seefahrt erstellt wurde. Eine weitere Funktion dieser Projektion ist, dass alle lokalen Formen bei einem unendlichen Maßstab genau und richtig definiert sind.
Man hat sich an die Darstellung der Mercator-Projektion ebenso gewöhnt wie an die Übereinkunft, dass Norden auf der Karte immer oben ist. Versuche, eine andere Projektion zu wählen, welche beispielsweise Afrika in den Mittelpunkt stellt, wie die bei der Peters-Projektion der Fall ist, konnten sich nicht durchsetzen.
Kein objektives, exaktes Abbild der Erde in Karten
Was man jedoch festhalten kann, ist die Tatsache, dass es kein objektives, exaktes Abbild der Erde in Karten gibt. Die Darstellung auf einer Karte ist immer auch eine Interpretation der Realität. Das sieht man dann, wenn man verschiedene Karten miteinander vergleicht.
Die topografische Karte 1: 25 000, früher Messtischblatt genannt, gibt mit den eingezeichneten Isohypsen, d.h. Linien gleicher Höhe, z.B. mit Höhenangaben in Metern über oder unter dem Meeresspiegel, wie der Name schon sagt, die topographische Gestalt der Erde wieder.
Zu berücksichtigen ist allerdings bei den Angaben zu Normalnull, dass dieser Bezugspunkt nicht in jedem Land identisch ist und sich auch ändern kann, wie man nach der deutschen Wiedervereinigung festgelegt hat.
Auch in Deutschland, das sich am Amsterdamer Pegel orientiert und der Schweiz, wo der Referenzpunkt der Repère Pierre du Niton, ein auf einem Felsen im Genfer Hafen angebrachter Messpunkt ist, gibt es somit unterschiedliche Bezugspunkte, wie man beim Bau der Hochrheinbrücke zwischen der deutschen Kleinstadt Laufenburg und dem schweizerischen Laufenburg AG zum Glück gerade noch rechtzeitig feststellen konnte.
Zudem zeigen die topografischen Karten mithilfe von Symbolen auch Kirchen, Schornsteine und Bahndämme, die noch in der Landschaft stehen, auch wenn die betreffende Bahnlinie schon längst deaktiviert ist.
Google Maps dominiert heute den Kartenmarkt
Mit einem Marktanteil von etwa 90 Prozent dominiert heute Google Maps den Kartenmarkt. Gedruckte Karten und OpenStreetMap besetzen die verbleibenden zehn Prozent. Da sich beide Kartensysteme in erster Linie an die automobilisierte Kundschaft richten, enthalten sie in erster Linie die Wiedergabe von Straßen, sowie Restaurants und ausgewählten Firmen wie Einkaufsmärkte.
Kultur und dergleichen wird weitestgehend ausgeblendet, soweit sie sich nicht kommerziell nutzen lässt.
Der von automobilen Navisystemen und entsprechenden Systemen auf den Smartphones konditionierten zivilen Öffentlichkeit wurden erstmals im Rahmen des Ukraine-Kriegs jeden Abend im TV oder anderen Medien Karten mit den Frontverläufen präsentiert.
Dabei handelt es sich üblicherweise um Ausschnittkarten, ohne am Monitor oder Bildschirm nutzbaren Hinweis auf den gewählten Maßstab.
Russland arbeitet an aktuellen Meereskarten
Im Rahmen der anstehenden militärischen Konfrontation wurde der Westen darauf aufmerksam, dass Russland seit geraumer Zeit an der Erstellung von aktuellen Meereskarten arbeitet.
Russland soll in den vergangenen Jahren erhebliche Fähigkeiten im Unterwasserbereich entwickelt haben, die man im Westen vielfach für technisch nicht umsetzbar gehalten habe. Während Moskau den Weltraum zunehmend als militärische Dimension aufgegeben und seit Jahrzehnten der Öffentlichkeit keine wirklich neuen Entwicklungen mehr präsentiert oder innovativen Missionen durchgeführt habe, sei unter Wasser genau das Gegenteil der Fall.
Russlands Marine, insbesondere die nachrichtendienstlich operierenden Einheiten der Hauptverwaltung Tiefseeforschung (GUGI), sollen dabei sein, den Meeresgrund weltweit technisch detailliert zu vermessen, um hochgenaue Unterwasserkarten zu erstellen.
Schon zu Sowjetzeiten gab es konkrete Pläne, wie man die Unterwassertopographie militärisch nutzbar machen könnte, ohne dass sich der Gegner dagegen wehren könnte.