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Vom sozialen zum selbstorganisierten Wohnungsbau

Muss sozialverträgliches Wohnen so aussehen? Foto: Reinhard Huschke

Wohnen als Projekt - Teil 1

Lebensläufe werden immer vielfältiger, passende und bezahlbare Wohnungen immer knapper. Die Standard-Wohnlösung für alle gibt es längst nicht mehr: Wer heute gut wohnen will, muss entweder über finanzielles oder soziales Kapital verfügen - am besten aber über beides.

Laufende Mieterhöhungen, Ausverkauf städtischer Wohnungen an Heuschrecken, Gentrifizierung von Altbauvierteln: Auf dem deutschen Wohnungsmarkt ist es in den letzten Jahren ungemütlich geworden. Die Zeiten, in denen man einfach nur günstig und in Frieden wohnen konnte, sind lange vorbei. Manche Mieter mögen da wehmütig an die Zeiten des sozialen Wohnungsbaus zurückdenken: Damals, ja damals war nicht nur die Rente, sondern auch die Wohnung sicher!

Bei näherer Betrachtung trübt sich allerdings das Bild jener seligen Epoche. Denn so sozial war der soziale Wohnungsbau keineswegs. Er nutzte vor allem einer Mafia aus Bauträgern und Wohnungsbaugesellschaften, die sich mit den üppigen staatlichen Fördergeldern und Steuergeschenken die Taschen vollstopfte, während die Masse der Bevölkerung mit normierten "3-Zimmer-Küche-Bad" in teuer erkauften, aber billig gebauten Wohnblocks abgespeist wurde. Dem Fördermodell des sozialen Wohnungsbaus weinen deshalb auch Kritiker der heutigen Verhältnisse keine Träne nach, auch die nicht, die eine staatliche Subventionierung des Wohnungsbaus und der Mieten nach wie vor für notwendig halten.

Im Jahr 2001 endete der klassische soziale Wohnungsbau durch den Bund und wurde durch verschiedene Förderprogramme (auf niedrigerem Niveau) vor allem auf der Ebene der Länder und Kommunen abgelöst. Schon vorher führte das allmähliche Auslaufen der Belegungsbindungen dazu, dass die Zahl der Sozialwohnungen in Deutschland stetig abnahm [1]: Gab es Mitte der 1980er Jahre noch rund 4 Millionen staatlich geförderte Wohnungen, waren es Ende 2010 nur noch 1,7 Millionen. Allein in den letzten Jahren verschwanden so jedes Jahr 100.000 günstige Wohnungen vom Markt.

Diese Lücke, die der Staat ließ, konnte auch der frei finanzierte Wohnungsmarkt nicht füllen, zumal es für Investoren im letzten Jahrzehnt interessantere Spekulationsmöglichkeiten als den Bau von Mietwohnungen gab. Die Folge ist heute ein zunehmender Mangel an bezahlbaren Wohnungen in vielen Großstädten der Republik.

Von der Normwohnung zu neuen Wohnmodellen

Die Abkehr vom staatlich geförderten Wohnstandard hat allerdings auch einen positiven Aspekt: Es entstanden Freiräume für neue Wohnmodelle, die früher kaum eine Chance gehabt hätten, sich gegen subventionierte Wohnungsbaugesellschaften einerseits und solvente Bauträger andererseits durchzusetzen. Aktuelle Fördermöglichkeiten für den Wohnungsbau, wo es sie noch gibt, sind meist flexibler und passen daher besser zur gewandelten Lebenssituation eines Großteils der Bevölkerung. Denn die Alleinverdienerfamilie mit ein bis zwei Kindern, der die genormte Dreizimmerwohnung des Sozialen Wohnungsbaus einst zugedacht war, ist schon lange zum Auslaufmodell geworden.

"In westdeutschen Großstädten macht der klassische Haushaltstypus […] statistisch nur noch 10-15 % der Haushalte aus", schrieb der Stadtsoziologe Walter Siebel bereits 2006 in der Architekturzeitschrift "archplus". Stattdessen gibt es immer mehr Alleinerziehende, Patchworkfamilien, generationenübergreifende Wohngemeinschaften und kulturell-soziale Wohnprojekte, die auf dem Wohnungsmarkt nur schwer ihren Ansprüchen genügenden und zugleich bezahlbaren Wohnraum finden.

Deshalb machen immer mehr Menschen ihre Wohn-Idee zum Projekt und schaffen sich "ihren" Raum einfach selbst. Die Realisationsformen von selbstorganisierten Wohnprojekten sind dabei äußerst vielfältig - sie reichen vom eigentumsorientierten Bauen in Baugruppen über Wohngenossenschaften bis zu kreativen Kombinationen verschiedener Wohn- und Finanzierungsmodelle. Im Folgenden sollen verschiedene Konzepte und Perspektiven für sozialverträgliches Wohnen vorgestellt werden.

Wohnen in der Eigentums-WG

Baugruppen mischen die Städte auf

Baugruppen ermöglichen es, eigene Vorstellungen vom Wohnen und Zusammenleben zu verwirklichen. Da das Modell eigentumsorientiert ist, ist seine soziale Reichweite allerdings beschränkt.

Ein erstes neues Wohnkonzept, dass sich im privatisierten Wohnungsmarkt der Jahrtausendwende etablieren konnte, war das Modell der Baugruppe. Entstanden bereits in den 1990er Jahren in Tübingen und Freiburg, hat es mittlerweile in vielen Städten Anhänger gefunden.

Die Idee ist einfach: Eine Gruppe Bauwilliger schließt sich zusammen, sucht sich einen Architekten und baut gemeinsam das Haus ihrer Wünsche. Im Vergleich zum Kauf einer schlüsselfertigen Wohnung vom gewerblichen Bauträger lässt sich durch die Selbstorganisation viel Geld sparen: Durch Entfall der Grunderwerbssteuer auf das Gebäude sowie der Bauträgermarge sind Einsparungen in Höhe von 20 bis 25 Prozent realisierbar, und dies trotz meist höherer Wohn- und Architekturqualität. Dem gegenüber steht der deutlich höhere Aufwand für jedes Gruppenmitglied bei der Planung und Umsetzung des gemeinsamen Projektes.

Damit ist das Prinzip umrissen, im Detail können die privaten Baugemeinschaften, wie die Baugruppen von den Stadtplanern genannt werden, unterschiedlich organisiert sein. In der Regel wird in der Planungs- und Bauphase eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts (GbR) gebildet, aber auch die Genossenschaft oder GmbH kommen als Rechtsform in Frage. Ist der Bau vollendet, wird die Gesellschaft meist in eine Wohneigentümergemeinschaft (WEG) umgewandelt.

Große Unterschiede gibt es bei den Motiven, eine Baugruppe zu gründen: Das Spektrum reicht von Lebensstil- oder -situationsgemeinschaften, wie beispielsweise Alten-, Frauen-, Schwulen/Lesben- oder Ökogruppen, über befreundete Familien bis hin zur reinen "Zweck-WG", deren Gruppenmitgliedern es vor allem darum geht, möglichst billig zur eigenen Traumwohnung zu kommen. Je mehr das Modell der Baugruppe zur Normalität geworden ist, umso mehr hat der Anteil der reinen Zweckgemeinschaften zugenommen. Auch Architekten haben die Baugruppe längst als Geschäftsmodell entdeckt und stellen eigene Gruppen zusammen.

Wie beim Kauf einer schlüsselfertigen Wohnung ist auch für das Bauen in der Gruppe ein Eigenkapitalanteil von 20 bis 30 Prozent erforderlich - diese Voraussetzung macht die Baugruppe überwiegend zu einem Wohnmodell für den Mittelstand. Zumindest prinzipiell haben allerdings auch Nichterben und Geringverdiener eine Chance, über eine Baugruppe Wohneigentum zu bilden; manchen Baugruppen ist es sogar ein Anliegen, soziale Randgruppen in ihr Projekt einzubinden. "Bis zu 20 Prozent der Baugruppenmitglieder, die kein Eigenkapital einbringen können, lassen sich unter das Dach einer Gesamtfinanzierung nehmen und dies den Banken gegenüber als Paket durchsetzen", erklärt Reiner Nagel von der Berliner Senatsverwaltung für Stadtentwicklung. Und der Tübinger Baubürgermeister Cord Soehlke sieht Baugruppen gar als "Gegenmodell zum neoliberalen Städtebau", das nach seiner Erfahrung längst nicht mehr auf ein bestimmtes (Mittelstands-) Milieu beschränkt ist.

Bürgerliches Mittelstandsidyll oder Wohnmodell für viele? Baugruppenhäuser in Tübingen. Foto: Reinhard Huschke

Sind Baugruppen Stadtretter oder Gentrifizierer?

Diese positive Einstellung zu Baugruppen, die bisweilen auch als "neue Stadtbürger" oder "Stadtretter" bezeichnet werden, teilen nicht alle. In Berlin, dem einstigen Eldorado des sozialen Wohnungsbaus, werden sie vor allem in weniger wohlhabenden Vierteln mit Argwohn betrachtet. Dort befürchtet man, dass Baugruppenprojekte die Aufwertungsspirale der Gentrifizierung in Gang setzen und die Viertel in "Lifestyleparks für die Bionaden-Bourgoisie" [2] verwandeln könnten. In der Folge wurden Berliner Baugruppenprojekte bereits Opfer von tätlichen Angriffen, von Farbbeutelattacken bis hin zu Brandanschlägen [3]. Die betroffenen Gruppen wiederum fühlen sich zu Unrecht an den Pranger der "bösen Gentrifizierer" gestellt.

Dass die Idee der Baugruppe ursprünglich dem linksalternativen Milieu entstammt, ist längst vergessen. Vor allem in der linken Szene sieht [4] man Baugruppen heute als egoistische Vertreter eines neuen Mittelstandes, der "über Erbschaften, reichere oder wohlhabende Eltern, Anlagen oder einen entsprechenden Job als Ärzte/Ingenieur/Anwalt/Anwältin/Professorin etc. versorgt ist. Dieser zumeist akademische Mittelstand schafft in der Krise Lösungen - für sich selbst." Reiner Nagel erklärt diese harschen Auseinandersetzungen mit der speziellen Berliner Situation: "Hier besteht immer noch ein Wohnungsmarkt, auf dem Wohnungsmieten im Neubau für die meisten Mieter ungewöhnlich und nicht bezahlbar sind. Deshalb gelten auch Baugruppen als reich."

Wie auch immer man zur sozialen Bewertung der Baugruppen steht, Tatsache ist, dass sie frischen Wind in den Wohnungsmarkt vieler Städte gebracht haben. In Tübingen sind Baugruppen schon lange die erste Wahl, wenn es um die Vergabe städtischer Grundstücke geht. Nicht mehr der erzielbare Maximalpreis für ein Grundstück ist das entscheidende Kriterium, sondern die Qualität des geplanten Konzepts sowie der Nutzen für die Stadt, der sich beispielsweise durch soziales Engagement im Quartier oder kulturelle Angebote ergibt. Denn die Erfahrung zeigt, dass sich Baugruppen in der Regel über das eigene Projekt hinaus für ihren Stadtteil einsetzen. Nach 20 Jahren Erfahrung mit diesem Wohnmodell ist sich Tübingens Baubürgermeister Cord Soehlke sicher: "Baugruppen sind ein Gewinn für die Stadt."

Die nächsten Folgen der Artikelserie:
- Sozialistisches Monopoly [5]: Wie das Mietshäuser-Syndikat Spekulation mit Wohnraum verhindert
- Es brennt wieder Licht [6]: Wächterhäuser sollen Leipzigs Stadtbild retten
- Anders wohnen als gewohnt [7]: Berlin, die Hauptstadt der Wohnprojekte


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-3503547

Links in diesem Artikel:
[1] http://www.tagesschau.de/inland/wohnungsbau104.html
[2] https://www.heise.de/tp/features/Lifestylepark-fuer-die-Bionaden-Bourgoisie-3388276.html
[3] http://www.taz.de/1/archiv/print-archiv/printressorts/digi-artikel/?ressort=bl&dig=2009%2F12%2F23%2Fa0156
[4] http://mietenstopp.blogsport.de/images/offenerBriefanFels.pdf
[5] https://www.heise.de/tp/features/Sozialistisches-Monopoly-3503557.html
[6] https://www.heise.de/tp/features/Es-brennt-wieder-Licht-3503559.html
[7] https://www.heise.de/tp/features/Anders-wohnen-als-gewohnt-3396559.html