Anders wohnen als gewohnt
Berlin, die Hauptstadt der Wohnprojekte. Wohnen als Projekt - Teil 4
Nirgendwo ist die Vielfalt an Wohnprojekten so groß wie in Berlin. Vielen geht es dabei nicht nur um die Befriedigung der eigenen Wohnwünsche zu bezahlbaren Preisen, sondern auch um das soziale Miteinander in der Stadt.
Teil 3: Es brennt wieder Licht
Berlin ist eine Mieterstadt: 87% der 1,9 Millionen Wohneinheiten der Stadt sind Mietwohnungen, die Eigentumsquote liegt mit 13% bei weniger als einem Drittel des Bundesdurchschnitts. Deswegen haben die - besonders in zentralen Vierteln - erheblichen Mietsteigerungen der letzten Jahre nicht nur sozial Bedürftige, sondern auch Teile der Mittelschicht getroffen. Bei den zur Zeit besonders niedrigen Bauzinsen überlegt sich da mancher, ob es sich nicht rentiert, ein eigenes Haus zusammen mit einer Baugruppe zu bauen oder sich an einer Genossenschaft zu beteiligen.
Steigende Mieten sind dabei nur ein Grund, sich mit der Idee des gemeinschaftlichen Wohnens zu befassen. In einer Zeit, in der sich traditionelle Familienbande in Auflösung befinden, nimmt bei vielen Menschen der Wunsch nach mehr Miteinander im Alltag zu, ebenso wie die Besorgnis, im Alter allein auf sich gestellt zu sein. Sie suchen deshalb nach bezahlbaren, langfristig angelegten Wohnmodellen in selbstgewählten "Wohnverwandtschaften".
Besonders ausgeprägt ist das Phänomen in Großstädten wie Berlin - dort werden im Jahr 2030 voraussichtlich über 50% der Einwohner in Single-Haushalten leben. Für Berliner/innen auf der Suche nach gemeinschaftlichen Wohnprojekten wurde deshalb die Netzwerkagentur GenerationenWohnen geschaffen, die kostenlose Beratungen zum gemeinschaftlichen, generationenübergreifenden Bauen und Wohnen im Eigentum oder zur Miete anbietet und passende Projektpartner vermittelt. Auch über das Internet oder auf der jährlich stattfindenden Wohnprojekte-Börse Experimentdays können Projekte, Teilnehmer und Experten zueinander finden.
"Wohnprojekte sind keine Nische mehr, sondern das Thema zieht sich inzwischen durch viele Sozial- und Altersschichten", berichtet Sabine Eyrich von der Netzwerkagentur. "Das gemeinschaftliche Wohnen interessiert nicht mehr nur die alternative Szene oder eine an hochwertigem Bauen in der Innenstadt interessierte Elite, sondern beschäftigt ganz normal sozialaktive Menschen, die teils nicht mehr der traditionellen Familienkonstellation verbunden sind." Rund 1.500 Beratungen für Einzelinteressierte und Gruppen wurden seit 2008 durch die von der Berliner Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt finanzierte Agentur durchgeführt und auf diese Weise ca. 140 Projekte mit 2.000 Wohneinheiten unterstützt.
Laut Eyrich suchen rund zwei Drittel der Interessenten gemeinschaftliches Wohnen zur Miete oder in einer Genossenschaft: "Wer zu uns kommt, hat oft nicht das nötige Kapital, um sich an einer Baugruppe zu beteiligen." Die typische Klientel der Agentur sei um die 60, weiblich sowie sozial, kulturell und politisch engagiert. "Wo finde ich eine Gruppe, wo ich nicht gleich mit einem Stammkapital kommen muss?", fragten viele.
Wohnprojekte als Anker für soziale Nachbarschaften
Günstige Mietmodelle werden allerdings immer mehr zur Mangelware: Typische Neubaumieten in zentralen Lagen von 10 Euro/m2 aufwärts sind für viele Berliner/innen nicht bezahlbar, sodass ungewöhnliche Lösungen gefragt sind. Deshalb wirbt die Netzwerkagentur beispielsweise für die Idee, generationsübergreifende Wohnprojekte als "Anker für soziale Nachbarschaften" in bestehende Gebäude der Berliner Wohnungsbaugesellschaften zu integrieren.
Ein Vorbild hierfür ist das Projekt AlWiG ("Alleine wohnen in Gemeinschaft"): Die aus elf gut situierten Rentnerinnen und Rentnern bestehende Gruppe zog aus eigener Initiative in ein soziales Brennpunktviertel (Rollberge in Neukölln). Ihre neue Heimat wurde ein Wohnblock der städtischen Wohnungsbaugesellschaft Stadt und Land, welche die Wohnungen den Wünschen der neuen Bewohner entsprechend umgestaltete und der Gruppe zusätzlich eine Gemeinschaftswohnung als Treffpunkt vermietet.
Die vergleichsweise günstigen Mieten waren in diesem Fall nicht ausschlaggebend, sondern die Möglichkeit zu einem sinnvollen, über die eigene Gruppe hinausgehenden sozialen Engagement. Auch die Wohnungsbaugesellschaft profitiert vom Zuzug der "bürgerlichen" Bewohner/innen, die zur Stabilisierung der Nachbarschaft beitragen. Ausgehend von den positiven Erfahrungen mit AlWiG hat die Netzwerkagentur deshalb ein "Bündnis für soziale Nachbarschaften" zwischen Unternehmen, Verbänden, sozialen Trägern, Verwaltung und Politik initiiert, das im kommenden Jahr in zwei weiteren Berliner Gebieten mit sozialen Problemlagen erprobt werden soll.
Der Anfang ist also gemacht, aber Netzwerkagentin Sabine Eyrich kann sich vorstellen, dass da noch mehr geht: "Es bräuchte eine größere Offenheit auf beiden Seiten: von den Gruppen, auch in Bestände zu gehen, die von der Lage, Architektur und Nachbarschaft nicht unbedingt ihren Vorstellungen entsprechen, und auf der Seite der Unternehmen, offener für die Auseinandersetzung mit Gruppen zu sein." Dabei seien sowohl - wie im Fall von AlWiG - das Wohnen zur Miete, aber auch Mietkauf- oder Erbpachtmodelle denkbar. "Ein größerer Leerstand muss für die Integration von Wohnprojekten gar nicht vorhanden sein", ist Eyrich überzeugt. Die Mitglieder einer Gruppe könnten auch nach und nach in einen Bestand "einsickern". Wichtig seien jedoch die baulich-räumlichen Voraussetzungen für das soziale Miteinander in Form von Gemeinschaftsräumen.
Neues genossenschaftliches Wohnen
Aber nicht nur die etablierten Berliner Wohnungsbaugesellschaften kommen durch Wohngruppen in Bewegung, auch neue Genossenschaften sind in den letzten Jahren entstanden, darunter das Großprojekt Möckernkiez mit über 600 Genossen und geplanten 385 Wohneinheiten. Hier mussten die Mitglieder eine erhöhte Einlage für den Grundstückskauf mitbringen, denn als junge Genossenschaft konnte man noch nicht von vorhandenem Kapital zehren. Dennoch handelt es sich um ein reines Genossenschaftsmodell, in dem nach Fertigstellung der Gebäude alle zur Miete wohnen werden.
Während das Kreuzberger Möckernkiez-Projekt noch im Werden ist, sind die Wohnungen in der Alten Schule Karlshorst im Bezirk Lichtenberg längst bezogen. Das ehemalige Schulgebäude bietet heute 21 barrierefreie Wohnungen für 61 Menschen aller Altersgruppen inklusive einer Kinderwohngruppe. Hier gelangen Finanzierung und Sanierung u.a. mit Hilfe der Stiftung trias, die das Grundstück erwarb und in Erbpacht zur Verfügung stellte, sowie einem Zuschuss vom Land Berlin. Die Initiative für das Projekt kam von den Ostberliner Wohnprojektpionieren der 1990 gegründeten Mietergenossenschaft SelbstBau e.G., die bereits kurz nach der Wende damit begonnen hatten, Wohnhäuser im Prenzlauer Berg zu kaufen und gemeinsam mit den Bewohnern zu sanieren. Heute verwaltet die Genossenschaft 21 Häuser in ganz Berlin.
Ohne staatliche Zuschüsse geht es kaum
Trotz des Engagements und umfangreicher Eigenleistungen der Bewohner wären die meisten dieser Projekte ohne staatliche Fördermittel nicht realisierbar gewesen - Mittel, die heute kaum mehr zur Verfügung stehen, wie der Projektentwickler und Initiator des Berliner Wohnportals, Winfried Härtel, in der Dokumentation Berlin - Wohnen in eigener Regie feststellt: "Durch das Förderprogramm 'Wohnungspolitische Selbsthilfe' unterstützte das Land Berlin annähernd 20 Jahre etwa 300 Selbsthilfegruppen mit erheblichen Baukostenzuschüssen, wenn diese die Möglichkeit hatten, ein Haus zu erwerben oder langfristig zu pachten oder zu mieten. Seit dem Wegfall dieser Förderung 2002 ist vor allem die Initiierung gemeinschaftsorientierter Wohnprojekte auf Mietbasis sehr schwierig."
An diesem Dilemma könnte nur die Politik etwas ändern. Deshalb werden - nicht nur in Berlin - die Stimmen lauter, die einen neuen Anlauf im sozialen Wohnungsbau fordern. Nicht die teure Investorenbeglückung von einst, sondern ein nachhaltiges Finanzierungsmodell. Ansätze hierfür wären die Vergabe städtischer Grundstücke in Erbpacht sowie die Förderung über revolvierende Fonds, d.h. die Gewährung von Darlehen statt "verlorener" Einmalzuschüsse. Nach finanzieller Konsolidierung eines geförderten Projekts fließen die Mittel wieder in den Topf zurück und stehen so neuen Projekten zur Verfügung. Entsprechende Fonds gibt es bereits beim Mietshäuser-Syndikat (siehe Folge 2 dieser Artikelserie) sowie bei der SelbstBau e.G. Dass ein solcher Fonds auch auf kommunaler Ebene funktionieren kann, zeigt ein bemerkenswertes Beispiel aus Salzburg.
Wohnen in Projekten - ein Modell für alle?
Ich wohne. Eine Beschäftigung, die mich restlos ausfüllt
aus "Die tote Tante und andere Begebenheiten" von Curt Goetz
Doch Geld ist nicht die einzige Hürde, wenn man in ein gemeinschaftliches Wohnprojekt einsteigen will. Die Teilnehmer/innen benötigen auch eine ausgeprägte soziale und intellektuelle Kompetenz - und sehr viel Zeit und Geduld. Bevor man endlich wohnen kann, muss man sich in einem oft über Jahre gehenden Prozess mit den anderen Beteiligten abstimmen, sich in unterschiedliche Sachgebiete wie Gesellschaftsformen, Finanzierungsmodelle und Bauabwicklung einarbeiten, Streitigkeiten aushalten und Rückschläge verkraften. Diesen Willen und die nötigen Fähigkeiten haben nicht alle - sei es, weil ihnen die entsprechende Mentalität oder Bildung fehlt oder weil sie ihre Zeit und Energie für andere Lebensbereiche benötigen.
Dass dies so ist, bestätigt auch der Berliner Architekt und Baugruppen-Pionier Christian Schöningh: "Angesprochen wird natürlich der soziale und intellektuelle Mittelstand. Nicht jeder kann sich vorstellen, so etwas zu machen, ganz unabhängig von der Geldfrage." Auch der Stadtsoziologe Andrej Holm erkennt bei Wohnprojekten "ein hohes Maß an kultureller und sozialer Exklusivität". Die klassische Mietwohnung wird also sicher nicht überflüssig werden, sondern weiterhin das - hoffentlich bezahlbare - Standardmodell für viele bleiben.
Auch wenn die Idee des gemeinschaftlichen Wohnens nicht alle gesellschaftlichen Schichten erreichen wird, rechnet man bei der Netzwerkagentur GenerationenWohnen mit einer weiter steigenden Anzahl von Wohnprojekten: "Berlin ist der Ort in Deutschland, wo gegenwärtig die größte Bandbreite an Gruppen entsteht", bestätigt Sabine Eyrich. So wie von hier schon viele Bewegungen, sowohl von oben als auch von unten, ausgegangen seien - etwa die Rückkehr zur kompakten sozialen Stadt mit der Internationalen Bauausstellung von 1984/87 oder die Hausbesetzerbewegung (aus der heraus auch viele Wohnprojekte entstanden sind). "Immer in Zeiten des Umbruchs wurden die Leute wieder aktiv. Jetzt wäre es an der Zeit für eine neue Stufe, um die neuen Gemeinschaften noch breiter zu verankern."
Ein Appell an die Politik, das Thema der sozialen Nachbarschaften und die Bedeutung der Wohnprojekte für sozialverträgliches Wohnen mehr als bisher im Blick zu haben und zu unterstützen.
Teil 1: Vom sozialen zum selbstorganisierten Wohnungsbau
Teil 2: Sozialistisches Monopoly - Wie das Mietshäuser-Syndikat Spekulation mit Wohnraum verhindert.
Teil 3: Es brennt wieder Licht - Wächterhäuser sollen Leipzigs Stadtbild retten