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Von Ambivalenz, Zweifel und Fanatismus

Zweifel – in der deutschen Geschichte nicht unüblich. Bild: Jula2812, CC BY-SA 4.0

Über das aufklärerische Konzept der Skepsis in Zeiten der Pandemie und das reflexartige Hinterfragen von allem, was "von oben" kommt

Die Freiheit des Einzelnen endet dort, wo die Freiheit des Anderen beginnt.

Immanuel Kant

In meiner Welt sind Kompromisse ein Synonym für das Wort Leben. Und wo Leben ist, da gibt es Kompromisse. … Das Gegenteil von Kompromissen sind Fanatismus und Tod.

Amos Oz

Neulich ging ich durch meine Lieblingslandschaft im Gießener Hinterland. An einem Waldrand befindet sich eine Bank, die ich ansteuerte. Als ich meinen Rucksack absetzte und das Buch herausholte, das ich gerade las, fiel mir auf, dass jemand auf der Rückenlehne einen leuchtend gelben Aufkleber platziert hatte. In roten Lettern stand darauf das Wort Zweifel. Sonst nichts, kein Hinweis, woran man zweifeln soll und warum. Gerade weil das Wort Zweifel einfach so und für sich stand, griff es in meine Fantasie und regte mich zum Nachdenken an.

Eine Kardinaltugend der Aufklärung

Der Zweifel steht bei mir als Kardinaltugend von Aufklärung und Demokratie hoch im Kurs. "Es ist klug und weise, an allem zu zweifeln", propagierte Voltaire. Ohne den Zweifel wäre es nie gelungen, die Vorherrschaft des Glaubens über das Denken zu brechen und neue Horizonte zu öffnen. Der Aufkleber in meinem Rücken war frisch, stand also vermutlich im Kontext der Turbulenzen, für die sich der Begriff "Corona-Krise" eingebürgert hat.

Zweifel an der Triftigkeit der von der Regierung ergriffenen Maßnehmen, um die Verbreitung des Virus einzudämmen, begleiteten diese Maßnahmen von Anfang an. Und dagegen ist so lange nichts zu sagen, wie die Kritik sich im Bezugsrahmen der Vernunft bewegt und für vernünftige Argumente zugänglich bleibt.

Zweifel im Sinne der Aufklärung ist mit kritischer Urteilskraft verschwistert, was so viel heißt, dass der Zweifel auch auf sich selbst angewandt werden muss. Alles und jedes hat sich vor dem Richterstuhl der Vernunft zu rechtfertigen, auch der Zweifel. Zweifel ist kein Selbstzweck.

Reflexartig alles zu bezweifeln, was "von oben" kommt, ist töricht und infantil. Ein solcher einschnappender Zweifel-Reflex stellt die Kritik "auf dieselbe Stufe wie die Verdauung", hat der österreichische Kabarettist und Schauspieler Josef Hader unlängst gesagt: "Verdauung passiert frei von Argumenten und im Bauch. Das sollte Kritik nicht."

Ihr Sitz ist und bleibt der Kopf, und zwar ein Kopf, der zum kritischen Denken benutzt wird. Grundsätzlicher Zweifel schlägt in Fanatismus um. Dieser will Eindeutigkeit und übersichtliche Verhältnisse, während Rechtsstaatlichkeit und Demokratie auf Kompromiss und Mehrdeutigkeit beruht. Demokratie ist, im Gegensatz zu einem häufigen Missverständnis, keine dumpfe, homogene Gesinnungsgemeinschaft, sondern ein System von Verkehrsregeln, das die Entfaltung von Verschiedenheit und Dissens ermöglicht.

Der von Fall zu Fall notwendig werdende praktische Konsens soll durch Diskussion und Abstimmung hergestellt werden. Ein von kritischer Urteilskraft gespeister Zweifel ist ein elementarer Bestandteil der Demokratie und schützt vor Fanatismus jedweder Couleur. Denn Fanatismus, hat Max Horkheimer einmal gesagt, rührt aus der "Verbannung des Zweifels".

Man sollte also in einem demokratischen Gemeinwesen der Führung nicht vertrauen, und schon gar nicht blind, sondern all ihre Handlungen und Entscheidungen auf ihre Vernünftigkeit überprüfen. Man sollte in einer wahrhaften Demokratie auch lernen, wie man den Gehorsam verweigert, wenn sich Entwicklungen anbahnen, die auf eine neuerliche Barbarei hinauslaufen.

Die Möglichkeit einer Faschisierung wohnt der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft nach wie vor inne. Die Morde von Halle, Kassel und Hanau haben uns diese Gefahr wieder einmal nachdrücklich vor Augen geführt. Auch in scheinbar stabilen demokratischen Verhältnissen überleben Mechanismen, die von einem fanatischen Demagogen in einer Zeit der Krisen und Umbrüche geweckt werden können, so dass ein Land nach wenigen Jahren nicht wiederzuerkennen ist.

Die von der Bundesregierung gegen die Pandemie ergriffenen Maßnahmen, die auch massive Eingriffe in die Grundrechte einschließen, sind zeitlich begrenzt und an den pandemischen Ausnahmezustand gebunden.

Wir müssen allerdings aufpassen, dass sie nicht nach dem Ende der Pandemie beibehalten und Teil einer neuen Normalität werden, von der manche Politiker schon länger träumen. Das Regieren per Notverordnung und Dekret und am Parlament vorbei könnte Schule machen. Wenn Grundrechtseinschränkungen sich verstetigen sollten, ist Widerstand geboten.

Populistische Propaganda

Im Zentrum der populistischen Propaganda steht gegenwärtig die Obsession einer Verschwörung: Die Infektionszahlen seien maßlos übertrieben und fast alle Journalisten gekauft, das Robert-Koch-Institut verbreite im Auftrag der Regierung Lügen und Bill Gates lenke die deutschen Medien, weil er vorhabe, unter dem Deckmantel der Schutzimpfung gegen Covid-19 den Menschen Mikrochips zur Überwachung unter die Haut zu setzen.

So lautet - kurz gefasst - die maßgebliche Ideologie der Anti-Corona-Maßnahmen-Bewegung und der sogenannten Querdenker.

Im aktuellen Fall bildet also nicht der Rassismus den Kristallisationspunkt, um den sich eine rechtsradikale Bewegung bildet, sondern diverse Verschwörungserzählungen und die angeblichen Sorgen um bürgerliche Freiheitsrechte, die durch das "Corona-Regime" eingeschränkt würden. Das scheint die Bewegung auch für Leute attraktiv zu machen, die sich vom kruden Rechtsradikalismus und offenen Antisemitismus abgestoßen fühlen.

Beim Versuch, soziale Bewegungen zu verstehen, kommt Psychologie immer dann ins Spiel, wenn es irrational zugeht und geraunt wird: "Wir wissen ja, wer dahintersteckt!"

Um zu verstehen, warum Arbeiter sich gegen miese Arbeitsbedingungen zur Wehr setzen und für höhere Löhne und Gerechtigkeit kämpfen, braucht man kein keine tiefgreifende Psychologie.

Das ergibt sich aus ihrer sozialen Lage, die sich ohne irrationale Brechungen als Klassenbewusstsein in ihre Köpfe umsetzt. Wenn Arbeiter hingegen Leuten folgen, die ihre Rechte mit Füßen treten und ihren Zorn gegen Außenseiter und Minderheiten lenken wollen, dann benötigt man Psychologie, um das begreifen zu können.

Max Horkheimer schrieb in seinem bahnbrechenden Aufsatz Geschichte und Psychologie: Dass Menschen überholte gesellschaftliche Bedingungen am Leben erhalten, statt sie durch eine höhere und rationalere Organisationsform zu ersetzen, ist nur möglich, "weil das Handeln numerisch bedeutender sozialer Schichten nicht durch die Erkenntnis, sondern durch eine das Bewusstsein verfälschende Triebmotorik bestimmt ist.

Je mehr das geschichtliche Handeln von Menschen und Menschengruppen durch Erkenntnis motiviert ist, umso weniger braucht der Historiker auf psychologische Erklärungen zurückzugreifen.

Je weniger das Handeln aber der Einsicht in die Wirklichkeit entspringt, ja, dieser Einsicht widerspricht, desto notwendiger ist es, die irrationalen, zwangsmäßig die Menschen bestimmenden Mächte psychologisch aufzudecken."

Die in der Folge der Corona-Ereignisse und der Impfkampagne um sich greifende Radikalisierung scheint mir so ein Fall zu sein, der nach einer psychologischen Deutung verlangt. Erste Ansätze dazu habe ich in meinem Text zur Sozialpsychologie des Impfens, der unter dem Titel Das Eigene und das Fremde [1] auf Telepolis erschienen ist, zu formulieren versucht.

Natürlich gibt es auch rationale Gründe, an der Impfung zu zweifeln, aber das Gros der ins Feld geführten Begründungen erfüllen das Horkheimer'sche Kriterium des Handelns gegen die eigenen, wohlverstandenen Interessen und die der Allgemeinheit.

Grenzen der individuellen Freiheit

Als verantwortliche und vernunftbegabte Bürger und Bürgerinnen werden wir immer Bezüge zwischen unseren individuellen Handlungen und dem Gemeinwesen herstellen müssen. So ist die Frage: Impfen oder Nicht-Impfen eben keine Privatsache, sondern besitzt eine gesellschaftliche Dimension.

Moral kommt ins Spiel, wenn es um die Beziehung zu den anderen geht. Ein Handeln wird nur dann moralisch vertretbar genannt werden können, wenn es seine Auswirkungen auf die anderen mit einbezieht. Freiheit ist nicht die Freiheit des Fuchses im Hühnerstall.

Das ist der Freiheitsbegriff der FDP und der Marktradikalen, der dem Sozialdarwinismus Tür und Tor öffnet. Wir dagegen sollten dabei bleiben: Meine Freiheit findet ihre Grenze an der Freiheit der anderen. Sie endet da, wo sie die anderer verletzt oder beeinträchtigt. Meine Entscheidung, mich nicht impfen zu lassen, gefährdet nicht nur meine eigene Gesundheit, was hinnehmbar wäre, sondern auch Gesundheit und Leben anderer.

Das mitzudenken nannte man früher einmal Solidarität. Was der entfesselte Markt unter den Menschen anrichtet, illustriert folgende Geschichte: Zwei Jungen begegnen irgendwo in den amerikanischen Wäldern einem aggressiven Grizzlybären.

Während der eine in Panik gerät, setzt sich der andere seelenruhig hin und zieht sich seine Turnschuhe an. Da sagt der in Panik Geratene: "Bist du verrückt? Niemals werden wir schneller laufen können als der Grizzlybär." Und sein Freund entgegnet ihm: "Du hast recht. Aber ich muss nur schneller laufen können als du."

Ambivalenz und Fanatismus

Jörg Schneider, seines Zeichens Publizist und Satiriker, hat in die Debatte über das Umsichgreifen von Verschwörungsideologien im Kontext der Pandemie (in einem Artikel für die Frankfurter Rundschau vom 11. Mai 2020) den Begriff der Herdendummheit eingeführt. In Analogie zum epidemiologischen Terminus Herdenimmunität bezeichnet er den Verblödungsgrad einer Bevölkerung, der nötig ist, um sie einigermaßen zuverlässig gegen Tatsachen, Wahrheit und Vernunft zu immunisieren.

Ich fürchte, wir werden die Herdendummheit deutlich früher erreichen, als die Herdenimmunität in Bezug auf eine Infektion mit dem Sars-CoV-2-Virus. Der Zustand der Herdendummheit wäre einer, in dem sich die Mehrheit der Bevölkerung in einem Bewusstseinszustand befände, der sich gegen die Korrektur durch die Wirklichkeit perfekt abgedichtet hätte.

Die Leute ließen sich wie ihr großes Vorbild Donald Trump durch Fakten nicht irritieren und verführen nach dem Motto: "Wenn zwischen meiner/unserer Meinung und den Tatsachen Differenzen auftreten: umso schlimmer für die Tatsachen!"

Herdendummheit entpuppt sich als denktechnisches Verhütungsmittel, das ihre Träger davor schützt, sich mit Wirklichkeit zu infizieren und von ihr aus dem Konzept bringen zu lassen. Herdenimmunität wird im Wesentlichen durch Impfung erreicht, Herdendummheit durch Konsum sogenannter sozialer Medien.

Fanatismus entsteht, wenn unsere Selbstwertregulation es nicht zulässt, Ambivalenzen zu tolerieren, sondern auf Spaltungen angewiesen ist. Das geschieht zurzeit massenhaft. Sogar alte Freundschaften gehen darüber in die Brüche. Jeder Mensch besteht aus einer mehr oder minder großen Anzahl von Teil-Personen, die unser Ich mühsam zusammenzuhalten und auszubalancieren versucht. Es existiert in uns ein Parlament der inneren Stimmen, die miteinander ringen und manchmal streiten.

Paul Auster hat das so beschrieben: "Jeder Mensch ist ein Spektrum. Den größten Teil unseres Lebens verbringen wir in der Mitte, aber es gibt Augenblicke, in denen wir zu den Rändern abdriften, und je nach Situation, abhängig von Stimmung, Alter und äußeren Umständen, wechseln wir auf dieser Skala die Farbe."

Das Wissen um die Koexistenz dieser Teilpersonen in uns ist eine Grundvoraussetzung der Demokratie: Ambivalenztoleranz. Ideal wäre es, wenn die Teilnehmer einer Diskussion sich in dem Bewusstsein auf die Diskussion einließen, dass, wie Hans-Georg Gadamer es ausgedrückt hat, "der andere Recht haben könnte".

Hass und Feindseligkeit breiten sich aus, wenn wir Teilpersonen externalisieren und dann im anderen bekämpfen. Die Exkommunikation des Zweifels ist die Basis des Fanatismus. Man will es eindeutig haben, wo Mehrdeutigkeit existiert und ausgehalten werden müsste. Zu diesem Thema hat Thomas Bauer ein lesenswertes Buch geschrieben, das bei Reclam erschienen ist und Die Vereindeutigung der Welt heißt.

Nebenbei bemerkt: Was gegen Fanatismus hilft, ist Humor. Amos Oz sagte in einer Vorlesung: "Ein Sinn für Humor ist ein starkes Heilmittel. Ich habe niemals im Leben einen Fanatiker mit Sinn für Humor gesehen, noch habe ich jemals gesehen, dass ein humorvoller Mensch zum Fanatiker geworden wäre, außer, der- oder diejenige hätte seinen Sinn für Humor verloren.

Fanatiker sind oft sehr sarkastisch und einige von ihnen haben einen sehr scharfsinnigen Sarkasmus, aber keinen Humor. Humor beinhaltet die Fähigkeit, über sich selbst zu lachen." Humor verhilft einem zu einer gewissen Distanz sich selbst und der Welt gegenüber, und so etwas ist immer gut für eine Verständigung. Die Wahrheit kann am Ende einer langen und umherschweifenden Suchbewegung zutage treten, wenn nicht die Wahrheit, so doch etwas, das ihr möglichst nahekommt.

Aufklärung gegen den Schlaf der Vernunft

Da kommt ein Bändchen gerade recht. Umberto Eco publiziert ja aus dem Grab weiter, und wir sollten froh darüber sein. Nachdem 2020 der Vortrag Der ewige Faschismus erschienen ist, ist nun – ebenfalls im Hanser-Verlag – ein Bändchen mit Essays zum Thema Verschwörungen erschienen.

Das Thema Verschwörungen, Intrigen und Komplotte durchzieht das Werk von Eco von Anfang an und hat ihn immer in besonderem Maße interessiert.

In einem Interview, das kurz vor seinem Tod entstanden ist, sagte Eco: "Die Verschwörungstheorie nimmt uns die Verantwortung. Wir haben keine Schuld, sondern jemand anders. Popper hat sogar gesagt, das Komplott übernimmt dieselben Funktionen, die in gewissen Religionen Gott hat. Wer hat all das angerichtet? Wir doch nicht! Das war jemand anderes.

Den Leuten gefallen Erklärungen, die über die einfachen Antworten hinausgehen. Warum ändert sich das Klima? Das ist unsere Schuld, weil wir zu viel Strom und Benzin verbrauchen. Doch das wäre zu einfach. Vielleicht steckt doch Bilderberg dahinter, oder Davos, irgendjemand, der hinter allem steckt." Eco empfiehlt Aufklärung als Therapie gegen den Schlaf der Vernunft, der nach wie vor Ungeheuer gebiert.


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