Das Eigene und das Fremde: zur Sozialpsychologie der Impfgegnerschaft
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Was die Impfdebatte mit der Angst vor dem bösen Wolf zu tun hat und wie Populisten sie in der Pandemie für ihre Zwecke dienstbar machen
Seit die Menschen nicht mehr an Gott glauben, glauben sie nicht etwa an nichts mehr, sondern an alles.
Britischer Schriftsteller und Journalist G.K. Chesterton (1874-1936)
Ein Déjà-vu-Erlebnis jagt das andere. Wir stecken mitten in der vierten Welle, die Infektionszahlen steigen seit Wochen, die Intensivstationen der Krankenhäuser stehen erneut vor dem Kollaps. Die Corona-Impfquote liegt in Deutschland zurzeit bei rund 65 Prozent. Ein Drittel der Bevölkerung ist ungeimpft, und ein nicht unerheblicher Teil dieses Drittels möchte es auch bleiben.
Für die Weigerung, sich impfen zu lassen, werden die unterschiedlichsten Gründe ins Feld geführt. Ich möchte mich auf einige konzentrieren, die dem Bewusstsein nicht unbedingt zugänglich sind, also aus dem Bereich des individuellen und kollektiven Unbewussten stammen.
Ich möchte einschränkend vorausschicken: Was folgt, sind Vermutungen, die sich zwar auf Erfahrungen stützen, aber doch immer Vermutungen und Deutungen bleiben. Ansonsten läuft man Gefahr, in den imperialen Gestus mancher Psychoanalytiker zu verfallen, die ihren Patienten mit der Haltung begegnen, die in Zeiten der Antipsychiatrie so beschrieben wurde: "Was du auch sagst, das, was du sagst, will etwas anderes sagen, und ich bin derjenige, der weiß, was du eigentlich sagen wolltest."
In den aufgeregten Debatten über die Motive der Impfverweigerer und -gegner ist die sozialpsychologische Dimension bislang zu kurz gekommen. Propaganda, hat der Soziologe Leo Löwenthal einmal gesagt, betreibe "umgekehrte Psychoanalyse".
Statt das dumpf im psychischen Untergrund Schwelende und die frei flottierenden Ängste über sich selbst aufzuklären und ins Bewusstsein zu heben, wie es psychoanalytische und aufklärerisch-demokratische Praxis wäre, eignet sich der Populist diesen Rohstoff so an, wie er bereitliegt, und setzt ihn für seine Zwecke in Gang.
Er bedient wieder entflammte Spaltungsneigungen in "nur gut" und "nur böse" und rückt den verunsicherten Menschen einen Feind zurecht, den sie für ihr Unglück verantwortlich machen können. Irgendjemand steckt dahinter!
Das paranoide Geraune hat Konjunktur, dankbar greifen die Leute nach absurdesten Pseudoerklärungen und fallen auf Ammenmärchen rein. Alles scheint besser, als die Ungewissheit eines Schwebezustands aushalten zu müssen, in dem wir uns nun mal befinden.
Mit Ambivalenzen leben zu können, gehört nicht zu den in dieser Kultur geförderten Tugenden. Das virulente Bedürfnis nach Eindeutigkeit kann zu einer Quelle von Fanatismus werden, denn Fanatismus speist sich aus der Verleugnung der Ambivalenz und der Verdrängung des Zweifels. Fanatiker, heißt es bei Georg Christoph Lichtenberg, "sind zu allem fähig, sonst aber zu nichts."
Kapitalistischer Vampirismus
Es wird berichtet, dass sich unter den Demonstranten, die sich gegen die staatlich angeordneten Corona-Maßnahmen wenden, Leute befinden, die zu der Qanon-Bewegung gehören. Diese hat sich in der Regierungszeit von Donald Trump in den USA entwickelt und millionenfach ausgebreitet.
Im Kern besteht die von dieser Gruppierung vorgetragene Verschwörungsideologie in der Behauptung, eine weltweit operierende Elite entführe Kinder, halte sie gefangen, foltere und ermorde sie, um aus ihrem Blut ein Verjüngungselixier herzustellen.
Auch in Deutschland soll Qanon inzwischen weit über einhunderttausend Anhänger haben. Wie kann das sein, dass Leute einen solchen Quatsch glauben? Die Verschwörungserzählungen müssen an etwas andocken, was viele Menschen in sich tragen.
Der Vampirismus, der den Eliten angedichtet wird, könnte die Projektion einer Erfahrung sein, die wir alle machen: Die kapitalistische Gesellschaft erhält sich am Leben, indem sie unsere Arbeitskraft und Lebensenergien einsaugt. Wir werden alle von den Verhältnissen vampirisiert und zombifiziert.
Die Revolution bestünde darin, gemeinsam die Vampire in die Flucht zu schlagen. Der Effekt von Verschwörungsideologien besteht darin, die Vampire aus der Anonymität der Verhältnisse herauszulösen und als verschobene Objekte dingfest und namhaft zu machen: "Die da sind es, die sich durch das Blut unserer Kinder verjüngen!"
Man ruft: Haltet den Dieb! – und lässt den wahren Dieb entkommen. Die wahren Diebe sind allerdings schwer auszumachen. Die Gewalt der Verhältnisse tarnt sich als Technik und versteckt sich hinter Sachzwängen.
Ähnlich könnte es mit der Verschwörungstheorie der Impfgegner funktionieren. Sie besagt, dass Bill Gates uns beim Impfen einen Chip einpflanzt, über den unser Denken und Verhalten ferngesteuert werden kann. Auch dieses Paranoid beinhaltet eine Spur von Wahrheit, nämlich die, dass wir alle mehr oder weniger fremdbestimmt leben und von anderen gesteuert werden.
Wir bilden uns ein, die eigenen Ziele zu verfolgen, dabei sind es Ziele, die man uns mit mehr oder minder sanften Methoden "eingeimpft" hat. Das Impfen ist deswegen ein so heikles und sensibles Thema, weil es tief in unseren Organismus eingreift.
Ein fremder Stoff dringt in uns ein und setzt Prozesse im Körper in Gang, die wir nur schwer oder gar nicht durchschauen. Das Impfen verändert uns. Und genau das scheint das Impfen zu einem Symbol zu machen für andere, pädagogische Strategien der Inbesitznahme. Erziehung implantiert einen fremden Willen in unsere Seelen, der sich dort einnistet wie ein Parasit.
Der Psychoanalytiker und Anarchist Otto Gross hatte ein feines Gespür für diese Vorgänge und sah im Kampf zwischen dem eigenen und dem fremden Willen, dem Eigensinn des Kindes und dem fremden Willen der Eltern, den zentralen seelischen Konflikt und die vielleicht entscheidende Machtfrage.
Das Kind ist dem fremden Willen von Geburt an ausgesetzt und wird in ein Korsett gepresst. Das Fremde gelangt auf dem Weg von Suggestionen in Körper und Seele des Kindes und kann dort zum Fremd-Körper, zum Widerpart, zum Gegen-Willen werden. Das Impfen lädt sich möglicherweise mit solchen uralten Konflikten auf, symbolisiert das Eindringen von etwas Fremdem in unsere Körper.