Das Eigene und das Fremde: zur Sozialpsychologie der Impfgegnerschaft

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Die weitgehend in Vergessenheit geratene abtrünnige Psychoanalytikerin Alice Miller sprach und schrieb vom "braven Kind". Das "brave Kind" ist ein Typus, den wir alle an uns selbst und anderen gut kennen. Das Kind wird brav, indem und weil es sich dem elterlichen Willen unterwirft.

Meist bleibt dem Kind keine andere Wahl. Die Angewiesenheit des Kindes auf seine Erwachsenen ist zu Anfang seiner Entwicklung beinahe absolut. Die Angst des Kindes vor dem Entzug der mütterlich/elterlichen Zuwendung lässt das Kind auf alle Bedingungen eingehen, die Mutter und Vater mit der Zuwendung verknüpfen.

Es will und muss ihnen gefallen. Es identifiziert sich mit den pädagogischen Quälgeistern und lässt fortan die Eltern und Erzieher in sich wachsen statt seiner selbst. Es verliert den Zugang zu den eigenen Gefühlen und fühlt, was die Eltern fühlen.

Und die haben meist die gesellschaftlich gewünschten und lizenzierten Gefühle. Das Kind wird ein anderes Kind, das Kind, das seine Eltern in ihm sehen und haben wollen. Es wird verfälscht und entwickelt, in der Sprache des englischen Psychoanalytikers D.W. Winnicotts, ein "falsches Selbst".

Die Katastrophe, die in der Zukunft gefürchtet wird, ist in Wahrheit längst eingetreten und liegt im Nebel einer frühkindlichen Amnesie verborgen. Bill Gates wäre also eine Chiffre, eine Tarnadresse, an die die Leute ihre Wut und ihre Empörung schicken, statt sich an die wahren Verursacher zu halten.

Die Eltern werden geschont und können weiter idealisiert werden. Im Inneren von uns allen tobt ein Kampf zwischen dem Eigenen und dem Fremden. Meist obsiegt schließlich das Fremde, das nach und nach als das Eigene empfunden wird. Aber es bleibt ein vages Gefühl der Selbstentfremdung und eine meiste namenlose Wut.

Diese Wut erhält durch Verschwörungstheorien einen Namen und eine Adresse. Darin besteht ihre psychologische Funktion. Die gesellschaftliche Funktion besteht darin, dass die wahren Verursacher der Misere geschont werden und die aggressiven Energien auf Ersatzobjekte verschoben werden. Wieder wird massenhaft gerufen: Haltet den Dieb!, und der wahre Dieb kann entkommen.

Archaische Spaltungen

In unser aller Bewusstsein sind Rudimente enthalten, die aus einer Zeit stammen, da sich unser Ich aus einem amorphen vor-ichlichen Zustand auskristallisierte. Die psychische Struktur bildet sich unter günstigen Bedingungen aus, anfänglichen Desintegration weicht ersten Ansätzen von Integration, aus Fragmenten wird peu à peu ein Ganzes, also das, was wir "Person" nennen.

Körperliche und seelische Prozesse, Inneres und Äußeres sind zunächst noch nicht getrennt und fließen ineinander. Archaische Spaltungen schützen das noch unintegrierte Ich davor, von Ängsten überflutet und aufgelöst zu werden. Die dadurch ausgelösten Aggressionen werden in "bösen Objekten" deponiert, um die "guten Objekte" vor ihrer zerstörerischen Kraft zu schützen.

Solche, wenn man so will, psychotischen Anteile besitzen wir alle, und je nach Persönlichkeitsstruktur verschaffen sie sich unter bestimmten Bedingungen Zugriff auf die Steuerung unseres Verhaltens.

Mit anderen Worten: Das zweijährige Kind, das sich im Dunklen fürchtet und glaubt, es könne jeden Moment vom bösen Wolf angefallen und verschlungen werden, ist im Erwachsenen noch immer anwesend.

Wenn der Angst- und Panikpegel in der Gesellschaft steigt, regredieren Massen von ansonsten vernünftigen Menschen auf die Stufe archaischer psychischer Vorgänge. Diese kollektive Regression stellt eine viel zu wenig beachtete Gefährdung der Demokratie dar; sie entzieht ihr die sozialpsychologischen Grundlagen und macht die Menschen anfällig für autoritäre oder gar faschistische Lösungen.

Götz Eisenberg ist ein deutscher Sozialwissenschaftler und Publizist. Er arbeitete als Gefängnispsychologe und ist Autor zahlreicher Bücher.