Von Ambivalenz, Zweifel und Fanatismus
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Über das aufklärerische Konzept der Skepsis in Zeiten der Pandemie und das reflexartige Hinterfragen von allem, was "von oben" kommt
Die Freiheit des Einzelnen endet dort, wo die Freiheit des Anderen beginnt.
Immanuel Kant
In meiner Welt sind Kompromisse ein Synonym für das Wort Leben. Und wo Leben ist, da gibt es Kompromisse. … Das Gegenteil von Kompromissen sind Fanatismus und Tod.
Amos Oz
Neulich ging ich durch meine Lieblingslandschaft im Gießener Hinterland. An einem Waldrand befindet sich eine Bank, die ich ansteuerte. Als ich meinen Rucksack absetzte und das Buch herausholte, das ich gerade las, fiel mir auf, dass jemand auf der Rückenlehne einen leuchtend gelben Aufkleber platziert hatte. In roten Lettern stand darauf das Wort Zweifel. Sonst nichts, kein Hinweis, woran man zweifeln soll und warum. Gerade weil das Wort Zweifel einfach so und für sich stand, griff es in meine Fantasie und regte mich zum Nachdenken an.
Eine Kardinaltugend der Aufklärung
Der Zweifel steht bei mir als Kardinaltugend von Aufklärung und Demokratie hoch im Kurs. "Es ist klug und weise, an allem zu zweifeln", propagierte Voltaire. Ohne den Zweifel wäre es nie gelungen, die Vorherrschaft des Glaubens über das Denken zu brechen und neue Horizonte zu öffnen. Der Aufkleber in meinem Rücken war frisch, stand also vermutlich im Kontext der Turbulenzen, für die sich der Begriff "Corona-Krise" eingebürgert hat.
Zweifel an der Triftigkeit der von der Regierung ergriffenen Maßnehmen, um die Verbreitung des Virus einzudämmen, begleiteten diese Maßnahmen von Anfang an. Und dagegen ist so lange nichts zu sagen, wie die Kritik sich im Bezugsrahmen der Vernunft bewegt und für vernünftige Argumente zugänglich bleibt.
Zweifel im Sinne der Aufklärung ist mit kritischer Urteilskraft verschwistert, was so viel heißt, dass der Zweifel auch auf sich selbst angewandt werden muss. Alles und jedes hat sich vor dem Richterstuhl der Vernunft zu rechtfertigen, auch der Zweifel. Zweifel ist kein Selbstzweck.
Reflexartig alles zu bezweifeln, was "von oben" kommt, ist töricht und infantil. Ein solcher einschnappender Zweifel-Reflex stellt die Kritik "auf dieselbe Stufe wie die Verdauung", hat der österreichische Kabarettist und Schauspieler Josef Hader unlängst gesagt: "Verdauung passiert frei von Argumenten und im Bauch. Das sollte Kritik nicht."
Ihr Sitz ist und bleibt der Kopf, und zwar ein Kopf, der zum kritischen Denken benutzt wird. Grundsätzlicher Zweifel schlägt in Fanatismus um. Dieser will Eindeutigkeit und übersichtliche Verhältnisse, während Rechtsstaatlichkeit und Demokratie auf Kompromiss und Mehrdeutigkeit beruht. Demokratie ist, im Gegensatz zu einem häufigen Missverständnis, keine dumpfe, homogene Gesinnungsgemeinschaft, sondern ein System von Verkehrsregeln, das die Entfaltung von Verschiedenheit und Dissens ermöglicht.
Der von Fall zu Fall notwendig werdende praktische Konsens soll durch Diskussion und Abstimmung hergestellt werden. Ein von kritischer Urteilskraft gespeister Zweifel ist ein elementarer Bestandteil der Demokratie und schützt vor Fanatismus jedweder Couleur. Denn Fanatismus, hat Max Horkheimer einmal gesagt, rührt aus der "Verbannung des Zweifels".
Man sollte also in einem demokratischen Gemeinwesen der Führung nicht vertrauen, und schon gar nicht blind, sondern all ihre Handlungen und Entscheidungen auf ihre Vernünftigkeit überprüfen. Man sollte in einer wahrhaften Demokratie auch lernen, wie man den Gehorsam verweigert, wenn sich Entwicklungen anbahnen, die auf eine neuerliche Barbarei hinauslaufen.
Die Möglichkeit einer Faschisierung wohnt der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft nach wie vor inne. Die Morde von Halle, Kassel und Hanau haben uns diese Gefahr wieder einmal nachdrücklich vor Augen geführt. Auch in scheinbar stabilen demokratischen Verhältnissen überleben Mechanismen, die von einem fanatischen Demagogen in einer Zeit der Krisen und Umbrüche geweckt werden können, so dass ein Land nach wenigen Jahren nicht wiederzuerkennen ist.
Die von der Bundesregierung gegen die Pandemie ergriffenen Maßnahmen, die auch massive Eingriffe in die Grundrechte einschließen, sind zeitlich begrenzt und an den pandemischen Ausnahmezustand gebunden.
Wir müssen allerdings aufpassen, dass sie nicht nach dem Ende der Pandemie beibehalten und Teil einer neuen Normalität werden, von der manche Politiker schon länger träumen. Das Regieren per Notverordnung und Dekret und am Parlament vorbei könnte Schule machen. Wenn Grundrechtseinschränkungen sich verstetigen sollten, ist Widerstand geboten.
Populistische Propaganda
Im Zentrum der populistischen Propaganda steht gegenwärtig die Obsession einer Verschwörung: Die Infektionszahlen seien maßlos übertrieben und fast alle Journalisten gekauft, das Robert-Koch-Institut verbreite im Auftrag der Regierung Lügen und Bill Gates lenke die deutschen Medien, weil er vorhabe, unter dem Deckmantel der Schutzimpfung gegen Covid-19 den Menschen Mikrochips zur Überwachung unter die Haut zu setzen.
So lautet - kurz gefasst - die maßgebliche Ideologie der Anti-Corona-Maßnahmen-Bewegung und der sogenannten Querdenker.
Im aktuellen Fall bildet also nicht der Rassismus den Kristallisationspunkt, um den sich eine rechtsradikale Bewegung bildet, sondern diverse Verschwörungserzählungen und die angeblichen Sorgen um bürgerliche Freiheitsrechte, die durch das "Corona-Regime" eingeschränkt würden. Das scheint die Bewegung auch für Leute attraktiv zu machen, die sich vom kruden Rechtsradikalismus und offenen Antisemitismus abgestoßen fühlen.
Beim Versuch, soziale Bewegungen zu verstehen, kommt Psychologie immer dann ins Spiel, wenn es irrational zugeht und geraunt wird: "Wir wissen ja, wer dahintersteckt!"
Um zu verstehen, warum Arbeiter sich gegen miese Arbeitsbedingungen zur Wehr setzen und für höhere Löhne und Gerechtigkeit kämpfen, braucht man kein keine tiefgreifende Psychologie.
Das ergibt sich aus ihrer sozialen Lage, die sich ohne irrationale Brechungen als Klassenbewusstsein in ihre Köpfe umsetzt. Wenn Arbeiter hingegen Leuten folgen, die ihre Rechte mit Füßen treten und ihren Zorn gegen Außenseiter und Minderheiten lenken wollen, dann benötigt man Psychologie, um das begreifen zu können.
Max Horkheimer schrieb in seinem bahnbrechenden Aufsatz Geschichte und Psychologie: Dass Menschen überholte gesellschaftliche Bedingungen am Leben erhalten, statt sie durch eine höhere und rationalere Organisationsform zu ersetzen, ist nur möglich, "weil das Handeln numerisch bedeutender sozialer Schichten nicht durch die Erkenntnis, sondern durch eine das Bewusstsein verfälschende Triebmotorik bestimmt ist.
Je mehr das geschichtliche Handeln von Menschen und Menschengruppen durch Erkenntnis motiviert ist, umso weniger braucht der Historiker auf psychologische Erklärungen zurückzugreifen.
Je weniger das Handeln aber der Einsicht in die Wirklichkeit entspringt, ja, dieser Einsicht widerspricht, desto notwendiger ist es, die irrationalen, zwangsmäßig die Menschen bestimmenden Mächte psychologisch aufzudecken."
Die in der Folge der Corona-Ereignisse und der Impfkampagne um sich greifende Radikalisierung scheint mir so ein Fall zu sein, der nach einer psychologischen Deutung verlangt. Erste Ansätze dazu habe ich in meinem Text zur Sozialpsychologie des Impfens, der unter dem Titel Das Eigene und das Fremde auf Telepolis erschienen ist, zu formulieren versucht.
Natürlich gibt es auch rationale Gründe, an der Impfung zu zweifeln, aber das Gros der ins Feld geführten Begründungen erfüllen das Horkheimer'sche Kriterium des Handelns gegen die eigenen, wohlverstandenen Interessen und die der Allgemeinheit.