Von Ambivalenz, Zweifel und Fanatismus
Seite 2: Grenzen der individuellen Freiheit
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Als verantwortliche und vernunftbegabte Bürger und Bürgerinnen werden wir immer Bezüge zwischen unseren individuellen Handlungen und dem Gemeinwesen herstellen müssen. So ist die Frage: Impfen oder Nicht-Impfen eben keine Privatsache, sondern besitzt eine gesellschaftliche Dimension.
Moral kommt ins Spiel, wenn es um die Beziehung zu den anderen geht. Ein Handeln wird nur dann moralisch vertretbar genannt werden können, wenn es seine Auswirkungen auf die anderen mit einbezieht. Freiheit ist nicht die Freiheit des Fuchses im Hühnerstall.
Das ist der Freiheitsbegriff der FDP und der Marktradikalen, der dem Sozialdarwinismus Tür und Tor öffnet. Wir dagegen sollten dabei bleiben: Meine Freiheit findet ihre Grenze an der Freiheit der anderen. Sie endet da, wo sie die anderer verletzt oder beeinträchtigt. Meine Entscheidung, mich nicht impfen zu lassen, gefährdet nicht nur meine eigene Gesundheit, was hinnehmbar wäre, sondern auch Gesundheit und Leben anderer.
Das mitzudenken nannte man früher einmal Solidarität. Was der entfesselte Markt unter den Menschen anrichtet, illustriert folgende Geschichte: Zwei Jungen begegnen irgendwo in den amerikanischen Wäldern einem aggressiven Grizzlybären.
Während der eine in Panik gerät, setzt sich der andere seelenruhig hin und zieht sich seine Turnschuhe an. Da sagt der in Panik Geratene: "Bist du verrückt? Niemals werden wir schneller laufen können als der Grizzlybär." Und sein Freund entgegnet ihm: "Du hast recht. Aber ich muss nur schneller laufen können als du."
Ambivalenz und Fanatismus
Jörg Schneider, seines Zeichens Publizist und Satiriker, hat in die Debatte über das Umsichgreifen von Verschwörungsideologien im Kontext der Pandemie (in einem Artikel für die Frankfurter Rundschau vom 11. Mai 2020) den Begriff der Herdendummheit eingeführt. In Analogie zum epidemiologischen Terminus Herdenimmunität bezeichnet er den Verblödungsgrad einer Bevölkerung, der nötig ist, um sie einigermaßen zuverlässig gegen Tatsachen, Wahrheit und Vernunft zu immunisieren.
Ich fürchte, wir werden die Herdendummheit deutlich früher erreichen, als die Herdenimmunität in Bezug auf eine Infektion mit dem Sars-CoV-2-Virus. Der Zustand der Herdendummheit wäre einer, in dem sich die Mehrheit der Bevölkerung in einem Bewusstseinszustand befände, der sich gegen die Korrektur durch die Wirklichkeit perfekt abgedichtet hätte.
Die Leute ließen sich wie ihr großes Vorbild Donald Trump durch Fakten nicht irritieren und verführen nach dem Motto: "Wenn zwischen meiner/unserer Meinung und den Tatsachen Differenzen auftreten: umso schlimmer für die Tatsachen!"
Herdendummheit entpuppt sich als denktechnisches Verhütungsmittel, das ihre Träger davor schützt, sich mit Wirklichkeit zu infizieren und von ihr aus dem Konzept bringen zu lassen. Herdenimmunität wird im Wesentlichen durch Impfung erreicht, Herdendummheit durch Konsum sogenannter sozialer Medien.
Fanatismus entsteht, wenn unsere Selbstwertregulation es nicht zulässt, Ambivalenzen zu tolerieren, sondern auf Spaltungen angewiesen ist. Das geschieht zurzeit massenhaft. Sogar alte Freundschaften gehen darüber in die Brüche. Jeder Mensch besteht aus einer mehr oder minder großen Anzahl von Teil-Personen, die unser Ich mühsam zusammenzuhalten und auszubalancieren versucht. Es existiert in uns ein Parlament der inneren Stimmen, die miteinander ringen und manchmal streiten.
Paul Auster hat das so beschrieben: "Jeder Mensch ist ein Spektrum. Den größten Teil unseres Lebens verbringen wir in der Mitte, aber es gibt Augenblicke, in denen wir zu den Rändern abdriften, und je nach Situation, abhängig von Stimmung, Alter und äußeren Umständen, wechseln wir auf dieser Skala die Farbe."
Das Wissen um die Koexistenz dieser Teilpersonen in uns ist eine Grundvoraussetzung der Demokratie: Ambivalenztoleranz. Ideal wäre es, wenn die Teilnehmer einer Diskussion sich in dem Bewusstsein auf die Diskussion einließen, dass, wie Hans-Georg Gadamer es ausgedrückt hat, "der andere Recht haben könnte".
Hass und Feindseligkeit breiten sich aus, wenn wir Teilpersonen externalisieren und dann im anderen bekämpfen. Die Exkommunikation des Zweifels ist die Basis des Fanatismus. Man will es eindeutig haben, wo Mehrdeutigkeit existiert und ausgehalten werden müsste. Zu diesem Thema hat Thomas Bauer ein lesenswertes Buch geschrieben, das bei Reclam erschienen ist und Die Vereindeutigung der Welt heißt.
Nebenbei bemerkt: Was gegen Fanatismus hilft, ist Humor. Amos Oz sagte in einer Vorlesung: "Ein Sinn für Humor ist ein starkes Heilmittel. Ich habe niemals im Leben einen Fanatiker mit Sinn für Humor gesehen, noch habe ich jemals gesehen, dass ein humorvoller Mensch zum Fanatiker geworden wäre, außer, der- oder diejenige hätte seinen Sinn für Humor verloren.
Fanatiker sind oft sehr sarkastisch und einige von ihnen haben einen sehr scharfsinnigen Sarkasmus, aber keinen Humor. Humor beinhaltet die Fähigkeit, über sich selbst zu lachen." Humor verhilft einem zu einer gewissen Distanz sich selbst und der Welt gegenüber, und so etwas ist immer gut für eine Verständigung. Die Wahrheit kann am Ende einer langen und umherschweifenden Suchbewegung zutage treten, wenn nicht die Wahrheit, so doch etwas, das ihr möglichst nahekommt.
Aufklärung gegen den Schlaf der Vernunft
Da kommt ein Bändchen gerade recht. Umberto Eco publiziert ja aus dem Grab weiter, und wir sollten froh darüber sein. Nachdem 2020 der Vortrag Der ewige Faschismus erschienen ist, ist nun – ebenfalls im Hanser-Verlag – ein Bändchen mit Essays zum Thema Verschwörungen erschienen.
Das Thema Verschwörungen, Intrigen und Komplotte durchzieht das Werk von Eco von Anfang an und hat ihn immer in besonderem Maße interessiert.
In einem Interview, das kurz vor seinem Tod entstanden ist, sagte Eco: "Die Verschwörungstheorie nimmt uns die Verantwortung. Wir haben keine Schuld, sondern jemand anders. Popper hat sogar gesagt, das Komplott übernimmt dieselben Funktionen, die in gewissen Religionen Gott hat. Wer hat all das angerichtet? Wir doch nicht! Das war jemand anderes.
Den Leuten gefallen Erklärungen, die über die einfachen Antworten hinausgehen. Warum ändert sich das Klima? Das ist unsere Schuld, weil wir zu viel Strom und Benzin verbrauchen. Doch das wäre zu einfach. Vielleicht steckt doch Bilderberg dahinter, oder Davos, irgendjemand, der hinter allem steckt." Eco empfiehlt Aufklärung als Therapie gegen den Schlaf der Vernunft, der nach wie vor Ungeheuer gebiert.