Von Sumy bis Rakka: Die blutigen Spuren der Luftkriege

Zerstörte "Geburtskirche des Theotokos". Bild: Eugene Symonenko/ Shutterstock
Luftangriffe fordern stets zivile Opfer. In Sumy starben jüngst 32 Menschen durch russische Raketen. Die Frage der Verantwortung ist komplex.
Der tragische Raketenangriff auf die ostukrainische Stadt Sumy am Palmsonntag hat erneut gezeigt, wie verheerend die Folgen von Luftangriffen auf zivile Gebiete sein können. Mindestens 32 Menschen, darunter auch Kinder, kamen bei dem Angriff ums Leben. Über 80 weitere wurden verletzt, einige von ihnen schwer. Die Raketen trafen das Stadtzentrum und zerstörten Wohnhäuser und zivile Infrastruktur.
Ukrainische Politiker und Präsident Wolodymyr Selenskyj verurteilten den Angriff scharf und sprachen von einem Kriegsverbrechen. Selenskyj forderte die Weltgemeinschaft auf, Russlands Vorgehen zu verurteilen und Druck auszuüben, um den Krieg zu beenden. Selbst US-Präsident Trump, der sich sonst eher zurückhaltend gegenüber Russland zeigt, bezeichnete den Angriff als "schrecklich" und einen Fehler der Russen.
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So tragisch jeder zivile Verlust ist, muss man bei der Bewertung solcher Angriffe dennoch vorsichtig sein. Luftangriffe in Kriegsgebieten bergen immer das Risiko von Kollateralschäden.
Solange nicht nachgewiesen ist, dass Zivilisten vorsätzlich ins Visier genommen wurden, kann man nicht automatisch von Kriegsverbrechen sprechen. Auch wenn die hohe Opferzahl in Sumy schockierend ist, lässt sich daraus nicht zwangsläufig eine Absicht ableiten.
Fragen – nicht nur in Bezug auf Russland
Ein Blick auf die jüngere Vergangenheit zeigt, dass auch die USA bei Militäreinsätzen immer wieder zivile Opfer zu beklagen hatten. Bei Luftangriffen und Drohnenattacken im Irak, in Syrien, im Jemen und in Pakistan kamen Schätzungen zufolge Tausende Zivilisten ums Leben.
Besonders verheerend waren die Folgen für die Bevölkerung im syrischen Rakka, das 2017 zum Schauplatz schwerer Kämpfe zwischen dem IS und einer US-geführten Koalition wurde.
Menschenrechtler zu Syrien
Menschenrechtsorganisationen gehen davon aus, dass die Luftschläge der Koalition allein in Rakka über 1.600 Zivilisten das Leben kosteten. Auch im irakischen Mossul forderten US-Luftangriffe 2017 Hunderte zivile Opfer. Offizielle US-Statistiken nennen deutlich niedrigere Zahlen, doch unabhängige Recherchen zeichnen ein anderes Bild.
Keines dieser Beispiele soll den Angriff auf Sumy relativieren oder rechtfertigen. Sie zeigen aber, dass zivile Opfer in Kriegsgebieten traurige Realität sind – egal von wem die Angriffe ausgehen. Natürlich ist jeder Tote einer zu viel. Doch die Komplexität militärischer Auseinandersetzungen macht es oft unmöglich, Kollateralschäden ganz zu vermeiden.
Keine vorschnellen Schuldzuweisungen
Anstatt mit Schuldzuweisungen vorschnell zur Stelle zu sein, sollte die Staatengemeinschaft alles daransetzen, den Krieg in der Ukraine durch Verhandlungen zu beenden.
Nur so können weitere Opfer auf allen Seiten verhindert werden. Gleichzeitig müssen die Angriffe auf Sumy und andere zivile Ziele lückenlos aufgeklärt werden. Sollten dabei vorsätzliche Attacken auf Zivilisten nachgewiesen werden, müssen diese als Kriegsverbrechen geahndet werden – unabhängig davon, von wem sie ausgingen.
Jedes zivile Opfer ist eines zu viel
Eines ist klar: Jedes zivile Opfer ist eine Tragödie und mahnt uns, die diplomatischen Bemühungen um eine Beilegung des Konflikts zu intensivieren. Pauschale Vorverurteilungen und Kriegsrhetorik bringen dabei nichts. Nur durch Dialog und Kompromissbereitschaft auf allen Seiten kann der Teufelskreis der Gewalt durchbrochen werden. Der Schutz der Zivilbevölkerung muss dabei oberste Priorität haben.
Im Schatten des Krieges in der Ukraine wurde schon früh deutlich, wie komplex die juristische Aufarbeitung von Luftangriffen ist. Im Herbst 2023 verloren im Ukrainischen in Kostjantyniwka bei einem Raketeneinschlag zahlreiche Zivilisten ihr Leben. Dieser Fall steht bis heute exemplarisch für die Herausforderungen des internationalen Rechts in Kriegszeiten.
Was sagen Völkerrechtler?
Schon damals äußerte sich Andreas Schüller, Rechtsanwalt und Experte für Völkerstraftaten, gegenüber Telepolis zu dem schwierigen Unterfangen der strafrechtlichen Verfolgung solcher Angriffe.
Die New York Times veröffentlichte damals Recherchen, die nahelegten, dass die Rakete von ukrainischer Seite abgefeuert wurde, was von Kiew vehement bestritten wurde. Schüller betonte die Bedeutung der Transparenz solcher Untersuchungen und verwies auf die Notwendigkeit, auch den Recherchen unabhängiger Medien nachzugehen.
Die Rolle des Internationalen Strafgerichtshofs
Die Ukraine hat das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs nicht ratifiziert, was laut Schüller Vertrauen in die Unabhängigkeit der juristischen Aufarbeitung untergraben könnte. Die ukrainische Zivilgesellschaft fordert daher eine Ratifizierung, um ein klares Bekenntnis zur unparteiischen Untersuchung aller Vorfälle zu setzen.
Schwierigkeiten der Beweisführung
Die Luftangriffe sind oft nicht strafrechtlich verfolgbar, weil das Recht, das sie regelt, relativ schwach ist und eher den Angreifer schützt als die Zivilbevölkerung. Schüller weist darauf hin, dass die Beweislast hoch ist. Es muss nachgewiesen werden, dass der Befehlshaber entweder gezielt Zivilisten angegriffen oder einen unverhältnismäßig hohen zivilen Schaden in Kauf genommen hat. Beides ist in der Praxis schwer zu bewerkstelligen.
Vorgeschichte und internationale Reaktionen
Die schnelle Zuweisung der Verantwortung an Russland durch das Auswärtige Amt (EAD) und den Europäischen Auswärtigen Dienst, wie von Telepolis berichtet, zeigt, dass die politische Dimension solcher Ereignisse nicht zu unterschätzen ist. Jetzt sind es vor allem politische Akteure, die strafrechtliche Einordnungen vornehmen.
Es gab von Beginn des Krieges an zahlreiche russische Luftangriffe auf zivile Gebäude, doch jeder Fall müsse individuell betrachtet werden, um zu einer fundierten Einschätzung zu gelangen, so Schüller.
Die juristische Aufarbeitung von Luftangriffen in Kriegsgebieten bleibt eine Herausforderung, die durch politische Interessen, Beweisschwierigkeiten und internationale Rechtslücken erschwert wird. Die Situation in der Ukraine verdeutlicht die Notwendigkeit einer unabhängigen und transparenten Untersuchung sowie einer stärkeren internationalen Zusammenarbeit, um Gerechtigkeit für die Opfer von Kriegsverbrechen zu erlangen.