Von der Theorie zur Praxis

Zukunft der Demokratie Teil II

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Letztes Jahr erstaunte ICANN die globale Internet Community mit einem kühnen Plan. Sie verkündete: Im Internet wird es weltweite Wahlen geben. Als undemokratisch wurde das waghalsige virtuelle Demokratieprojekt kritisiert, als dilettantischer Legitimationsbetrug verhöhnt und als prinzipiell nicht durchführbar abgelehnt.

Doch jetzt zeichnen sich genauere Konturen der Wahl ab, und die Durchführbarkeit des global-demokratischen Politikversuches erscheint realistischer : ICANN hat schon über 16 000 Mitglieder - also potentielle Wähler - gefunden, verteilt auf alle Kontinente, und von Tag zu Tag erscheint der Wahlmechanismus ausgefeilter: Von Regeln zur Aufstellung der Kandidaten bis zur weltweiten Versendung der PINs zur Identifikation der Netizens reicht das Spektrum.

Die Theorie

Letztes Jahr wurde erstmals in der Menschheitsgeschichte das kosmopolitische Utopia einer weltumspannenden, demokratischen Verankerung einer internationalen Organisation nicht nur angedacht, sondern konkretisiert. ICANN verkündete auf seiner Internetseite: "Dies wird das erste Mal sein, dass jedes interessierte Mitglied der globalen Internetgemeinschaft die Möglichkeit hat, an Onlinewahlen für Internetpolitiker teilzuhaben".

Damals stellten sich Fragen über Fragen: Kann das Netz so vom Motor und Sinnbild der Globalisierung zum Paradigma einer kosmopolitischen und transnationalen Demokratie avancieren, die weltweites demokratisches Regieren - Demokratic Global Governance - mit neuen Mitteln erlaubt? Ist ICANN nicht nur Beispiel für eine vernetzte, supranationale Institution, die als Antwort auf den Steuerungsverlust einzelner Nationalstaaten pragmatische, effiziente und effektive Lösungsmöglichkeiten anbietet, sondern auch eine im demokratischen Sinne legitime Lösung: durch Einbeziehung der Nutzer? Theoretisch vielleicht, aber praktisch sprach zuviel dagegen: Wie können weltweite Wahlen organisiert werden? Wie findet ICANN sein Wahlvolk und die Kandidaten?

In der "Verfassung" der ICANN ist festgelegt, dass neun Direktoriumsmitglieder von einem "At-Large- Membership" gewählt werden müssen - also einer Art digitaler Weltbürgerschaft. Wie sich die Internetbürgerschaft definiert und die weltweite Wahl organisiert werden wird, war jedoch völlig unklar: Wie kann eine weltweite Wählerschaft aufgestellt und organisiert werden? Wer ist überhaupt ein Bürger des Internet? Welches Wahlrecht wird angewandt? Wie werden die Kandidaten nominiert? Wie können die wichtigsten Regeln einer demokratischen Wahl - Transparenz, Gleichheit und direkte Repräsentation - im globalen Internet erreicht werden? Ist das überhaupt sinnvoll?

Die Praxis: Kann eine weltweite Wählerschaft aufgestellt und organisiert werden?

Das Internet hat sich vom elitären Medium zum Alltagsgegenstand gewandelt. Dem zur Folge ist das Netz zu einer höchst heterogenen Ansammlung aller möglichen Arten von Nutzern geworden: simplen Datentouristen, virtuellen Einkaufsbummlern, Info-Junkies, Netzarbeitern, extremen, jungen, normalen, alten Menschen mit unterschiedlichem kulturellen Hintergrund. Das Netz gleicht also immer mehr der Realität, mit dem Unterschied allerdings, dass es weitgehend nationale Grenzen ignoriert. Was ist also der kollektive "demos" des Cyberspace? Wie findet ICANN seine Wähler?

Zum Einen ist niemanden klar, was der kollektive Willen der Netzbürger ist, und zum Anderen interessiert sich nur ein Bruchteil der über 200 Millionen Internetnutzer für ICANN. Was nun? Erstens, ICANN kann nicht an realweltlichen Demokratiemaßstäben gemessen werden, da im Cyberspace eine reduzierte Demokratie, im Sinne einer Verbraucher- und Interessensdemokratie, angemessen und praktikabel erscheint. Um diesem zwar reduzierten, aber immer noch hohen Anspruch zu genügen, verfiel ICANN auf internettypische "Grassroot-Mobilisierungs-Methoden": Sie suchte weltweit Gruppen von Freiwilligen, die in regionalen "Membership-Implementation-Task-Forces" die Internet Community mobilisieren und sensibilisieren sollten.

Schwierig ist vor allem, dass diesen Gruppen als einzige Handlungsressource persönliche Motivation zur Verfügung steht. Reale Treffen sind also zur Koordination ausgeschlossen - diese kosten Geld. Es bleiben Mailing-Listen, die von ICANN für jede Task-Force kreiert wurden. Der deutsche Teil der europäischen Task-Force, hat so etwa einen Wahlaufruf bei der Spiegel-Initiative geposted, während andere Mitglieder bei einem Treffen der RIPE in Budapest einen Empfang zur Bekanntmachung des "At-Large- Projektes" organisierten.

Insgesamt erscheinen traditionelle Wege der Medienökonomie vielversprechender, um ein größeress Publikum zu erreichen. Die von Spiegel- Online gestartet Initiative i-can-election, sowie die Initiative der Bertelsmann Stiftung Democratic Internet haben dazu geführt, dass fast 70 Prozent der europäischen ICANN-Mitglieder, mittlerweile fast 7000, aus Deutschland kommen. Positiv für Deutschland, doch zugleich auch negativ, denn die unproportionale Verteilung birgt die Gefahr, den intendierten transnationalen Charakter der europäischen Wahl zu zerstören und zum Selbstläufer zu werden (ICANN-Wahlen bislang dominiert von Deutschen und US-Amerikanern).

Ein Beispiel par excellence für die Macht traditioneller Medien über das Internet, ist die weltweite Umfrage des Time-Magazines nach dem "Man of the Century". Nachdem die türkischen Medien die Umfrage zum nationalen Interesse erklärt hatten, wurde "Kemal AtaTurk" zum wichtigsten Wissenschaftler, Philosophen und Literaten des Jahrhunderts. Potentielle Wähler werden also gefunden und finden ICANN, doch ob diese eine gemeinsame Interessenlage haben oder nur spontan Mitglied geworden sind, wird sich erst bei der Wahl selbst zeigen.

Wie werden die Kandidaten nominiert?

Es gibt zwei Wege, um ein Kandidat für die Wahlen der ICANN zu werden: durch ein Nominierungs-Komitee, das "hochqualifizierte" Kandidaten auswählt, und durch "Selbst-Nominierung", der jedem Internetnutzer freisteht.

Das Nominierungs-Komitee, bestehend aus fünf Personen, die von ICANN ausgewählt wurden, nominiert Kandidaten nach eigenen Kriterien. Dieses Prozedere entspricht sicherlich nicht demokratischen Forderungen von Gleichheit und Freiheit. Es hat einige Auswahlkriterien entwickelt, an denen jeder Vorgeschlagene gemessen wird. An erster Stelle steht: "Reputation für Integrität und harte Arbeit". Während dieses Kriterium leicht zu erfüllen ist, werden "Erfahrung mit der Architektur des Netzes" und "spezifische Erfahrungen mit Domainnamen und IP-Adressen" den Kandidatenkreis erheblich einschränken. ICANN verfolgt hiermit weiterhin das Ziel, eine technische Organisation zu sein, obwohl sich dann die Frage stellt, warum überhaupt Wahlen durchgeführt werden. Außerhalb der ICANN besteht mittlerweile der Konsens: Wer Vergaberegeln für Domainnamen entwickelt, trifft Entscheidungen mit politischen und wirtschaftlichen Konsequenzen.

Deshalb wird von der ICANN-Community auch der zweite Nominierungsweg favorisiert. Doch sind die Hürden, um auf die virtuelle Wahlliste via Selbst-Nominierung zu kommen, für "Möchtegern-Kandidaten" ziemlich hoch. Momentan sehen die Regeln vor, dass jeder "Möchtegern-Kandidat" zehn Prozent des gesamten Internetwahlvolkes seiner Region hinter sich versammelt, um auf dem Wahlzettel (oder besser: Wahlwebsite) zu erscheinen. Da es in Europa mittlerweile über 7000 Mitglieder der ICANN gibt, müsste also jeder Kandidat mindestens 700 Unterstützer über die verschlungenen Wege des weltweiten Netzes finden. ICANN hat diese Regeln unter Self Nomination geposted. Bis zum fünften Juni hatten alle interessierten Nutzer die Möglichkeit, im "Public-Comment-Forum" Kommentare abzugeben und Kritik an den vorgeschlagenen Regeln zu üben.

Wie soll er zehn Prozent Unterstützung finden? ICANN will jedem, der ein Kandidat werden will, eine eigene Internetseite zur Präsentation seines Wahlprogramms und persönlichen Hintergrundes zur Verfügung stellen. Der selbstberufene Kandidat soll jedoch nicht die Möglichkeit haben, alle Mitglieder der ICANN mit weltweiter Wahlwerbung zu "spammen", die Email-Adressen der ICANN-Mitglieder bleiben geheim. Da jedoch auch die einzelnen ICANN-Mitglieder bisher noch keine Möglichkeit haben, sich auszutauschen, etwa in "Mitgliederforen", oder eigenen Mailing-Listen, erscheint die Möglichkeit zur Entwicklung mehrheitsfähiger politischer Programme von Kandidaten und damit auch von mehrheitsfähigen Entscheidungen der Mitglieder unterentwickelt.

Welches Wahlrecht wird angewandt?

Die Vorraussetzungen für jeden, der Wähler der ICANN werden will, sind erst einmal minimal. Man muss jedoch zuerst Mitglied der ICANN werden, erst dann ist man ein ICANN-Bürger mit Stimmrecht. Wer älter als 16 Jahre ist, eine Online-Mitglieds-Bewerbung ausfüllt, eine Email-Adresse und eine reale und verifizierbare Postadresse hat, kann sich unter members.icann.org registrieren und somit ein ICANN-Wähler werden.

Letzte Woche wurden die ersten PINs mit der Post verschickt, mit denen der interessierte "Fast-Netizen" seine Mitgliedschaft aktivieren, und später auch wählen kann. Unklar ist noch, nach welchem Wahlrecht die ICANN-Mitglieder ihr Stimmrecht ausüben können. Vermutlich kommt aber nur ein "winner-takes-all-system" nach amerikanischen Vorbild in Frage, da jede der fünf ICANN-Wahlregionen nur einen Direktor wählt. Minderheiten werden also nicht repräsentiert. Während letztes Jahr selbst diese einfachen Punkte noch völlig offen waren, erscheint nun die "technische" Durchführung der Wahl praktikabel.

Noch immer ungeklärt allerdings ist, wie viele Kandidaten insgesamt auf die Wahlliste (ballot) kommen. Dies ist von Bedeutung, weil die Anzahl der Kandidaten auf der Liste auch das Ergebnis der Wahl beeinflussen. Eine zu große Anzahl von Kandidaten würde bei der relativ geringen Anzahl von Wählern die Heterogenität der transnationalen Mitgliedschaft potenzieren und zu einer sehr geringen prozentualen Verteilung der Stimmen auf den einzelnen Kandidaten führen. Wenn zum Beispiel zwanzig Kandidaten in Europa zur Wahl stehen, und ein Kandidat, der 15 % der abgegeben Stimmen erhalten hat, gewinnt, könnte das zum Legitimationsproblem werden. Soll es deshalb eine Stichwahl geben? Eine zu geringe Anzahl von Kandidaten hingegen - etwa zwei bis drei - würde die Auswahlmöglichkeit signifikant reduzieren und somit auch die demokratische Grundanforderung einer "echten Auswahl" zur Farce werden lassen.

Der Praxistest: Weltweite Wahlen

Während ein Kriterium bei der geplanten Selbst- Nominierung ist, dass ein "Möchtegern-Kandidat" aus mindestens zwei Ländern unterstützt wird, um den internationalen, grenzüberschreitenden Charakter der Wahl und des Internets zu entsprechen, ist noch unklar, ob ein solches Kriterium auch bei der Wahl eingeführt wird. Wahrscheinlich ist, dass Deutsche hauptsächlich einen deutschen Kandidaten wählen werden. Wie geht man mit diesem Problem um? Wie geht man mit der ungleichen geographischen Verteilung der Wählerschaft um? Wie wird die Online-Wahl letztlich funktionieren? Nach populistischen Regeln?

INsgesamt jedoch werden die Probleme der Online-Wahl geringer: Es gibt eine Wählerschaft, Regeln zur Kandidatenauswahl, Online-Mechanismen zur Wahlauswertung sowie eine wachsende Zahl Freiwilliger und Initiativen, um die Wahl zu unterstützen.

Am 1. Oktober endet die erste Stufe des globalen Demokratieversuches. Dann ist gewählt worden. Erstmalig online und weltweit. Nach der Wahl wird ICANN auch gleich damit beginnen, eine Studie durchzuführen, die das Ergebnis der Wahlen evaluiert. Inwieweit die wichtigsten Regeln einer demokratischen Wahl - Transparenz, Gleichheit und direkte Repräsentation - im globalen Internet erreicht werden konnten, werden wir dann erfahren.