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Von der Verführungskraft von Geschichten

Bild: Pexels

Nicola Gess über das postfaktische Zeitalter, Halbwahrheiten, Vertrauenskrisen, Claas Relotius und Verschwörungstheorien

Frau Gess, Ihr Buch "Halbwahrheiten. Zur Manipulation von Wirklichkeit" ist gerade im Verlag Matthes & Seitz erschienen [1]. Sie haben aber schon 2019 an der Universität Basel ein Forschungsprojekt zum Thema Halbwahrheiten im postfaktischen Zeitalter gestartet und jetzt ein Buch zum Thema vorgelegt. Was war für Sie der Anlass damals, das Thema bearbeiten zu wollen?
Nicola Gess: Der Anlass war für mich die Wahl von Donald Trump und die Brexit-Entscheidung 2016. In den Wahlkämpfen konnte man beobachten, dass die Unterscheidung zwischen Lüge und Wahrheit kaum noch eine Rolle zu spielen schien. Das hat mich irritiert, und ich habe mich gefragt, wie dieser sogenannte "postfaktische Diskurs" eigentlich funktioniert.
Schnell wurde mir klar, dass ich auch als Literatur- und Kulturwissenschaftlerin etwas zur Beantwortung dieser Frage beitragen kann, weil für den postfaktischen Diskurs das Universum der Spekulationen und Fiktionen eine ganz wichtige Rolle spielt. Und dann kam die Überlegung auf, sich mit einer besonderen Form der Falschaussage, nämlich mit Halbwahrheiten auseinanderzusetzen, weil sie die Brücke von einem faktenbasierten Diskurs zum Raum des Imaginären, auch des politischen Imaginären, schlagen.
So ist es dann zu dem interdisziplinären Projekt gekommen, an dem als Kooperationspartner auch der Soziologe Oliver Nachtwey und der Kommunikationswissenschaftler Cornelius Puschmann beteiligt sind.
Sie gehen auch in Ihrem Buch davon aus, dass wir in einem postfaktischen Zeitalter leben. Wann hat denn für Sie dieses postfaktische Zeitalter begonnen und was zeichnet es aus?
Nicola Gess: Der Begriff des Postfaktischen war 2016 omnipräsent, er wurde dann auch zum Wort des Jahres gewählt. Die Konjunktur des Begriffs zeigt, dass wir es mit einem zeitgeschichtlichen Phänomen zu tun haben, oder zumindest mit einem Phänomen, das vielen Leuten zu dieser Zeit erstmals aufgefallen ist, sicherlich bedingt durch die zwei schon von mir angesprochenen Wahlkämpfe.
Man muss sich aber zugleich klar machen, dass der Begriff des postfaktischen Zeitalters zwar suggeriert, dass das etwas ganz Neues sei, dass es aber aus einer größeren geschichtlichen Perspektive natürlich kein grundsätzlich neues Phänomen ist.
Das "Postfaktische" ist vielmehr ein typisches Phänomen für Krisenzeiten, vor allem für Wissens- und Vertrauenskrisen. Im Projekt untersuchen wir daher auch andere Zeiten wie die Weimarer Republik oder auch die Zeit der preußischen Reformen, in denen man ähnliche Tendenzen beobachten kann.
Warum das "Postfaktische" jetzt so virulent ist, hat natürlich viele Gründe. Sicherlich spielen zum Beispiel mediale Entwicklungen eine wichtige Rolle, in diesem Fall die sozialen Netzwerke, die für Halbwahrheiten eine Art Brandbeschleuniger sind.
Der Begriff des Postfaktischen entstand wohl so um 2004 herum. Von Ralph Keyes ist zumindest in diesem Jahr ein Buch erschienen, das zwar nicht postfaktisch hieß, sondern Post-Truth. Seine These ist einfach: Es gab mal eine Zeit, in der es Wahrheit und Falschheit gab - und jetzt nicht mehr. Ist das nicht ein wenig simpel gedacht?

Sie sagten ja, dass das Postfaktische mit einer Verunsicherung zu tun habe. 2004 war nach 9/11, das das Selbstverständnis der USA erschüttert hat, und auch nach dem Beginn des Irak-Kriegs, den die Regierungen der USA und Großbritannien durch von ihren Geheimdiensten gezimmerte Propagandalügen über das angebliche Vorhandensein von Massenvernichtungswaffen legitimiert hatten.

Danach erschien dieses Buch über Post-Truth. Reicht diese Unsicherheit dann schon so weit zurück? In dieser Zeit nach 9/11 kam auch die Kritik an den Mainstreammedien auf, während gleichzeitig die Online-Medien stärker wurden.

Nicola Gess: Die Terroranschläge vom 11. September 2001 sind ein gutes Beispiel für eine Krisensituation, die das Aufkommen und die Verbreitung von Verschwörungstheorien begünstigt hat. Der Irak-Krieg ist hingegen ein gutes Beispiel dafür, wie geheimdienstliche Falschinformationen und politische Fehlentscheidungen zu Vertrauensverlust in der Bevölkerung führen.
Entsprechend muss der Irakkrieg auch oft als anekdotischer Fehlschluss dafür herhalten, dass man Politikern und Medien generell nicht vertrauen könne. Einen anderen Vertrauensverlust hat zum Beispiel auch die Finanzkrise zur Folge gehabt, in der viele Leute die Erfahrung machen mussten, dass große Banken gerettet wurden, während sie ihr Haus oder ihren Job verloren haben.
Aber um auf Ihre Frage zurückzukommen, ob diese Konjunktur noch weiter zurückreicht: In meinem Buch arbeite ich zum Beispiel mit Hannah Arendt, die schon in den 1960er Jahren über Lüge und Wahrheit in der Politik geschrieben hat. Sie hat sich da sehr beunruhigt gezeigt, dass der Unterschied zwischen Meinungen und Tatsachen zu verschwimmen droht.

"Man muss zwischen verschiedenen Formen und Funktionen von Falschinformationen unterscheiden"

Wenn man ins Historische geht, gab es nicht nur Hannah Arendt nach dem Zweiten Weltkrieg, sondern auch den einflussreichen Journalisten und Präsidentenberater Walter Lippmann im Ersten Weltkrieg. Er hat zusammen mit anderen im Auftrag des damaligen Präsidenten Wilson, der 1917 ins Amt kam, weil er sich nicht am Krieg beteiligen wollte, ein Propagandabüro begründet, um dann Wilsons Kehrtwende zum Kriegseintritt den eigentlich kriegsunwilligen Amerikanern schmackhaft zu machen.

Solche Beeinflussungen der Öffentlichkeit durch den Staat treten immer wieder auf. Ich glaube nicht, dass man das nur anekdotisch nennen kann. Zum Beispiel hat das Pentagon während des Irakkriegs immer wieder versucht, solche Propagandabüros für die sogenannte Strategische Kommunikation einzurichten. Das wird gegenwärtig auch wieder von der EU und der Nato gemacht, die Abteilungen für Strategische Kommunikation eingerichtet haben, um angeblich Desinformation zu bekämpfen, was aber natürlich nur sehr einseitig geschieht, die eigenen Halbwahrheiten werden nicht thematisiert.

2003 war zum Kriegsbeginn eine weitgehend geschlossene Medienlandschaft vorhanden, die die Lügen der Regierung einfach weitergab. Kritik oder Skepsis gab es zunächst nur im Internet, bis man schließlich nicht mehr umhin konnte zuzugeben, einer Lüge aufgesessen zu sein.

Das war die Zeit, in der langsam nicht mehr nur die traditionellen Medien die öffentliche Meinung prägten, sondern zusätzlich andere Stimmen über das Internet Gehör fanden. Die Erschütterung des Meinungsmonopols dürfte auch zur Verunsicherung beigetragen und sie verstärkt haben.

Nicola Gess: Das sind viele Themen, ich greife einfach mal eines heraus. Ich halte es für problematisch, wenn Sie Faktenchecks und die Bekämpfung von Desinformation in die Nähe zur Propaganda rücken. Da muss man meiner Ansicht nach sehr genau hinschauen und besser differenzieren.
Das gilt auch für andere Punkte. Zum Beispiel war die Berichterstattung zur Zeit des Irakkriegs keineswegs so unipolar, wie Sie sagen. In den deutschen Medien wurde beispielsweise ganz anders und deutlich kritischer darüber berichtet als in den amerikanischen. Dazu gibt es inzwischen viele Studien.
Es ist generell wichtig, mit Pauschalisierungen vorsichtig zu sein; vor allem dann, wenn sie eigene Voreinstellungen bestätigen. Man kommt nicht umhin, kritisch zu prüfen; also zum Beispiel im Hinblick auf die mediale Berichterstattung immer wieder genau zu schauen, was ist das für ein Artikel, wie wird hier gearbeitet, auf welche Quellen beruft er sich, kann man einen Faktencheck durchführen, was ist belegbar, was nicht, usw.
Und man muss natürlich auch zwischen verschiedenen Formen und Funktionen von Falschinformationen unterscheiden. Ich habe zum Beispiel über Halbwahrheiten gearbeitet, die nicht identisch mit Fake News sind. Falschnachrichten können auf Halbwahrheiten basieren, sie können aber auch komplette Lügen sein, Halbwahrheiten können in Nachrichtenform, aber genauso gut in anderen Kontexten auftauchen.

Wenn die Unterscheidung zwischen Meinung und Tatsache hinfällig wird, erodiert unser Sinn dafür, was wirklich ist und was nicht

Es wäre interessant zu überlegen, warum jetzt nicht nur eine Verunsicherung zu herrschen scheint, sondern auch, warum der Kampf gegen Desinformation so wichtig geworden ist. Das fing 2014 wahrscheinlich mit dem Ukraine-Konflikt an. Da kam wieder die Kritik an den Mainstreammedien auf. Was sich wirklich abspielte, war undurchsichtig.

Es wurden dann auch Institutionen gegründet, bei denen Militärs und Geheimdienste doch eine Rolle spielten, die dann Faktenchecks machen sollen, was meist einseitig geschah. Es wurden auch Begriffe geprägt wie "waffenförmige Information". Das ist so ein Begriff, der seit 2014 in den Köpfen im Rahmen hybrider Kriegsführung herumspukt. Es wird also der Diskurs wahnsinnig aufgeladen und zu einer Art Kriegsgebiet gemacht, in dem Worte zu tödlichen Waffen werden können.

Deshalb muss man Schutzeinrichtungen aufbauen, um diese Desinformation abzuwehren. Das scheint mir eine hoch aufgeladene ideologische Geschichte zu sein. Wie arbeitet man in diesem Feld eigentlich als Wissenschaftlerin, die versucht, neutral oder objektiv die Phänomene zu untersuchen?

Nicola Gess: Ich habe mich mit dem Ukraine-Konflikt nicht beschäftigt und kann mich dazu darum nicht äußern. Aber ganz generell gesprochen, gibt es natürlich auch den Missbrauch des Faktenchecks. Doch nur, weil das so ist, heißt das nicht, dass man ihn dann auch gleich ganz sein lassen kann. John Oliver, der amerikanische Late-Night-Moderator, hat für eine solche Art der Argumentation den schönen Begriff des What-Aboutism geprägt.
Warum ist der Faktencheck wichtig? Hannah Arendt spricht vom Wirklichkeitssinn. Wenn die Unterscheidung zwischen Meinung und Tatsache hinfällig wird, erodiert für sie unser Sinn dafür, was wirklich ist und was nicht. Wirklichkeit meint bei Arendt das, was der Fall ist. Sie spricht von Tatsachenwahrheiten, die natürlich nicht einfach da, sondern durch vielfache Evidenz geprüft, bestätigt und in diesem Sinne hergestellt sind.
Auf der Grundlage dieser geteilten Wirklichkeit findet dann eine diskursive Meinungsbildung statt, die für Arendt das Wesen demokratischer Politik ausmacht. Wenn diese Grundlage erodiert, geraten damit also auch demokratische Prozesse ins Wanken. Das ist also nicht auf die leichte Schulter zu nehmen.
Und warum ist das gerade jetzt so virulent? Man hat zum Beispiel an der Präsidentschaft von Donald Trump beobachten können, wie durch das Ignorieren des Kriteriums der Wahrhaftigkeit demokratische Prozesse ausgehöhlt werden können. Eine wichtige Rolle spielen aber auch die sozialen Medien, die die Entstehung von Desinformation begünstigen, indem auf manchen Plattformen Verkürzungen, Übertreibungen und Emotionalisierungen geradezu strukturell erzwungen werden.
Dazu ist man hier auf Kickzahlen aus, es geht um Aufmerksamkeit, nicht um richtige Berichterstattung, man ist nicht an einen Pressekodex gebunden usw. Auch das hat auch zu der Notwendigkeit beigetragen, hier aufklärend tätig zu werden, aber auch, sich zu fragen, warum bestimmte Geschichten so gut verfangen, was ihre innere Logik ist.

Fiktionscheck als Ergänzung des Faktenchecks

Sie haben, um daran anzuknüpfen, in Ihrem Buch auch über Claas Relotius geschrieben, den ehemaligen Journalisten und Geschichtenerzähler, der sehr anerkannt war, in vielen der sogenannten Qualitätsmedien schrieb und auch mit Preisen bedacht wurde. Der Spiegel etwa hat immer behauptet, dass alle von ihm verbreiteten Informationen einem Faktencheck unterzogen werden, bevor sie publiziert werden. Trotzdem konnte Relotius dort jahrelang seine Schwindelgeschichten verbreiten.

Nachdem der Schwindel aufgedeckt wurde, ist es ja leicht festzustellen, dass er hier oder dort gelogen, geschwindelt, etwas hinzugedichtet oder Halbwahrheiten verbreitet hat. Aber normalerweise lesen wir ja etwas im Spiegel oder anderswo, ohne zu wissen, ob das Fake, Halbwahrheit oder Fakt ist. Wie kann ich denn erkennen, dass etwas faktenbasiert, eine Halbwahrheit oder bewusst verfälschend ist?

Als normaler Leser habe ich keinen Zugang zu den wissenschaftlichen Quellen, wenn sie denn vorhanden sind, ich habe auch keinen Zugang direkt zur Realität, weil ich nicht schnell mal in die USA fahren kann, um zu sehen, ob das, was Relotius schreibt, auch stimmt. Wie kann man also nicht post festum, sondern im Tagesgeschehen, innerhalb von vielen Informationsströmen mit Halbwahrheiten, Gerüchten, Lügen und Tatsachenbehauptungen einen persönlichen Faktencheck machen?

Nicola Gess: Also am Relotius-Fall kann man erstmal ganz gut sehen, warum es sinnvoll ist, sich mit Halbwahrheiten auseinanderzusetzen. Bei vielen seiner Reportagen spielen Halbwahrheiten nämlich eine entscheidende Rolle, weil er sich zum einen mit dem wahren Anteil der Halbwahrheit vor der Enttarnung schützen konnte. Und weil er mit dem erfundenen Teil der Halbwahrheit dafür sorgen konnte, dass die Reportage beim Publikum gut ankommt.
Das Publikum hat ein Gefallen an der Geschichte, weil sie rund ist, bestimmte ästhetische Erwartungen und Erzählschemata erfüllt, auch moralische Erwartungen, zum Beispiel dass am Ende die Menschen gut sind und einander helfen. Die Reportage "Königskinder" endet zum Beispiel damit, dass zwei syrische Flüchtlingskinder, von denen Relotius eines erfunden hat, von einem deutschen Ehepaar adoptiert werden.
Aber um auf Ihre Frage zurückzukommen: Ja, Halbwahrheiten und andere Formen von Falschaussagen kann man oft erst im Nachhinein aufdecken, indem man bestimmte Fakten überprüft. Aber Ihre Frage ist ja, was ist, wenn ich eine Geschichte im Moment lese?
Was da helfen kann, ist ein Fiktionscheck, den ich als Ergänzung des Faktenchecks vorschlage. Damit meine ich neben anderen Aspekten, dass man gerade dann besonders aufmerksam sein sollte, wenn eine Geschichte zu gut passt, meinen ästhetischen, moralischen oder auch weltanschaulichen Erwartungen zu gut entspricht…
Das Schöne ist also verführerisch …
Nicola Gess: … Ja, das Schöne ist verführerisch, die Fiktion ist häufig angenehmer als die Realität. Wenn ich mich zu gut bestätigt fühle, wenn alle Puzzleteile perfekt zusammenpassen, wie das in einem guten Roman der Fall ist, dann sollte man aufhorchen und sich fragen: Kann das sein? Vor allem, wenn man gern zustimmen möchte. Dann ist man besonders unkritisch, das ist der sogenannte Confirmation Bias. Man möchte bestätigt werden. Da sollte man besonders kritisch und auch selbstkritisch sein.
Aber, so Ihre Frage, wo schaue ich dann nach? Es gibt ja eine gewisse Arbeitsteilung. Wir sind darauf angewiesen, uns bei Experten und Expertinnen informieren zu können. Wenn es um wissenschaftliche Fragen geht, ist zum Beispiel der Wissenschaftsjournalismus eine wichtige Instanz. Wissenschaftliche Institutionen spielen natürlich auch eine Rolle, wenn es darum geht, ob jemand eine wirkliche Expertin ist oder sich nur als solche aufschwingt. Schwieriger ist dann schon das Standing in der wissenschaftlichen Community zu prüfen, wie sieht es mit den Publikationen aus etc.
Das sind Mühen, die kaum jemand wirklich auf sich nimmt. Man geht dann doch wohl zu den Medien, Institutionen und Experten, denen man vertraut. Man geht zur Tagesschau oder zu den sogenannten alternativen Medien. Die verbreiten möglicherweise Halbwahrheiten, machen aber auch ihre eigenen Faktenchecks. Man müsste also zwischen den Faktenchecks noch einmal einen Faktencheck machen.

Das ist ziemlich komplex, weswegen die meisten Leute da ebenso überfordert sind wie viele Journalisten und andere Experten, wenn es über ihren Bereich hinausgeht. Es ist dann ein bisschen naiv zu sagen, da ist die Wirklichkeit oder die Wahrheit. Dazu kommt, dass nun auch wie in der Coronapandemie die Experten umstritten sind. Es gibt verschiedene Experten, die gegeneinander antreten. Es gibt Kritik an der Wissenschaft, die wiederum fortlaufend die Fakten verändert. Fakten sind ja letztlich auch nur Hypothesen, die falsifiziert werden können.

In der Coronapandemie, wo jeden Tag Hunderte von Studien auf Preprint-Servern veröffentlicht werden und jeder etwas dazu zu sagen hat und sich profilieren will, hat auch die Wissenschaft gelitten. Das ist nicht ganz neu, weil Wissenschaft, vornehmlich im medizinischen Bereich, auch käuflich ist. Ist Wissenschaft, die für die Aufklärung die Instanz war, die Wahrheit verbürgt, nicht auch schon in die Erosion geraten?

Nicola Gess: Nein, so kann man das nicht sagen. Das Problem ist eher, dass eine bestimmte Vorstellung von naturwissenschaftlichen Erkenntnissen zu existieren scheint, die nicht den wissenschaftlichen Prozessen entspricht. Wenn man davon ausgeht, dass "die Wissenschaft" die eine wahre und unveränderbare Erkenntnis liefert, dann entspricht dies nicht dem wissenschaftlichen Forschungsprozess.
Aber nur wenn ich von dieser falschen Vorstellung ausgehe, kann ich irritiert sein, wenn eine wissenschaftliche Erkenntnis drei Monate später revidiert werden muss oder wenn verschiedene Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unterschiedliche Studien vorlegen, aus denen sie unterschiedliche Rückschlüsse ableiten.
Und natürlich sind auch nicht alle Studien gleich aussagekräftig. Da muss man schauen, wie valide die Methode ist, welche Datenbasis vorhanden ist etc. Dafür gibt es Peer-Review und andere Prüfverfahren. Zur Wissenschaft gehört der Zweifel, die Falsifizierung, auch die Selbstkritik, um den Erkenntnisprozess am Laufen zu halten.

"Verschwörungstheorien haben zum Beispiel eine Ähnlichkeit mit Detektiv- oder Spionageromanen"

Das Problem liegt wohl nicht in der Wissenschaft selbst, sondern stärker in der Politik, die sich seit der Corona-Pandemie immer auf die Wissenschaft beruft. Man macht angeblich das, was "die Wissenschaft" vorschlägt. Das aber ist eine falsche Berufung auf die Wissenschaft, die die Politik stützen soll, dies aber aufgrund des von Ihnen erläuterten Wissenschaftsprozesses eigentlich nicht machen kann oder sollte. Es haben auch manche Wissenschaftler mitgespielt. All das lässt dann Zweifel an der Wissenschaft entstehen.
Nicola Gess: Das Problem ist, wenn hier intransparent kommuniziert wird. Als Politikerin müsste man sagen, das und das ist der Forschungskonsens, von dem ich ausgehe. Und das und das sind die Fragen, die sich in Bezug darauf aus politischer Perspektive stellen. Rechtfertigen diese Erkenntnisse einen Lockdown oder ist der Schaden, den die Wirtschaft oder Schülerinnen und Schüler nehmen, zu groß?
Das sind andere Fragen, hier spielen dann auch politische Leitlinien, Wertvorstellungen und ethische Probleme herein, die kommuniziert werden müssen. Politik und Wissenschaft sind getrennte Ebenen. Wenn politische Entscheidungen immer mit der wissenschaftlichen Studie gerechtfertigt werden, die gerade am besten passt, dann haben wir ein Problem, weil das auch ein falsches Wissenschaftsverständnis fördert und das Vertrauen in wissenschaftliche Erkenntnisse untergräbt.
Ich will jetzt einmal zur Literaturwissenschaft zurück, also zu Ihrem Metier. Sie beschäftigen sich normalerweise, bevor Sie den Ausflug in die Politik oder die Medien gemacht haben, eben mit Literatur, mit Romanen, Erzählungen und anderen Narrativen. Sie sind nach bestimmten Kriterien gestaltet, wollen nicht wahr sein, aber doch meist wahrscheinlich, nehmen also auch einen Mittelraum ein zwischen Fiktion oder Illusion und Wahrheit oder Realität.

Literatur nimmt die Welt, die Menschen erleben, auf und entführt sie in eine andere Welt. Gibt es nicht eine Faszination an solchen Erzählungen, die auch mit erklären könnte, warum Menschen Verschwörungstheorien oder Halbwahrheiten interessant finden?

Bei den Verschwörungserzählungen herrschen meist irgendwelche Eliten im Hintergrund. Es findet alles in einem kleinen Kreis statt, in einer Art Götterolymp, der alles beherrscht. Es wird also das Geschehen personalisiert, es gibt persönliche Verantwortung, während die Aufdeckung von Systemprozessen viel schwieriger und abstrakter ist, wo die Menschen mitschwimmen, ein Rädchen sind. Darüber kann man kaum einen Roman schreiben. Gibt es also aus der Perspektive der Literaturwissenschaft etwas direkt Erhellendes zum Thema Halbwahrheiten und Verschwörungen?

Nicola Gess: Unbedingt, sonst hätte ich mich auch nicht mit dem Thema beschäftigt. Verschwörungstheorien heißen Theorien, weil sie an der Oberfläche einen wissenschaftsbasierten Diskurs imitieren. Sie führen zum Beispiel scheinbare Expertinnen und Experten an, am liebsten mit Doktor- oder Professorentitel, sie pflegen viele Literaturhinweise in ihre Texte ein usw. Aber die eigentliche Faszinationskraft entfalten sie, weil sie wie Geschichten funktionieren. Da haben Sie selbst ja eben schon viele wichtige Punkte angesprochen.
Verschwörungstheorien haben zum Beispiel eine Ähnlichkeit mit Detektiv- oder Spionageromanen: Es gibt eine Gruppe von Verschwörern, die das gesamte Geschehen, häufig das gesamte Weltgeschehen steuert, und es gibt eine kleine Gruppe von Leuten, die das alles durchschaut, und dazwischen entspannt sich eine aufregende Handlung, die auf ein großes Finale hinausläuft. Das ist anschaulich, das stiftet Ordnung und Sinn.
Es gibt eine klare Verteilung von Gut und Böse, es passt auch alles zusammen, und es gibt keine Zufälle. Die eigene Welt als von einer Verschwörung beherrscht zu denken, gibt einem so paradoxerweise ein Gefühl von Handlungsmacht zurück. Denn aus einer diffusen Situation der Orientierungslosigkeit und Ohnmacht versetzt einen das in die Position, plötzlich den Durchblick zu haben und darum nun auch etwas dagegen tun zu können, zum Beispiel gegen die Bösen im Hintergrund zu demonstrieren oder sie sogar direkt zu bekämpfen, zumindest in der Fantasie.
De facto ist man allerdings nicht weniger ohnmächtig als zuvor, vielleicht sogar noch ohnmächtiger, weil man ja noch weniger von der realen Welt versteht. Die gefühlte Handlungsmacht bleibt auf den Raum des Imaginären beschränkt.

Florian Rötzer sprach mit Nicola Gess im Digitalen Salon des Zentrums für Kunst und Medientechnik am 9. April. Hier [2] die Videodokumentation des Gesprächs. Das Buch von Nicola Gess "Halbwahrheiten. Zur Manipulation von Wirklichkeit" [3] ist im Verlag Matthes & Seitz in der Reihe Fröhliche Wissenschaft erschienen, 157 Seiten, 14 Euro.

Weitere Gespräche von Florian Rötzer auf krass & konkret [4].


URL dieses Artikels:
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[2] https://zkm.de/de/media/video/florian-roetzer-im-gespraech-mit-nicola-gess
[3] https://www.matthes-seitz-berlin.de/buch/halbwahrheiten.html?lid=1
[4] https://www.buchkomplizen.de/blog/