Von der Verführungskraft von Geschichten
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Nicola Gess über das postfaktische Zeitalter, Halbwahrheiten, Vertrauenskrisen, Claas Relotius und Verschwörungstheorien
Frau Gess, Ihr Buch "Halbwahrheiten. Zur Manipulation von Wirklichkeit" ist gerade im Verlag Matthes & Seitz erschienen. Sie haben aber schon 2019 an der Universität Basel ein Forschungsprojekt zum Thema Halbwahrheiten im postfaktischen Zeitalter gestartet und jetzt ein Buch zum Thema vorgelegt. Was war für Sie der Anlass damals, das Thema bearbeiten zu wollen?
Nicola Gess: Der Anlass war für mich die Wahl von Donald Trump und die Brexit-Entscheidung 2016. In den Wahlkämpfen konnte man beobachten, dass die Unterscheidung zwischen Lüge und Wahrheit kaum noch eine Rolle zu spielen schien. Das hat mich irritiert, und ich habe mich gefragt, wie dieser sogenannte "postfaktische Diskurs" eigentlich funktioniert.
Schnell wurde mir klar, dass ich auch als Literatur- und Kulturwissenschaftlerin etwas zur Beantwortung dieser Frage beitragen kann, weil für den postfaktischen Diskurs das Universum der Spekulationen und Fiktionen eine ganz wichtige Rolle spielt. Und dann kam die Überlegung auf, sich mit einer besonderen Form der Falschaussage, nämlich mit Halbwahrheiten auseinanderzusetzen, weil sie die Brücke von einem faktenbasierten Diskurs zum Raum des Imaginären, auch des politischen Imaginären, schlagen.
So ist es dann zu dem interdisziplinären Projekt gekommen, an dem als Kooperationspartner auch der Soziologe Oliver Nachtwey und der Kommunikationswissenschaftler Cornelius Puschmann beteiligt sind.
Sie gehen auch in Ihrem Buch davon aus, dass wir in einem postfaktischen Zeitalter leben. Wann hat denn für Sie dieses postfaktische Zeitalter begonnen und was zeichnet es aus?
Nicola Gess: Der Begriff des Postfaktischen war 2016 omnipräsent, er wurde dann auch zum Wort des Jahres gewählt. Die Konjunktur des Begriffs zeigt, dass wir es mit einem zeitgeschichtlichen Phänomen zu tun haben, oder zumindest mit einem Phänomen, das vielen Leuten zu dieser Zeit erstmals aufgefallen ist, sicherlich bedingt durch die zwei schon von mir angesprochenen Wahlkämpfe.
Man muss sich aber zugleich klar machen, dass der Begriff des postfaktischen Zeitalters zwar suggeriert, dass das etwas ganz Neues sei, dass es aber aus einer größeren geschichtlichen Perspektive natürlich kein grundsätzlich neues Phänomen ist.
Das "Postfaktische" ist vielmehr ein typisches Phänomen für Krisenzeiten, vor allem für Wissens- und Vertrauenskrisen. Im Projekt untersuchen wir daher auch andere Zeiten wie die Weimarer Republik oder auch die Zeit der preußischen Reformen, in denen man ähnliche Tendenzen beobachten kann.
Warum das "Postfaktische" jetzt so virulent ist, hat natürlich viele Gründe. Sicherlich spielen zum Beispiel mediale Entwicklungen eine wichtige Rolle, in diesem Fall die sozialen Netzwerke, die für Halbwahrheiten eine Art Brandbeschleuniger sind.
Der Begriff des Postfaktischen entstand wohl so um 2004 herum. Von Ralph Keyes ist zumindest in diesem Jahr ein Buch erschienen, das zwar nicht postfaktisch hieß, sondern Post-Truth. Seine These ist einfach: Es gab mal eine Zeit, in der es Wahrheit und Falschheit gab - und jetzt nicht mehr. Ist das nicht ein wenig simpel gedacht?
Sie sagten ja, dass das Postfaktische mit einer Verunsicherung zu tun habe. 2004 war nach 9/11, das das Selbstverständnis der USA erschüttert hat, und auch nach dem Beginn des Irak-Kriegs, den die Regierungen der USA und Großbritannien durch von ihren Geheimdiensten gezimmerte Propagandalügen über das angebliche Vorhandensein von Massenvernichtungswaffen legitimiert hatten.
Danach erschien dieses Buch über Post-Truth. Reicht diese Unsicherheit dann schon so weit zurück? In dieser Zeit nach 9/11 kam auch die Kritik an den Mainstreammedien auf, während gleichzeitig die Online-Medien stärker wurden.
Nicola Gess: Die Terroranschläge vom 11. September 2001 sind ein gutes Beispiel für eine Krisensituation, die das Aufkommen und die Verbreitung von Verschwörungstheorien begünstigt hat. Der Irak-Krieg ist hingegen ein gutes Beispiel dafür, wie geheimdienstliche Falschinformationen und politische Fehlentscheidungen zu Vertrauensverlust in der Bevölkerung führen.
Entsprechend muss der Irakkrieg auch oft als anekdotischer Fehlschluss dafür herhalten, dass man Politikern und Medien generell nicht vertrauen könne. Einen anderen Vertrauensverlust hat zum Beispiel auch die Finanzkrise zur Folge gehabt, in der viele Leute die Erfahrung machen mussten, dass große Banken gerettet wurden, während sie ihr Haus oder ihren Job verloren haben.
Aber um auf Ihre Frage zurückzukommen, ob diese Konjunktur noch weiter zurückreicht: In meinem Buch arbeite ich zum Beispiel mit Hannah Arendt, die schon in den 1960er Jahren über Lüge und Wahrheit in der Politik geschrieben hat. Sie hat sich da sehr beunruhigt gezeigt, dass der Unterschied zwischen Meinungen und Tatsachen zu verschwimmen droht.
"Man muss zwischen verschiedenen Formen und Funktionen von Falschinformationen unterscheiden"
Wenn man ins Historische geht, gab es nicht nur Hannah Arendt nach dem Zweiten Weltkrieg, sondern auch den einflussreichen Journalisten und Präsidentenberater Walter Lippmann im Ersten Weltkrieg. Er hat zusammen mit anderen im Auftrag des damaligen Präsidenten Wilson, der 1917 ins Amt kam, weil er sich nicht am Krieg beteiligen wollte, ein Propagandabüro begründet, um dann Wilsons Kehrtwende zum Kriegseintritt den eigentlich kriegsunwilligen Amerikanern schmackhaft zu machen.
Solche Beeinflussungen der Öffentlichkeit durch den Staat treten immer wieder auf. Ich glaube nicht, dass man das nur anekdotisch nennen kann. Zum Beispiel hat das Pentagon während des Irakkriegs immer wieder versucht, solche Propagandabüros für die sogenannte Strategische Kommunikation einzurichten. Das wird gegenwärtig auch wieder von der EU und der Nato gemacht, die Abteilungen für Strategische Kommunikation eingerichtet haben, um angeblich Desinformation zu bekämpfen, was aber natürlich nur sehr einseitig geschieht, die eigenen Halbwahrheiten werden nicht thematisiert.
2003 war zum Kriegsbeginn eine weitgehend geschlossene Medienlandschaft vorhanden, die die Lügen der Regierung einfach weitergab. Kritik oder Skepsis gab es zunächst nur im Internet, bis man schließlich nicht mehr umhin konnte zuzugeben, einer Lüge aufgesessen zu sein.
Das war die Zeit, in der langsam nicht mehr nur die traditionellen Medien die öffentliche Meinung prägten, sondern zusätzlich andere Stimmen über das Internet Gehör fanden. Die Erschütterung des Meinungsmonopols dürfte auch zur Verunsicherung beigetragen und sie verstärkt haben.
Nicola Gess: Das sind viele Themen, ich greife einfach mal eines heraus. Ich halte es für problematisch, wenn Sie Faktenchecks und die Bekämpfung von Desinformation in die Nähe zur Propaganda rücken. Da muss man meiner Ansicht nach sehr genau hinschauen und besser differenzieren.
Das gilt auch für andere Punkte. Zum Beispiel war die Berichterstattung zur Zeit des Irakkriegs keineswegs so unipolar, wie Sie sagen. In den deutschen Medien wurde beispielsweise ganz anders und deutlich kritischer darüber berichtet als in den amerikanischen. Dazu gibt es inzwischen viele Studien.
Es ist generell wichtig, mit Pauschalisierungen vorsichtig zu sein; vor allem dann, wenn sie eigene Voreinstellungen bestätigen. Man kommt nicht umhin, kritisch zu prüfen; also zum Beispiel im Hinblick auf die mediale Berichterstattung immer wieder genau zu schauen, was ist das für ein Artikel, wie wird hier gearbeitet, auf welche Quellen beruft er sich, kann man einen Faktencheck durchführen, was ist belegbar, was nicht, usw.
Und man muss natürlich auch zwischen verschiedenen Formen und Funktionen von Falschinformationen unterscheiden. Ich habe zum Beispiel über Halbwahrheiten gearbeitet, die nicht identisch mit Fake News sind. Falschnachrichten können auf Halbwahrheiten basieren, sie können aber auch komplette Lügen sein, Halbwahrheiten können in Nachrichtenform, aber genauso gut in anderen Kontexten auftauchen.
Wenn die Unterscheidung zwischen Meinung und Tatsache hinfällig wird, erodiert unser Sinn dafür, was wirklich ist und was nicht
Es wäre interessant zu überlegen, warum jetzt nicht nur eine Verunsicherung zu herrschen scheint, sondern auch, warum der Kampf gegen Desinformation so wichtig geworden ist. Das fing 2014 wahrscheinlich mit dem Ukraine-Konflikt an. Da kam wieder die Kritik an den Mainstreammedien auf. Was sich wirklich abspielte, war undurchsichtig.
Es wurden dann auch Institutionen gegründet, bei denen Militärs und Geheimdienste doch eine Rolle spielten, die dann Faktenchecks machen sollen, was meist einseitig geschah. Es wurden auch Begriffe geprägt wie "waffenförmige Information". Das ist so ein Begriff, der seit 2014 in den Köpfen im Rahmen hybrider Kriegsführung herumspukt. Es wird also der Diskurs wahnsinnig aufgeladen und zu einer Art Kriegsgebiet gemacht, in dem Worte zu tödlichen Waffen werden können.
Deshalb muss man Schutzeinrichtungen aufbauen, um diese Desinformation abzuwehren. Das scheint mir eine hoch aufgeladene ideologische Geschichte zu sein. Wie arbeitet man in diesem Feld eigentlich als Wissenschaftlerin, die versucht, neutral oder objektiv die Phänomene zu untersuchen?
Nicola Gess: Ich habe mich mit dem Ukraine-Konflikt nicht beschäftigt und kann mich dazu darum nicht äußern. Aber ganz generell gesprochen, gibt es natürlich auch den Missbrauch des Faktenchecks. Doch nur, weil das so ist, heißt das nicht, dass man ihn dann auch gleich ganz sein lassen kann. John Oliver, der amerikanische Late-Night-Moderator, hat für eine solche Art der Argumentation den schönen Begriff des What-Aboutism geprägt.
Warum ist der Faktencheck wichtig? Hannah Arendt spricht vom Wirklichkeitssinn. Wenn die Unterscheidung zwischen Meinung und Tatsache hinfällig wird, erodiert für sie unser Sinn dafür, was wirklich ist und was nicht. Wirklichkeit meint bei Arendt das, was der Fall ist. Sie spricht von Tatsachenwahrheiten, die natürlich nicht einfach da, sondern durch vielfache Evidenz geprüft, bestätigt und in diesem Sinne hergestellt sind.
Auf der Grundlage dieser geteilten Wirklichkeit findet dann eine diskursive Meinungsbildung statt, die für Arendt das Wesen demokratischer Politik ausmacht. Wenn diese Grundlage erodiert, geraten damit also auch demokratische Prozesse ins Wanken. Das ist also nicht auf die leichte Schulter zu nehmen.
Und warum ist das gerade jetzt so virulent? Man hat zum Beispiel an der Präsidentschaft von Donald Trump beobachten können, wie durch das Ignorieren des Kriteriums der Wahrhaftigkeit demokratische Prozesse ausgehöhlt werden können. Eine wichtige Rolle spielen aber auch die sozialen Medien, die die Entstehung von Desinformation begünstigen, indem auf manchen Plattformen Verkürzungen, Übertreibungen und Emotionalisierungen geradezu strukturell erzwungen werden.
Dazu ist man hier auf Kickzahlen aus, es geht um Aufmerksamkeit, nicht um richtige Berichterstattung, man ist nicht an einen Pressekodex gebunden usw. Auch das hat auch zu der Notwendigkeit beigetragen, hier aufklärend tätig zu werden, aber auch, sich zu fragen, warum bestimmte Geschichten so gut verfangen, was ihre innere Logik ist.