Von der Verführungskraft von Geschichten

Seite 2: Fiktionscheck als Ergänzung des Faktenchecks

Sie haben, um daran anzuknüpfen, in Ihrem Buch auch über Claas Relotius geschrieben, den ehemaligen Journalisten und Geschichtenerzähler, der sehr anerkannt war, in vielen der sogenannten Qualitätsmedien schrieb und auch mit Preisen bedacht wurde. Der Spiegel etwa hat immer behauptet, dass alle von ihm verbreiteten Informationen einem Faktencheck unterzogen werden, bevor sie publiziert werden. Trotzdem konnte Relotius dort jahrelang seine Schwindelgeschichten verbreiten.

Nachdem der Schwindel aufgedeckt wurde, ist es ja leicht festzustellen, dass er hier oder dort gelogen, geschwindelt, etwas hinzugedichtet oder Halbwahrheiten verbreitet hat. Aber normalerweise lesen wir ja etwas im Spiegel oder anderswo, ohne zu wissen, ob das Fake, Halbwahrheit oder Fakt ist. Wie kann ich denn erkennen, dass etwas faktenbasiert, eine Halbwahrheit oder bewusst verfälschend ist?

Als normaler Leser habe ich keinen Zugang zu den wissenschaftlichen Quellen, wenn sie denn vorhanden sind, ich habe auch keinen Zugang direkt zur Realität, weil ich nicht schnell mal in die USA fahren kann, um zu sehen, ob das, was Relotius schreibt, auch stimmt. Wie kann man also nicht post festum, sondern im Tagesgeschehen, innerhalb von vielen Informationsströmen mit Halbwahrheiten, Gerüchten, Lügen und Tatsachenbehauptungen einen persönlichen Faktencheck machen?

Nicola Gess: Also am Relotius-Fall kann man erstmal ganz gut sehen, warum es sinnvoll ist, sich mit Halbwahrheiten auseinanderzusetzen. Bei vielen seiner Reportagen spielen Halbwahrheiten nämlich eine entscheidende Rolle, weil er sich zum einen mit dem wahren Anteil der Halbwahrheit vor der Enttarnung schützen konnte. Und weil er mit dem erfundenen Teil der Halbwahrheit dafür sorgen konnte, dass die Reportage beim Publikum gut ankommt.

Das Publikum hat ein Gefallen an der Geschichte, weil sie rund ist, bestimmte ästhetische Erwartungen und Erzählschemata erfüllt, auch moralische Erwartungen, zum Beispiel dass am Ende die Menschen gut sind und einander helfen. Die Reportage "Königskinder" endet zum Beispiel damit, dass zwei syrische Flüchtlingskinder, von denen Relotius eines erfunden hat, von einem deutschen Ehepaar adoptiert werden.

Aber um auf Ihre Frage zurückzukommen: Ja, Halbwahrheiten und andere Formen von Falschaussagen kann man oft erst im Nachhinein aufdecken, indem man bestimmte Fakten überprüft. Aber Ihre Frage ist ja, was ist, wenn ich eine Geschichte im Moment lese?

Was da helfen kann, ist ein Fiktionscheck, den ich als Ergänzung des Faktenchecks vorschlage. Damit meine ich neben anderen Aspekten, dass man gerade dann besonders aufmerksam sein sollte, wenn eine Geschichte zu gut passt, meinen ästhetischen, moralischen oder auch weltanschaulichen Erwartungen zu gut entspricht…

Das Schöne ist also verführerisch …

Nicola Gess: … Ja, das Schöne ist verführerisch, die Fiktion ist häufig angenehmer als die Realität. Wenn ich mich zu gut bestätigt fühle, wenn alle Puzzleteile perfekt zusammenpassen, wie das in einem guten Roman der Fall ist, dann sollte man aufhorchen und sich fragen: Kann das sein? Vor allem, wenn man gern zustimmen möchte. Dann ist man besonders unkritisch, das ist der sogenannte Confirmation Bias. Man möchte bestätigt werden. Da sollte man besonders kritisch und auch selbstkritisch sein.

Aber, so Ihre Frage, wo schaue ich dann nach? Es gibt ja eine gewisse Arbeitsteilung. Wir sind darauf angewiesen, uns bei Experten und Expertinnen informieren zu können. Wenn es um wissenschaftliche Fragen geht, ist zum Beispiel der Wissenschaftsjournalismus eine wichtige Instanz. Wissenschaftliche Institutionen spielen natürlich auch eine Rolle, wenn es darum geht, ob jemand eine wirkliche Expertin ist oder sich nur als solche aufschwingt. Schwieriger ist dann schon das Standing in der wissenschaftlichen Community zu prüfen, wie sieht es mit den Publikationen aus etc.

Das sind Mühen, die kaum jemand wirklich auf sich nimmt. Man geht dann doch wohl zu den Medien, Institutionen und Experten, denen man vertraut. Man geht zur Tagesschau oder zu den sogenannten alternativen Medien. Die verbreiten möglicherweise Halbwahrheiten, machen aber auch ihre eigenen Faktenchecks. Man müsste also zwischen den Faktenchecks noch einmal einen Faktencheck machen.

Das ist ziemlich komplex, weswegen die meisten Leute da ebenso überfordert sind wie viele Journalisten und andere Experten, wenn es über ihren Bereich hinausgeht. Es ist dann ein bisschen naiv zu sagen, da ist die Wirklichkeit oder die Wahrheit. Dazu kommt, dass nun auch wie in der Coronapandemie die Experten umstritten sind. Es gibt verschiedene Experten, die gegeneinander antreten. Es gibt Kritik an der Wissenschaft, die wiederum fortlaufend die Fakten verändert. Fakten sind ja letztlich auch nur Hypothesen, die falsifiziert werden können.

In der Coronapandemie, wo jeden Tag Hunderte von Studien auf Preprint-Servern veröffentlicht werden und jeder etwas dazu zu sagen hat und sich profilieren will, hat auch die Wissenschaft gelitten. Das ist nicht ganz neu, weil Wissenschaft, vornehmlich im medizinischen Bereich, auch käuflich ist. Ist Wissenschaft, die für die Aufklärung die Instanz war, die Wahrheit verbürgt, nicht auch schon in die Erosion geraten?

Nicola Gess: Nein, so kann man das nicht sagen. Das Problem ist eher, dass eine bestimmte Vorstellung von naturwissenschaftlichen Erkenntnissen zu existieren scheint, die nicht den wissenschaftlichen Prozessen entspricht. Wenn man davon ausgeht, dass "die Wissenschaft" die eine wahre und unveränderbare Erkenntnis liefert, dann entspricht dies nicht dem wissenschaftlichen Forschungsprozess.

Aber nur wenn ich von dieser falschen Vorstellung ausgehe, kann ich irritiert sein, wenn eine wissenschaftliche Erkenntnis drei Monate später revidiert werden muss oder wenn verschiedene Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unterschiedliche Studien vorlegen, aus denen sie unterschiedliche Rückschlüsse ableiten.

Und natürlich sind auch nicht alle Studien gleich aussagekräftig. Da muss man schauen, wie valide die Methode ist, welche Datenbasis vorhanden ist etc. Dafür gibt es Peer-Review und andere Prüfverfahren. Zur Wissenschaft gehört der Zweifel, die Falsifizierung, auch die Selbstkritik, um den Erkenntnisprozess am Laufen zu halten.

"Verschwörungstheorien haben zum Beispiel eine Ähnlichkeit mit Detektiv- oder Spionageromanen"

Das Problem liegt wohl nicht in der Wissenschaft selbst, sondern stärker in der Politik, die sich seit der Corona-Pandemie immer auf die Wissenschaft beruft. Man macht angeblich das, was "die Wissenschaft" vorschlägt. Das aber ist eine falsche Berufung auf die Wissenschaft, die die Politik stützen soll, dies aber aufgrund des von Ihnen erläuterten Wissenschaftsprozesses eigentlich nicht machen kann oder sollte. Es haben auch manche Wissenschaftler mitgespielt. All das lässt dann Zweifel an der Wissenschaft entstehen.

Nicola Gess: Das Problem ist, wenn hier intransparent kommuniziert wird. Als Politikerin müsste man sagen, das und das ist der Forschungskonsens, von dem ich ausgehe. Und das und das sind die Fragen, die sich in Bezug darauf aus politischer Perspektive stellen. Rechtfertigen diese Erkenntnisse einen Lockdown oder ist der Schaden, den die Wirtschaft oder Schülerinnen und Schüler nehmen, zu groß?

Das sind andere Fragen, hier spielen dann auch politische Leitlinien, Wertvorstellungen und ethische Probleme herein, die kommuniziert werden müssen. Politik und Wissenschaft sind getrennte Ebenen. Wenn politische Entscheidungen immer mit der wissenschaftlichen Studie gerechtfertigt werden, die gerade am besten passt, dann haben wir ein Problem, weil das auch ein falsches Wissenschaftsverständnis fördert und das Vertrauen in wissenschaftliche Erkenntnisse untergräbt.

Ich will jetzt einmal zur Literaturwissenschaft zurück, also zu Ihrem Metier. Sie beschäftigen sich normalerweise, bevor Sie den Ausflug in die Politik oder die Medien gemacht haben, eben mit Literatur, mit Romanen, Erzählungen und anderen Narrativen. Sie sind nach bestimmten Kriterien gestaltet, wollen nicht wahr sein, aber doch meist wahrscheinlich, nehmen also auch einen Mittelraum ein zwischen Fiktion oder Illusion und Wahrheit oder Realität.

Literatur nimmt die Welt, die Menschen erleben, auf und entführt sie in eine andere Welt. Gibt es nicht eine Faszination an solchen Erzählungen, die auch mit erklären könnte, warum Menschen Verschwörungstheorien oder Halbwahrheiten interessant finden?

Bei den Verschwörungserzählungen herrschen meist irgendwelche Eliten im Hintergrund. Es findet alles in einem kleinen Kreis statt, in einer Art Götterolymp, der alles beherrscht. Es wird also das Geschehen personalisiert, es gibt persönliche Verantwortung, während die Aufdeckung von Systemprozessen viel schwieriger und abstrakter ist, wo die Menschen mitschwimmen, ein Rädchen sind. Darüber kann man kaum einen Roman schreiben. Gibt es also aus der Perspektive der Literaturwissenschaft etwas direkt Erhellendes zum Thema Halbwahrheiten und Verschwörungen?

Nicola Gess: Unbedingt, sonst hätte ich mich auch nicht mit dem Thema beschäftigt. Verschwörungstheorien heißen Theorien, weil sie an der Oberfläche einen wissenschaftsbasierten Diskurs imitieren. Sie führen zum Beispiel scheinbare Expertinnen und Experten an, am liebsten mit Doktor- oder Professorentitel, sie pflegen viele Literaturhinweise in ihre Texte ein usw. Aber die eigentliche Faszinationskraft entfalten sie, weil sie wie Geschichten funktionieren. Da haben Sie selbst ja eben schon viele wichtige Punkte angesprochen.

Verschwörungstheorien haben zum Beispiel eine Ähnlichkeit mit Detektiv- oder Spionageromanen: Es gibt eine Gruppe von Verschwörern, die das gesamte Geschehen, häufig das gesamte Weltgeschehen steuert, und es gibt eine kleine Gruppe von Leuten, die das alles durchschaut, und dazwischen entspannt sich eine aufregende Handlung, die auf ein großes Finale hinausläuft. Das ist anschaulich, das stiftet Ordnung und Sinn.

Es gibt eine klare Verteilung von Gut und Böse, es passt auch alles zusammen, und es gibt keine Zufälle. Die eigene Welt als von einer Verschwörung beherrscht zu denken, gibt einem so paradoxerweise ein Gefühl von Handlungsmacht zurück. Denn aus einer diffusen Situation der Orientierungslosigkeit und Ohnmacht versetzt einen das in die Position, plötzlich den Durchblick zu haben und darum nun auch etwas dagegen tun zu können, zum Beispiel gegen die Bösen im Hintergrund zu demonstrieren oder sie sogar direkt zu bekämpfen, zumindest in der Fantasie.

De facto ist man allerdings nicht weniger ohnmächtig als zuvor, vielleicht sogar noch ohnmächtiger, weil man ja noch weniger von der realen Welt versteht. Die gefühlte Handlungsmacht bleibt auf den Raum des Imaginären beschränkt.

Florian Rötzer sprach mit Nicola Gess im Digitalen Salon des Zentrums für Kunst und Medientechnik am 9. April. Hier die Videodokumentation des Gesprächs. Das Buch von Nicola Gess "Halbwahrheiten. Zur Manipulation von Wirklichkeit" ist im Verlag Matthes & Seitz in der Reihe Fröhliche Wissenschaft erschienen, 157 Seiten, 14 Euro.

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