Von der Zeitenwende zur Konfrontation: Wie die USA und Europa sich auf den großen Krieg vorbereiten
Die Nato rüstet auf, während Russland als größte Bedrohung dargestellt wird. Die USA und Europa verstärken ihre militärischen Kapazitäten. Droht ein neuer Kalter Krieg?
Das Aspen Security Forum ist nach eigener Beschreibung die US-Konferenz, auf der sicherheits- und außenpolitischen Fragen diskutiert werden. Die Liste der Sponsoren ist beeindruckend und reicht von McKinsey über American Airlines bis zu Lockheed Martin und Boeing.
Schließlich ist es aufwendig, Vertreter des militärisch-industriellen Komplexes, Politiker, ausgesuchte Journalisten, hochrangige Militärs und einflussreiche Bürokraten ins malerische Aspen zu verfrachten.
Umgekehrt, eine Einladung zur Teilnahme am Forum schlägt man nicht aus. Sie ist eine Art Ritterschlag. Man ist bei Hofe angekommen, dort, wo Politik entwickelt wird.
In diesem Jahr war auch der außen- und sicherheitspolitische Berater des deutschen Bundeskanzlers, Jens Plötner, eingeladen.
Herr Plötner nahm an einem Panel am Morgen des dritten Tages des Forums teil, dem einführende Bemerkungen des CEOs des Aspen Security Forums, Daniel Porterfield, vorausgingen. Über diese ist nicht viel zu berichten, außer dass Herr Porterfield die globale Sicherheit und die Sicherheit der USA für das Gleiche hielt.
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Er demonstrierte im Übrigen sehr schön, dass die Sorge wegen einer internationalen Bedrohungskulisse und ein unerschütterliches Vertrauen in die US-Fähigkeiten bzw. in die Kraft von Demokratie kein Widerspruch sein müssen.
Moderiert wurde das Panel "Nato, Europa und Ukraine" vom verteidigungspolitischen Experten des Economist, Shashank Joshi. Mit von der Partie war der Oberkommandierende der Nato- und der US-Streitkräfte in Europa, General Christopher G. Cavoli, der Generalsekretär des Auswärtigen Dienstes der EU, Stefano Sannino und der Generalsekretär des estnischen Außenministeriums, Jonatan Wsewiow und, nicht zu vergessen, Jens Plötner.
Der sprachgewandte US-General Cavoli
General Cavoli war unzweifelhaft der Star des "glänzend besetzten" Panels "voller Europäer", weil man den Nato-General wegen seiner russischen und italienischen Sprachkenntnisse, so Joshi, auch dazu rechnen könne. Das war ein wenig gewagt, gelten doch die Russen nicht mehr als Europäer, aber so umschifft man elegant die Klippe, dass das US-Vertrauen in die europäischen Nato-Mitglieder nicht so weit geht, ihnen das militärische Kommando zu überlassen.
Aber General Cavoli hat tatsächlich eine sehr bemerkenswerte Vita. Als Sohn eines US-Militärs wurde er in Deutschland geboren und wuchs wegen der Dienstorte seines Vaters in Italien und Deutschland auf.
Cavoli studierte an US-Elite-Universitäten, zunächst Biologie, im Anschluss Russisch und osteuropäische Geschichte. Erst danach folgte er seiner militärischen Berufung und legte eine spektakuläre Laufbahn hin. Cavoli zuzuhören ist immer ein Gewinn.
Zunächst erklärte er, was es mit der Zwei-Prozent-Verpflichtung der Nato auf sich habe. Zwar scheine dieser Wert etwas willkürlich gewählt, so Cavoli, aber nun gewiss nicht mehr.
Diese Zwei-Prozent-Regel seien das unterste Limit dafür, dass die Nato erfolgreich in Europa einen Krieg führen könne. Als sich die Nato nur auf exterritoriale Einsätze konzentrieren musste, so wie den Kosovo, den Balkan oder Afghanistan, sei alles billiger gewesen, und die Verbündeten hätten die "Friedensdividende" eingesteckt.
Jetzt aber muss es teurer werden, angesichts der russischen Bedrohung, gegen die eine "kontinentale Verteidigung" organisiert werden müsse, und manche geben indessen auch schon mehr dafür aus als nur zwei Prozent.
Die Geschichte des Zwei-Prozent-Ziels
Man muss davon ausgehen, dass Cavoli ganz genau weiß, dass das Zwei-Prozent-Ausgabenziel in der Nato seit 2006 förmlich erörtert wird. Damals, beim informellen Treffen der Verteidigungsminister der Nato-Staaten, sprach der niederländische Nato-Generalsekretär die Zwei-Prozent-Marge an.
Diese hätten sich die Mitgliedstaaten selbst gegeben, und er müsse jetzt darum bitten, nein, darauf bestehen, dass sie die auch erfüllten, und er habe viel positives Echo bekommen. Von Friedensdividende war damals nicht die Rede, auch nicht von einer russischen Bedrohung, allerhöchstens (am Vortag) davon, welch großes Unheil der Nato drohen würde, wenn es in Afghanistan schiefginge.
Für Interessierte: Hier sind die damaligen Äußerungen des Nato-Generalsekretärs nach dem ersten Tag des Treffens der Verteidigungsminister. Wie Afghanistan endete, weiß jeder. Bald haben wir wieder einen niederländischen Nato-Generalsekretär.
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Kurzum, wenn es darum geht, die Nato-Ausgaben zu erhöhen, ist jede Begründung recht, und die russische Bedrohung kommt passend daher.
Aber zu Cavolis Spezialität gehört auch, gelegentlich die berühmte Katze aus dem Sack zu lassen, und er enttäuschte auch dieses Mal nicht. Er erklärte:
Wir dürfen uns keinen Illusionen hingeben: Am Ende des Konflikts in der Ukraine - wie auch immer er ausgeht - werden wir ein riesengroßes Problem mit Russland haben. Wir werden eine Situation haben, in der Russland seine Streitkräfte rekonstituiert, sich an den Grenzen der NATO befindet, von weitgehend denselben Leuten geführt wird wie jetzt, überzeugt ist, dass wir der Gegner sind, und sehr, sehr wütend ist.
Wer könnte Cavoli bei diesem Befund widersprechen? Die Frage ist nur, wie eins zum anderen kam. Wie gelang es etwa den Russen, sich an die Nato-Grenze heranzurobben?
Anders ausgedrückt, in großen Teilen hat sich die Nato selbst das "enorme Russland-Problem" geschaffen, das Cavoli nunmehr konstatierte.
Aber da das Ganze auf dem Aspen Security Forum stattfand, und alle anderen Schlüsselwörter wie "russische Bedrohung", "kontinentale Verteidigung" usw. gefallen waren, reagierte mit Ausnahme des estnischen Panel-Teilnehmers auch niemand darauf.
Das europäische Erwachen
Am Ende des Panels war es Cavoli, der vom "europäischen Erwachen" sprach. Das sei ein anderes Europa, eins, auf dass die USA seit drei Jahrzehnten gewartet hätten, mit europäischen Alliierten, die die Bürden begreifen und bereit sind, die Lasten zu tragen. Nun sei es endlich so weit. Das sei auch gut für die USA. Nun maximierten sich ihre Beiträge.
Um eine klare Prognose zum Ausgang des Krieges in der Ukraine drückte sich Cavoli allerdings. Es komme darauf an, wer mehr Potenzial mobilisieren könne. Da sei er recht optimistisch. Er zählte die für eine erfolgreiche Kriegsführung nötigen Komponenten auf und betonte, dies gelte nicht nur für die Ukraine, sondern auch für die Nato-Staaten (Ausrüstung, Menschen unter Waffen, Training).
Im Ukraine-Krieg sah Cavoli eine Faustregel bestätigt: Wenn man nicht schnell den Krieg gewinnt, dauert er lange und wird unberechenbar. Nur, einst glaubte die "Koalition der Willigen", gegen den Irak schnell gesiegt zu haben.
Dennoch hat Cavoli recht: Krieg ist unberechenbar. Das gilt allerdings nicht nur in Zeiten der Kriegsführung. Die Unberechenbarkeit steigt in dem Maße, wie Kriegsvorbereitung und -ertüchtigung Diplomatie verdrängen.
In rund einer Stunde wurden viele Fragen diskutiert, bzw. Erklärungen abgegeben. Einige weitere scheinen mir noch besonders erwähnenswert.
Moderator Joshi leitete die Befragung von Stefano Sannino mit nahezu überschwänglichem Lob für die neuen politischen Leitlinien der zweiten Kommission unter Führung von der Leyen ein. Ein "Blockbuster" sei das. Die EU wolle eine Verteidigungsgemeinschaft werden und – so Joshi wörtlich – "die Produktion von Artilleriegeschossen finanzieren, die wir dann an die Ukraine geben, damit die Russen umbringen. Früher würden wir gedacht haben, das wäre eine lustige Kurzgeschichte. Aber nun sind wir da …"
Nicht, dass irgendjemandem im Panel der Atem stockte, geschweige denn das Blut in den Adern gefror. Es gab auch keinen Einspruch in dem Sinn, dass es um die ukrainische Verteidigung gegen die russischen Aggressoren ginge, und dass die leider auch Menschenopfer koste.
Joshi brachte das ganze Wesen des Stellvertreter-Krieges auf den Punkt und "entre-nous" flutschte es durch. Wie gut, dass der wütende russische Bär so etwas schon öfter gehört hatte. So bleibt dessen Wut kalt.
Sannino, ganz der gewiefte italienische Diplomat, der auch die Kommission gut kennt, pries im Panel die Weitsicht seiner Chefin, aber legte schon Wert darauf, dass die EU kein Militärbündnis sei.
EU und Nato als Verbündete
Im Übrigen seien die alten Verdächtigungen gegenüber der EU alle falsch: Die EU und die Nato seien zusammengeschmiedet, und beileibe keine Konkurrenten. Die EU wäre viel geeinter, als es manchmal ausschaue, z. B. in Gestalt von über 150 Milliarden Euro für die Ukraine.
Herr Plötner hatte in der Diskussion den etwas schwierigeren Stand. Erst wurde er praktisch einvernommen, ob Deutschland, dieser Zwei-Prozent-Wackel-Kandidat, auch liefern werde. Glücklicherweise, so Plötner seien Ampel und CDU dafür, also dürfte das nach menschlichem Ermessen für die nächsten drei Jahre laufen.
Dann folgte die Anfrage, wie es denn Deutschland mit der chinesischen Bedrohung halte, und ob es diese auch so sehe wie die USA.
Ein Kanzlerberater auf dünnem Eis
Herr Plötner gab sein Bestes, die US-Partner nicht zu verschrecken und trotzdem einen kleinen Seitenhieb zu verteilen. Man sei sich schon einig, dass China in neue Regeln zum Beispiel im Rahmen der Welthandelsorganisation (WTO) eingebunden werden müsse, damit es wirtschaftlich nicht den Westen ausmanövriert.
Merke: wenn der "Mitwettbewerber" oder Konkurrent oder Rivale oder gar Gegner Stärken hat, dann müssen die schon "gemanagt" werden, auch in der von den USA ungeliebten WTO.
Im späteren Diskussionsverlauf ging es um den Beschluss, mit dem ab 2026 in Deutschland amerikanische Mittelstreckenwaffen und auch Überschallwaffen stationiert werden sollen. Früher hätte das monatelang die deutschen Titelseiten gefüllt, so Joshi, aber heute sei das anders.
Es ist eben "Zeitenwende"
Herr Plötner entgegnete darauf, dass es schon einen Tag Aufregung gegeben habe, aber bis auf ein paar "Extreme" sei alles ruhig geblieben. Das sei eben die "Zeitenwende". Er bedankte sich artig bei Cavoli ("Chris") und dem US-Sicherheitsberater, dass diese so geholfen hätten, das zustande zu bringen.
Auf diese Weise kann man verdrängen, dass die USA diesen Stationierungsbeschluss nachweislich schon 2021 fassten, und seither die Frage nur noch lautete, wie man das Kind und das Bad zusammenbringt. Stattdessen erzählte Plötner lieber etwas von russischen Iskander-Waffen, die in Kaliningrad stationiert seien und Hauptstädte treffen könnten.
Den Teil, dass es um die Iskander-Waffen (russische Waffenbezeichnung: 9M729) damals im Rahmen des INF-Vertrages Streit gegeben hatte, den Russland durch Inspektionen aufzulösen versuchte, bzw. dass Russland sich in einem Moratorium verpflichtete, keine nach dem INF-Vertrag verbotenen Waffen im europäischen Teil Russlands zu stationieren, solange die Nato das nicht täte, ließ er aus.
Der "Nachrüstungsbeschluss" und die "Fähigkeitslücke"
Durch diesen "Nachrüstungsbeschluss", das vorgebliche Schließen einer "Fähigkeitslücke", wird nun das russische Moratorium, solche Waffen nicht zu stationieren, untergraben.
Ja, was waren das 1986 noch für Zeiten, als sich eine deutsche CDU-geführte Regierung mitten im Kalten Krieg gegen strategische Atomwaffen und gegen Mittelstreckenwaffen in Europa aussprach (in vertraulicher Kommunikation mit den USA) bzw. 1987 einseitig, aber öffentlich, wegen des INF-Vertrages 72 Pershing-IA-Raketen verschrottete. Im Kalten Krieg!
Heute, in Zeiten der "Zeitenwende" überholt die SPD alles locker rechts und streut zudem der Bevölkerung Sand in die Augen, in der Hoffnung, dass schon alle im Gleichschritt mitmarschieren werden.
Tatsächlich liegt auf der Hand, dass das Einzige, was mit Sicherheit durch diese Stationierungsentscheidung ansteigt, das Niveau der militärischen Konfrontation mit Russland und die damit verbundene wachsende wechselseitige Bedrohung in Europa ist. Mit Sicherheit wird die Sicherheit Deutschlands brüchiger.
Weiß Herr Plötner all das und sagt es nur nicht, oder ist ihm das gar nicht klar? In dieser Frage blieb ich unentschieden. Aber Plötner ist nur der Berater. Die Entscheidung lag beim Kanzler. Zudem ist Plötner ein Karrierediplomat, der sich vor der "Zeitenwende" beruflich einen guten Namen machte und daher gelegentlich angegriffen wird als Repräsentant einer alten, "blauäugigen" Russland-Politik. Aber ich will nicht spekulieren.
Jonatan Wsewiow, der estnische Panel-Teilnehmer mit dem so gar nicht estnisch klingenden Namen, war für mich die eigentliche Überraschung. Wer ihn reden hörte, hörte den Vertreter einer selbstbewussten Großmacht, die Jahrhunderte währende demokratische Traditionen und Einsichten auf dem Buckel hat, also in etwa wie die USA.
Vielleicht lag es daran, dass Wsewiow früher als estnischer Botschafter in den USA diente und Erfahrungen damit hat, was Amerikaner gerne hören.
Wsewiow sprach mit großer Gewissheit und noch mehr Selbstvertrauen. Ja, die Russen wollen mit dem Ukraine-Krieg die europäische Sicherheitsordnung verändern, und das können wir ihnen nicht durchgehen lassen. Unser Haus brennt, aber wir werden das Feuer löschen. Es gibt auch keinen Grund zu Pessimismus. Wir in Europa sind 400 Millionen, die zu den Reichsten der Welt zählen, während Russland, und er erinnerte an Senator McCains Worte, doch nur eine "Tankstelle mit Atomwaffen" sei. (Das Auditorium hat das gerne gehört.)
Andererseits war sich die Runde einig, dass diese "Tankstelle" immer neue hybride Bedrohungen produziert wie etwa die Bedrohung der unterseeischen Infrastruktur (Anmerkung: Diese Sorge entstand nach dem Anschlag auf Nordstream), jede Menge russischer Spione in der EU entdeckt werden, oder Russland Mordpläne schmiedet bzw. umsetzt, man denke nur an die (Anmerkung: angeblichen) Attentatsplanungen auf den Rheinmetallchef … (Anm.: Herr Plötner war nicht sehr gesprächig bei dem ganzen Thema.)
Durch eine solche Brille betrachtet, fällt mir auch die eine oder andere hybride Bedrohung Russlands durch den Westen ein. Manchmal steht so etwas wegen "Plaudertaschen" in der New York Times oder in der Washington Post. Hatte sich nicht erst kürzlich die CIA gerühmt, wie sie mit Hilfe der Ukraine Russland ausspioniert, bzw. den ukrainischen Kolleginnen und Kollegen das gezielte Töten beibrachte? Dass die dann das Gelernte auch anwendeten, wer hätte das gedacht! Aber egal.
In Fällen hybrider russischer Kriegführung galt nach Wsewiow nur eins: Härte zeigen und sich nicht fürchten. Denn Furcht macht die Russen stark. Überhaupt darf man den Russen nicht auf den Leim gehen, auch nicht, wenn die von Friedensverhandlungen reden. Das ist alles gelogen.
Estland ist, da war sich Wsewiow sicher, "existenziell" bedroht (Anm.: weil Putin nicht den Plan aufgegeben habe, Estland zu schlucken, als Puffer gegen die Nato), zumal "wir nordischen Völker", so Wsewiow, mit diesem Begriff nicht so leichtfertig umgehen.
Da das ganze Panel davon ausging, dass die russische Bedrohung groß und anhaltend ist, beschränke ich mich hier nur auf die Verwendung des Begriffes "existenziell". Wie Wsewiow denke ich ebenfalls, dass dieser Begriff unterschiedlich verstanden wird, aber dieser Unterschied besteht nach meiner Wahrnehmung nicht kleinräumig im Norden Europas, sondern die Trennlinie verläuft mehr oder weniger an der Elbe.
Östlich der Elbe bis hin zur pazifischen Küste Russlands wird unter "existenziell" tatsächlich eine Situation auf Leben und Tod verstanden, während diese inhaltliche Zuspitzung westlich der Elbe beim Gebrauch dieses Wortes nicht notwendigerweise eingeschlossen ist.
Alles in allem war es eine sehr aufschlussreiche Diskussion, die ich gerne zum Nachhören und Nachdenken empfehle.
Dieser Text erschien zuerst auf der Substack-Seite von Petra Erler.
Petra Erler ist Geschäftsführerin der Strategieberatung European Experience Company GmbH. 1990 war sie nach den ersten freien Wahlen in der DDR Staatssekretärin für Europäische Angelegenheiten. Von 2006 bis 2010 war sie die Kabinettschefin von EU-Kommissar Günter Verheugen.