Vor zwanzig Jahren, als die USA Putin waren
Seite 2: Leichen-Patrouillen
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Und all das ist nichts im Vergleich zu dem, was das US-Militär den Irakern angetan hat.
Es sollte nicht überraschen, dass Präsident Bush, Vizepräsident Dick Cheney, Verteidigungsminister Donald Rumsfeld, sein Stellvertreter Paul Wolfowitz und die anderen Architekten eines der größten außenpolitischen Fiaskos, das Amerika in den 246 Jahren seines Bestehens erlebt hat, die unverfrorene Lüge unterstützen konnten, dass sie eine neue Art der Kriegsführung erfunden hätten, die keine nennenswerten zivilen Todesopfer und Verletzte fordert.
Wohlgemerkt, sie haben auch eine ganze Reihe von Lügen über die nicht vorhandenen Verbindungen des irakischen Diktators Saddam Hussein zur Terrorgruppe al-Qaida und seine angeblich aktiven biologischen und nuklearen Waffenprogramme verbreitet.
Im Gegensatz zu den unbedachten Äußerungen von Präsident Bush stieg die Zahl der Todesopfer im Irak mit dem Fortschreiten der Kämpfe immer weiter an. US-Kampfjets bombardierten routinemäßig Ziele in dicht besiedelten irakischen Städten.
Einige amerikanische Truppen verübten Massaker, ebenso wie Blackwater-Söldner, die für das US-Militär arbeiteten. Während des Bürgerkriegs von 2006 bis 2007, der aus der US-Besetzung des Landes hervorging, musste die Polizei von Bagdad eine ständige Leichen-Patrouille einrichten, die zu Beginn jedes Arbeitstages Karren mit menschlichen Überresten auflud, die über Nacht von rivalisierenden Milizen auf die Straße geworfen worden waren.
In den Jahren nach der Bush-Invasion erzählte mir eine irakische Witwe aus der südlichen Hafenstadt Basra, dass ihre Familie nur knapp einem Angriff von Mitgliedern eines ärmlichen, vertriebenen Beduinen-Stammes, den sogenannten Marsch-Arabern entkam, die damals in der Stadt Schutzgeld erpressten. Die Flucht der Familie kostete sie ihr gesamtes Bargeld. Zudem mussten sie ein Festmahl für die Stammesangehörigen ausstatten.
Entschlossen, ihre Lebenssituation zu verbessern, kandidierte der Mann des Hauses für ein öffentliches Amt. Eines Tages – er war gerade in sein Auto gestiegen, um in den Wahlkampf zu ziehen –, tauchte plötzlich ein maskierter Angreifer auf und schoss ihm aus unmittelbarer Nähe in den Kopf. Seine in Tränen aufgelöste Witwe erzählte mir, dass sie diesen Anblick nie verwinden werde. Solche Ereignisse waren damals keine Seltenheit.
Als der Islamische Staat im Irak und in der Levante (ISIL) – die aus der US-Besatzung des Landes hervorgegangene Terroristensekte – 2019 endgültig besiegt wurde, starben nach Schätzungen des Costs of War Project der Brown University rund 300.000 Iraker "durch direkte kriegsbedingte Gewalt, die von den USA, ihren Verbündeten, dem irakischen Militär und der Polizei sowie von Oppositionskräften ausgeübt wurde".
Vielfach mehr wurden verwundet oder verkrüppelt. Hunderttausende von Witwen mussten ohne ihre Ehemänner, die die Familien ernährten, über die Runden kommen, und einige von ihnen wurden dazu verdammt, ein Leben lang betteln zu müssen.
Eine noch größere Zahl von Kindern verlor einen oder beide Elternteile. Dabei ist zu bedenken, dass diese Zahlen nicht die Iraker einschließen, die an indirekten kriegsbedingten Ursachen starben, wie dem Zusammenbruch der Trinkwasser- und Stromversorgung durch US-Bombenangriffe und Schäden an der Infrastruktur des Landes.
Das amerikanische Vorbild im Irak
In der ersten Phase des Kriegs, während der Bush-Jahre, wurden vier Millionen Iraker vertrieben, von denen etwa 1,5 Millionen das Land verließen, während der Rest im Inland umherirrte. Viele konnten nie wieder nach Hause zurückkehren.
Im Sommer 2008, als ich in Amman, Jordanien, Interviews mit irakischen Flüchtlingen führte, aß ich mit einem Ehepaar, er Architekt und sie Ärztin, zu Abend. Ich erwähnte, dass das Schlimmste des Bürgerkriegs vorbei zu sein schien, und fragte, ob sie planten, nach Bagdad zurückzukehren. Der Mann war Sunnit, seine Frau Schiitin.
Sie erklärte, dass sich ihr Haus in einem gehobenen schiitischen Viertel befinde und sie Angst hätten, zurückzukehren, da viele Viertel von der jeweils rivalisierenden Sekte ethnisch gesäubert worden seien.
Ein anderer Mann – nennen wir ihn "Mustafa" – lebte damals im Exil in den Slums von Ost-Amman. Die Mitglieder seiner sunnitischen irakischen Familie, denen eine Arbeitserlaubnis verweigert wurde, lebten von ihren schwindenden Ersparnissen. Seine Frau dachte daran, als Näherin zu arbeiten, um über die Runden zu kommen.
Mustafa erklärte, dass er im Briefkasten seiner alten Wohnung in Bagdad einen Umschlag von einer militanten schiitischen Miliz erhalten hatte, in dem stand, dass er und seine Familie in 24 Stunden tot sein würden, wenn sie noch dort wären. Also packten er und seine Frau sofort alles, was sie unterbringen konnten, in ihr Auto, weckten die Kinder und fuhren die neun Stunden nach Amman.
Mustafa zögerte. Er sah sich um und senkte seine Stimme. Er hatte, wie er sagte, sogar in Jordanien Drohbriefe erhalten und war in eine andere Wohnung gezogen. Die Miliz beobachtete ihn immer noch und habe wahrscheinlich die irakische Gemeinschaft der Auswanderer infiltriert. Nein, er und seine Frau könnten nicht nach Bagdad zurückkehren, versicherte er mir.
Unter dem Besatzungsregime der USA gab es keine Sicherheit für irgendjemanden. Vor zwei Jahrzehnten lösten die von Bush dafür Beauftragten die alte irakische Armee auf und unterließen es, eine wirksame neue Armee auszubilden oder eine professionelle Polizei aufzubauen.
Ich besuchte Bagdad im Mai 2013 während der Unterbrechung zwischen den beiden amerikanischen Offensiven im Irak, um an einer internationalen Konferenz teilzunehmen. Unsere freundlichen irakischen Gastgeber führten uns in das Nationalmuseum und in nette Restaurants.
Dazu mussten wir uns allerdings in weiße Lieferwagen zwängen, die von Fahrzeugen der irakischen Armee umringt waren, die alle anderen Verkehrsteilnehmer mit Gewalt aus dem Weg räumten und dafür sorgten, dass unser Konvoi nie zum Stillstand kam, um nicht in einen Hinterhalt zu geraten.
Bushs katastrophaler Angriffskrieg ist ein vergiftetes Geschenk, das nicht aufhört zu wirken. Die Zerrüttung der irakischen Gesellschaft und der irakischen Regierung durch diese Invasion ebnete letztlich den Weg für den ISIL, der 2014 40 Prozent des irakischen Territoriums erobern konnte.
Sechs Millionen Iraker flohen vor den brutalen Kult-Anhängern, und 1,5 Millionen von ihnen sind immer noch auf der Flucht. Einige flohen in die Türkei, wo ihr Leben erst kürzlich durch die Erdbeben vom Februar 2023 zerstört wurde.
Heute sind die Kassen des irakischen Staats leer, obwohl das Land seit 2003 500 Milliarden Dollar an Öleinnahmen hätte erzielen müssen. Korruption und Ineffizienz sind zu einem Markenzeichen der neuen Ordnung geworden.
Die von den USA eingesetzte instabile Regierung, die von schiitischen religiösen Parteien dominiert wird, hat seit 2018 drei Ministerpräsidenten erlebt. Die Zuversicht des Journalisten Jonah Goldberg, dass die Iraker die neue Verfassung, die 2005 unter amerikanischer Herrschaft ausgearbeitet wurde, lieben würden, ist völlig unangebracht.
Goldberg ist ein Beispiel für jene Intellektuellen, die den Krieg befürworten und darauf beharren, dass ihre rechte Politik ihnen ein besseres Urteilsvermögen über ein Land verleiht, über das sie tatsächlich so gut wie nichts wissen.
Im Irak selbst sind in den letzten Jahren immer wieder junge Menschen auf die Straße gegangen und fordern, dass die Regierung wieder elementare Dienstleistungen zur Verfügung stellen soll. Der derzeitige Premierminister, Mohammed Shia' al-Sudani, steht den vom Iran unterstützten Milizen nahe, die inzwischen eine überragende Rolle in der irakischen Politik spielen.
Wenn jemand den Irak-Krieg gewonnen hat, dann war es der Iran.
Ökonomen schätzten, dass die Kosten des Irak-Kriegs für die Vereinigten Staaten bereits vor der ISIL-Offensive 2014 bis 2019 sechs Billionen Dollar betrage, wenn man die Versorgung verwundeter Veteranen für den Rest ihres Lebens hinzurechnet. Ohne die im Irak vergeudeten Gelder wäre die Staatsverschuldung in den USA geringer als unser jährliches Bruttosozialprodukt, sodass wir uns heute, im Jahr 2023, in einer viel günstigeren wirtschaftlichen Lage befinden würden.
Wie im gegenwärtigen Russland führte die Kriegsmentalität der 2000er-Jahre in den USA zu heftiger Intoleranz gegenüber Andersdenkenden und einer Ablehnung von gesellschaftlicher Vielfalt auf der Rechten, die sich nun immer weiter entfaltet.
Heute proklamiert die US-Regierung angesichts des brutalen Einmarsches Russlands in die Ukraine, dass man für die "Charta der Vereinten Nationen" und eine "regelbasierte internationale Ordnung" eintreten müsse. Diese Ordnung missachte jedoch jenes Land, das Washington als den wahren internationalen Verbrecher auf dem Planeten Erde ansieht, nämlich Putins Russische Föderation.
Die russische Wirtschaft wird daher wie die iranische behandelt und unerbittlichen Sanktionen und Boykotten ausgesetzt. Die vom republikanischen Senator Lindsey Graham von South Carolina unterstützte Senatsresolution fordert vom Internationalen Strafgerichtshof – dessen Autorität die USA nicht einmal anerkennen –, russische Beamte wegen Kriegsverbrechen vor Gericht zu stellen.
Graham war einer der Hauptbefürworter des illegalen Irak-Kriegs. Heuchelei in einem solchen Ausmaß ist für ein Land, das immer noch die Weltmacht auf diesem Planeten sein will, nicht überraschend. Rückblickend, am 20. Jahrestag der grauenvollen Entscheidung, in den Irak einzumarschieren, haben wir nicht nur unsere Glaubwürdigkeit im Globalen Süden verloren und jeglichen Respekt fürs Völkerrecht eingebüßt.
Als Land haben wir auch unseren moralischen Kompass verloren. Jetzt, inmitten der russischen Verbrechen in der Ukraine, scheint es, dass wir uns auch nicht mehr erinnern können: an den Weg, den wir geebnet haben, an das Exempel, das wir im Irak statuiert haben, und an die Verbrechen, die damit einhergingen.
Dieser Artikel erscheint in Kooperation mit dem US-Magazin TomDispatch. Hier geht es zum englischen Original. Übersetzung: David Goeßmann.
Juan Cole ist Richard P. Mitchell-College-Professor für Geschichte an der Universität von Michigan. Er ist der Autor von "The Rubaiyat of Omar Khayyam: A New Translation From the Persian" und "Muhammad: Prophet of Peace Amid the Clash of Empires". Sein neuestes Buch ist "Peace Movements in Islam". Sein preisgekrönter Blog ist Informed Comment. Er ist auch ein Fellow des Zentrums für Konflikt- und humanitäre Studien in Doha und von Democracy for the Arab World Now (DAWN).
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