Wann lösen die Neuen Medien endlich ihre Versprechungen ein!

Überlegungen zum Meltdown Neuer Medien anlässlich des Rotterdam Film Festivals 1999

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Nun da die Aktien von Amazon.com seit Ende Januar dieses Jahres ständig fallen, übertreffen sich Finanzanalytiker auf der ganzen Welt in ihren Kolumnen gegenseitig darin, den Untergang dieses kommerziellen Internet-Traums vorherzusagen. Die resultierende Welle von Artikeln über die platzende Internet-Aktien-Seifenblase wies ganz richtig darauf hin, daß Online-Verkäufe einfach nicht so viel wert sind: sogar wenn Online-Verkäufe in den USA zum Beispiel (wie von Forrester Research vorausgesagt) in vier bis fünf Jahren Einnahmen von mehr als $100 Milliarden erreichen, wäre das immer noch nur ein Anteil von 5% am gesamten Volumen von Einzelhandelsverkäufen - ein winziger Anteil am gesamten Markt, der keinesfalls den absurden Wert rechtfertigen kann, der den großen und erfolgreichen Firmen im Netz zugeschrieben wird.
Netzaktien haben sich zu lange auf ihre Online-Zukunft verlassen: der Markt, der aus seinen prahlerischen Träumen einer vergoldeten Zukunft erwacht, scheint plötzlich genau wissen zu wollen, was diese Unternemen jetzt wert sind. Aktienpreise von Unternehmen, die auf blauäugige finanzielle Vorhersagen für das gesamte Netz aufbauen, scheinen plötzlich nicht mehr auszureichen, und für Anfänger im Silicon Valley scheint es Zeit zu sein einzusehen, daß man ohne soliden Geschäftsplan im Hintergrund - und eine echte Idee, um Geld zu machen - keine Gewinne einstreichen kann.

Schon der Titel des Melting Media Programmes beim International Film Festivals in Rotterdam im Januar dieses Jahres deutete auf eine unangenehme Zweideutigkeit hin: mitten im Hype um die grenzenlosen und interaktiven Möglichkeiten des Netzes war auch das Gefühl spürbar, daß die Medienpraktiken im Netz dieses Jahr letztendlich ihrem Schmelzprozess ins Auge blicken müßten, nachdem sie nach Jahren der leeren Versprechungen, daß Ergebnisse nicht mehr lange auf sich warten lassen würden, an der Einlösung dieser Versprechen gescheitert sind.

Ja, wir haben gesehen, daß man das Netz in seinem angenehm wettbewerbsorientierten Umfeld dazu benutzen kannn, Computer, Bücher, Autos und den American Dream im allgemeinen an die Zielgruppen ABC1 zu verkaufen, aber es ist nur das alte Mail-Order Spiel, das uns in einer protzigen, elektronisch verkleideten Form begegnet. Und Kunden beginnen, mit ihrer üblichen wölfischen Genauigkeit, darauf hinzuweisen, daß die herrausragendste ökonomische Eigenheit des Netzes - Disintermediation oder die Möglichkeit, den Mittelsmann zu umgehen - sogar für die solidesten unter den Online Verkaufsmarken in den nächsten Jahren Probleme mit sich bringen wird. Man muß nur das beunruhigende Phänomen von Buy.com betrachten (das die Herstellerpreise substantiell unterbietet und den Fehlbetrag durch Werbung wieder herinbringt) um zu sehen, wie sogar relative Giganten im Netz, wie Amazon, in der nicht allzu fernen Zukunft ernsthafte Konkurrenz von den Kleinstfirmen, welche auf die Gewinnspannen drücken, zu erwarten haben.

Wo bleibt die Killer Application

Kein Wunder also, daß am Online Inhaltsmarkt die Auswirkungen dieses endlosen Hypes spürbar werden, Amen. Man würde annehmen, daß die Neue Medien Industrie sich beeilt, eine neue Killer-Anwendung zu produzieren, um damit den Finanziers zu beweisen, daß das Netz noch immer der Ort ist, an dem die Zukunft liegt und daß es immer noch der Ort für das Geld eines cleveren Investors ist: das sollte das Jahr sein, in dem die Neuen Medien endlich ihre verschiedenen Versprechen eines wunderbaren interaktiven Inhaltsparadieses einlösen - und zwar zur Gänze. Aber wenn man nach den Präsentationen bei Melting Media gehen kann, wird das nicht passieren; und sollten sich die Netzpraktiker in irgendeiner Form des ständig auf sie einwirkenden Marktdruckes und des Sortiments an finanziellen Seifenblasen, die rundherum platzen, bewußt sein, dann gab es unter den Vortragenden wenig Anzeichen davon.

Saskia Sassen, die damit vielleicht ihre Vergangenheit an der London School of Economics verriet, hatte sozusagen im Vorrübergehen etwas über den Zugriff auf diese mythischen, schwebenden Kapitalquellen zu sagen, die weder an direkte korporative noch an Regierungsinteressen gebunden sind, und ihr Vortrag über das Ende der Romantik im Netz ließ einen glauben, daß zumindest sie die Investmentprobleme, die um die Ecke lauern, erkannt hatte; aber darüberhinaus gab es den üblichen faulen Zauber.

Film-Business und Neue Medien Frust

Im Hauptteil des Film-Festivals versammelten sich angeheiterte Horden von Filmemachern, Mogulen, Journalisten und Kritikern um herauszufinden, wer kaufen, verkaufen und wer worüber schreiben würde: jede Vorstellung war ausverkauft; man konnte beim besten Willen keine Karte für einen guten Film bekommen. Auf dem eher weniger gut besuchten Melting Media hat Co-ordinatorin Femke Wolting hart daran gearbeitet, eine Veranstaltung auf die Beine zu stellen, die die gegenwärtige Situation der Neuen Medien genau rekapitulierte. Die gemischte Gruppe von Netzpraktikern, Theoretikern, Kritikern, Künstlern, Denkern und (es kann nicht höflich ausgedrückt werden) korporativen Dronen schien sich in seliger Unwissenheit um (oder vielleicht nur Sorglosigkeit) die großen Jungs draußen zu befinden, die über den Niedergang des Netzes sinnierten und die Filmrechte zum nächsten Blockbuster aufteilten. In der Gemeinde der Netzpraktiker stritt man sich hingegen noch immer um den richtigen Weg und sitzt weiter ohne ein marktfähiges Produkt in Sicht an der Startlinie fest.

In der Gesellschaft von alten Freunden, wie Andreas Broeckmann aus dem Publikum fröhlich bemerkte, (der allgegenwärtige CAD Kurs des Royal College of Art, das Mongrel Kollektiv, das Niederländische Design Institut, der selbstgefällige Haufen von Razorfish, das deutsche Kunstkollektiv ART + COM und das osteuropäische kuratierte Projekt art.teleportacia waren alle bei der Veranstaltung durch Repräsentanten vertreten, während im Hintergrund die hellen Funken der Netzkritik leise verglühten), machten sich die Teilnehmer von Melting Media für ein weiteres Wochenende am Netzkarussell bereit.

Es wurden erstaunlich wenige Versuche unternommen, das Versagen der Neue Medien Industrie zu verbergen, mit etwas aufzuwarten, das diesen Namen verdient. Moderator John Wyver von der Gruppe Illuminations kommunizierte vor allem seine kaum verdeckte Obsession mit dem noch nachklingenden Scheitern seiner persönlichen, schrecklichen, auf VR aufbauenden Gameshow vom letzten Jahr (dieses Scheitern hat er übrigens schon vor Tausenden von Zuhörern bei der Doors of Perception Konferenz bedauert). Er verlangte verbissen von jedem einzelnen Teilnhemer die Preisgabe peinlicher Details von Userreaktionen auf ihre verschiedenen Projekte. Wyver wollte ganz offensichtlich von allen ein Geständnis, daß ihre wertvollen Projekte ebenso schlecht aufgenommen worden waren, wie sein eigenes. Keine Chance. Gemäß der alten Tradition von Webarbeitern auf der ganzen Welt, behalten Leute ihre Serverstatistiken für sich. Sollte es unter den Projekten, die vorgestellt worden waren, einen durchschlagenden Erfolg gegeben haben, dann gab es niemand zu; aber es bekannte sich auch niemand zu einer eindeutigen Niederlage, was Wyver unglücklicherweise ein wenig wie jemand aussehen ließ, der sich selbst ein Bein stellt.

Die Auslieferung des Konsumenten an das Produkt

Was Melting Media aber dennoch bot, war ein prägnanter und wertvoller Blick auf die Neue Medien Industrie, die noch damit kämpft, mit den Bedingunen der Online-Interaktivität zurechtzukommen und noch immer aufs eifrigste um einen Weg bemüht ist, den User in die moderne Medienerfahrung einzubinden. Das ist der heilige Gral der Online-Inhaltsversorgung und wahrhaftig die wichtigste Komponente des vorgefertigten Vertrages mit den Ungeheuern des Kapitalismus, denen sich die Industrie im Voraus verschrieben hat und die bisher ihre Ausflüge finanziert hat. Die Wichtigkeit einer solchen User-Einbindung war diesen Ungeheuern, die schon immer den Wert einer Verkleinerung der Kluft zwischen Produktion und Konsum kannten, seit jeher bewußt.

Die Schließung des Kreises - so daß Konsumenten sich selbst zum Marktprodukt bringen und damit scheinbar die Bedingungen ihres Konsumes bestimmen - würde nicht nur die Restschuld des Kapitalismus beschwichtigen, seine Bevölkerung in diesem zivilisierten Jahrundert noch immer zu den guten Konsumenten erziehen zu müßen, die sie, wie man weiß, ja sein wollen, sondern würde das kapitalistische Projekt zu seiner bisher tödlichsten, effektivsten Form verfeinern: wenn Burroughs recht hatte, als er vor langer Zeit sagte, daß der Händler den Konsumenten an das Produkt verkauft, dann ist dieser Händler hier durch die Maschinerie ersetzt und der Konsument präsentiert sich freiwillig dem Produkt.

Diese Absicht hat sich während des letzten Jahres, als die Neue Medien Industrie immer verzweifelter versuchte, ihren Vertrag zu erfüllen, eindeutig erwiesen und eine Reihe von mythischen Formen angenommen: Kinder, die ihre eigenen Ausbildungswerkzeuge erschaffen werden; Zuseher, die ihr eigenes Programm zusammenstellen und entscheiden werden, wie sich die Narration dieser Programmme entwickelt; Käufer, die ihre Einkäufe bis ins kleinste definieren werden; dafür waren die Milliarden Dollar von Kapital bestimmt und die Neue Medien Industrie ist völlig daran gescheitert, diese Versprechen auch einzulösen.

Das ist auch keine, ich wiederhole, keine Erfindung dieses Autors. Man achte zum Beispiel auf den Slogan in Douglas Gayetons Web-Projekt Waking Hours: "We Want Your Head", begleitet von der eher frösteln machenden Silhouette des noch einzusetzenden Subjektes. Das Projekt bot den jungen Proletarieren von Palo Alto die Chance, ihre eigenen Webtagebücher zusammengestellt aus Photos, Animation, Video und Ton zu kreieren, und Gayeton beschrieb hinterhältig, wie er diesen ungebildeten Teenagern beigebracht hat, zu "programmieren", eine plumpe und beleidigende Darstellung, die bewußt darauf aus war, die Kinder als diejenigen zu präsentieren, die die Bedingungen ihrer eigenen Vermittlung kontrollierten, was natürlich weder der Fall war noch jemals sein wird. Es ist ziemlich offensichtlich, daß sie, wie gute Dronen, genau die Art von Dokumentation produziert haben, die man von ihnen erwartetete, aber Gayeton und Leute seines Schlages wissen, daß sie gut aussteigen, solange sie es nur so aussehen lassen, als ob die Kinder alles unter Kontrolle haben.

Zwischen Inkompetenz und verfehlten Ansprüchen

Das war ein hervorragendes Beispiel, wie die Neue Medien Industrie es beinahe hinbekommt: Gayeton war sich sogar der skrupellosen Politik seines Projektes sehr bewußt, mehr davon am Ende dieser Kritik. Andere waren auf typischere Art inkompetent. Ayelet Sena, Produzentin einer Online Version der verachtenswerten amerikanischen Krimiserie Homicide zeigte - auf Video - Second Shift, ein spektakuläres computergeneriertes Intro für eine Online Episode, die offensichtlich so viel Bandbreite benötigte, daß man es nur noch als Scherz bezeichnen konnte. Sena sollte ihre Erfahrungen mit Netzmedien dazu nutzen, zu zeigen, wie man eine solche Serie in eine reichhaltige, interaktive Onlineerfahrung umwandeln könnte, zeigte aber in Wirklichkeit nur den mulitilinearen Trick, der, wie inzwischen beinahe jeder weiß, völlige Zeitverschwendung ist.

Der eigentliche Inhalt des Projektes war darüberhinaus so beleidigend, daß man vermuten kann, daß das Publikum jeglichen Kommentar auf den Verdacht hin verweigerte, daß es sich hier um einen unverständlichen Scherz handelte - die schrecklichen Details finden sich auf www.nbc.com/homicide. Letztendlich ließ Sena, immer noch selig auf der Welle des Netzenthusiasmus im Land der korproativen Medien reitend, auch noch ganz nebenbei durchblicken, daß die Produzenten von Homicide mit Geldern für ihr Projekt nur so um sich geworfen hatten, ohne genau zu wissen, was sie eigentlich taten. Das ist derzeit eine ganz normale Situation, aber eine, die bald zu einem Ende kommen wird: Sena sollte weniger Zeit mit Prahlereien verbringen und lieber eine Pause einlegen, um darüber nachzudenken, wie ein Projekt von solcher Ärmlichkeit und so schlechtem Geschmack in einer wirtschaftlichen Krise, sollte sie wirklich bevorstehen, überleben würde.

Anderswo verspürte man Mitleid für Entwickler, die, wie Gayeton es so treffend beschrieben hat, immer noch vergeblich versuchten, ihre Kamele (sprich: schwammige, megabiteverschlingende Konzepte) durch das Nadelöhr (sprich: die wertvollen Bandbreiten des Netzes) zu zwängen. ART+COM produzierte genau die Art von Projekt, das in Wyvers persönliche Tagesordnung paßt, eine (in beiden Wortbedeutungen) phantastische kartographische Erfassung Berlins in einer von fatalen Fehlern befallenen 3D-Umgebung. Nachdem sie vier Jahre darauf verwendet hatten, ein einfallsreiches, wenn auch eigenwilliges System zur Katalogisierung von 2D Filmarchiven in einem virtuellen Raum zu erschaffen, war ART+COM gezwungen zuzugeben, daß das Projekt auf Grund seiner beinahe völligen Impraktikabilität nicht Online laufen kann. Daher wurde die Arbeit von ART+COM, wieder einmal, auf Video gezeigt.

Tatsächlich war Oliana Lialina von art.teleportacia die einzige Vortragende, die ich sah, die ihre Arbeit, eine Web-Galerie, die Netzkunst ausstellt und verkauft, nicht auf Video präsentierte und tatsächlich versuchte, das Internet vor den Augen des Publikums zu benutzen. Oliana sprach in erfrischend jargonfreiem Ton: wie Sassen bemerkte auch sie, daß die heroische Romantik im Netz vorüber sei und sprach über Online Projekte, die sich auf die inhärenten Qualitäten des Mediums konzentrieren und die andere Ziele für sich wählen als den Mythos der multilinearen Interaktivität. Zu Olianas Pech hatten so wenige Vortragende versucht, die Netzverbindung, die zur Verfügung stand, zu nutzen, daß niemand im Produktionsteam bemerkt hatte, wie langsam sie war oder versucht hatte, das Problem zu beheben. Daher wurde Olianas Arbeit (mit Sicherheit die interessanteste und aufregendste der Veranstaltung) sehr schlecht präsentiert.

All das soll keine Kritik an den Veranstaltern von Melting Media oder dem Rotterdam Film Festival im Gesamten sein: die Organisatorin Femke Wolting hat eine denkwürdige und gut inszenierte Veranstaltung auf die Beine gestellt, die viele Besucher genossen haben. Eher soll es darauf hinweisen, daß die Konferenz die Aufmerksamkeit eindeutig auf den tödlichen Mangel im Zentrum der Neuen Medienpraxis gelenkt hat. Für jeden Leser, der in Betracht zieht, daß die junge Gemeinschaft der Netzentwickler unfähig ist, sich gegen so ätzende Ansichten wie diese zur Wehr zu setzen, oder daß diese Gemeinschaft sich der politischen Dimensionen ihrer Anstrengungen noch nicht völlig bewußt sein mag, würde ich letztlich auf das Video, das von Douglas Gayeton zum Abschluß des Transforming the Documentary Seminars unter der allgemeinen Zustimmung und zur Freude des Publikums gezeigt wurde, verweisen.

In diesem Video parodiert Gayeton die in der Tradition des Luddismus stehende Reaktion auf die Neuen Medien in einem überzogenen Orwellschen Alptraumszenario, in dem das Fernsehprogramm den Zusehern einzeln präsentiert wird: wenn der Zuseher sich hinsetzt, führt der Fernseher einen Scan der Netzhaut durch und indiziert das Muster in einer Datanbank, mit der Programmentscheidungen getroffen werden. Diese Art von pointcasting ist, wenn auch nicht der Hauptpunkt der Neuen Medien, doch eine seiner wichtigsten Komponenten: und Gayetons Video könnte sehr eindrucksvoll dazu dienen, eine kritische Reaktion auf das Projekt zugunsten des Scherzes abzuwürgen - denn niemand will sich blamieren, indem er Einwände vorbringt, über die man sich schon lustig gemacht hat. Das ist die ausgeklügelte und hinterhältige Taktik einer Industrie, die bereits sehr geschickt darin ist, ihre verschiedenen Lügen abwechselnd zu verkaufen und zu verstecken; am Ende verließ man Melting Media ganz froh darüber, daß dieses Raffinement von genügend Inkompetenz begleitet ist, um die Erfüllung des faustischen Paktes mit dem Kapital zu verhindern. Trinken wir auf eine schnelle Zwangsvollstreckung der Netzentwicklung; trinken wir auf die platzende Seifenblase und eine Pause an der Grenze des Netzes. Trinken wir, mit einer Entschuldigung an die Organisatoren, auf einen Meltdown der Neuen Medien.

Übersetzung: Barbara Pichler