Warum Europa ein größerer Krieg bevorstehen könnte

Schattenriss eines Soldaten vor EU-Fahne

Bild: Roman Barkov, Shutterstock.com

Nato-Strategen scheinen zu glauben, dass der Druck auf Russland wächst. Moskau sei zu Waffenstillstand gezwungen. Doch das ist wohl ein Trugschluss. Ein Gastbeitrag.

Die Gefahr nimmt zu, dass der Krieg in der Ukraine auf Europa übergreift. Noch nie hat ein europäischer Krieg in dem Ausmaß gedroht, wie das heute der Fall ist.

Militärexperten sind sich zumeist einig, dass die Ukraine den Krieg gegen Russland langsam, aber unaufhaltsam verliert. Doch was bedeutet das?

Oberflächlich betrachtet hat die Ukraine nicht genug Soldaten, um den Kampf gegen die Russen noch lange fortzusetzen. Die Zahl der Toten in der Ukraine geht wohl in die Hunderte pro Tag. Wegen der hohen Opferzahlen ist von einer "Knochenmühle" die Rede.

Russland verfügt über eine große Reserve an ausgebildeten Kämpfern, die auf etwa eine halbe Million geschätzt wird; die Ukraine hat fast kaum Reserven, die nicht bereits eingesetzt wurden.

Russische Strategie unklar

Dennoch ist die russische Strategie für das Endspiel undurchsichtig. Manchmal sprechen die Russen davon, eine "Pufferzone" einrichten zu wollen, um russisches Territorium vor Angriffen zu schützen.

Die Stationierung von ballistischen Langstreckenraketen und Marschflugkörpern schließt jedoch eine Pufferzone aus, es sei denn, sie würde fast bis zum Fluss Dnepr reichen. Selbst dann würde eine Pufferzone die von Russland kontrollierten Gebiete Saporischschja und die Krim nicht schützen.

Die Nato stellt nun F-16-Kampfflugzeuge für die Ukraine zur Verfügung, die offenbar auch von rumänischen Flugplätzen aus operieren sollen. Sie werden mit weitreichenden JASSM-Marschflugkörpern und AIM-120-Luft-Luft-Raketen ausgerüstet sein.

Wird Russland die entsprechenden rumänischen Luftwaffenstützpunkte zerstören, oder wird die Nato von der Idee Abstand nehmen, Fliegerhorste auf dem eigenen Gebiet für den Einsatz von F-16-Flugzeugen zur Verfügung zu stellen, die, wie Beobachter aufgrund ihres Standorts vermuten, die Krim ins Visier nehmen könnten?

Die Angriffe auf die Krim

Die Krim ist für Russland ein sensibles Thema. Vor kurzem hat die Ukraine schwere Salven von Langstreckenraketen auf Ziele auf der Krim abgefeuert, darunter Flugplätze und Häfen, insbesondere in Sewastopol. Es wird vermutet, dass sie demnächst erneut versuchen wird, die Brücke von Kertsch zu zerstören.

Die meisten dieser Raketen wurden von der Nato (vorwiegend von den USA) geliefert, und alle haben Ziele, die auf von der Nato gelieferten Koordinaten basieren.

Die Nato setzt Spionageflugzeuge, Langstreckenradare und Satelliten ein, um die genauen Koordinaten für ihre ukrainischen Kunden zu ermitteln. Die Russen, die auf ihre Luftabwehr angewiesen sind, um die meisten Angriffe abzuwehren, haben sich zu den Angriffen eher bedeckt gehalten.

Die Angriffe auf der Krim dienen keinem militärischen Zweck, da die Ukraine nicht über die notwendigen Bodentruppen verfügt, um eine Schlacht um die Halbinsel zu führen. Das Ziel ist, die Russen zu demütigen. Doch diese Strategie könnte eine gegenteilige Wirkung haben.

Wie reagiert Russland?

Wenn der Druck erhöht wird, ist zu erwarten, dass Russland mit noch größerer Gewalt antwortet und – getrennt oder in einer Großaktion – Charkiw, Odessa oder Kiew angreift.

Stephen Bryen war Stabschef des Unterausschusses für den Nahen Osten im Auswärtigen Ausschuss des US-Senats.

Russland verfügt über mehr Langstreckenraketen, als die Nato liefern kann, und Kiew hat nicht genügend widerstandsfähige Luftabwehrsysteme, um seine Städte vor der Zerstörung zu schützen. Was ist also die Strategie der Nato, außer Russland zu bestrafen, während die Ukraine ihren Krieg verliert?

Den Preis für Moskau in die Höhe treiben

Es scheint, dass die Nato den Russen klarzumachen versucht, dass der Preis für ihre Niederlage in der Ukraine sehr hoch sein wird. Einige Akteure bei der Nato glauben vielleicht, dass der Druck innerhalb Russlands zunehmen wird, sich zurückzuziehen und die jüngsten Offensivoperationen einzustellen, vielleicht sogar einen Waffenstillstand anzustreben.

Leider gibt es keinen Grund zu der Annahme, dass Russland davon überzeugt werden kann, sein militärisches Vorgehen gegen die Ukraine einzustellen oder einen Waffenstillstand in Erwägung zu ziehen. Auch wenn viel über einen Waffenstillstand geredet wird, wäre er für die Ukraine von Vorteil, nicht für Russland.

Russische Atom-U-Boote vor Kuba

Die Russen haben ihre eigene Botschaft an Washington gesandt, indem sie unlängst russische Kriegsschiffe und Atom-U-Boote nach Kuba geschickt haben.

Ob Washington das "verstehen" wird, ist unklar. Alles deutet eher in die andere Richtung: Russland wird durch die Angriffe auf sein Territorium und die Krim zunehmend herausgefordert.

In der russischen Führung wird derzeit Druck ausgeübt, die Angriffe auf ukrainische Ziele deutlich zu verstärken. Diese Botschaften wurden in einer Reihe von privaten Treffen während des Wirtschaftsgipfels in St. Petersburg in diesem Monat übermittelt.

Unmut auf der zweiten Ebene in Moskau

Putin sagte es nicht, zumindest nicht laut, aber die nächsttiefere Ebene der russischen Führung brachte ihre Wut und Frustration zum Ausdruck und wollte sowohl die Ukrainer als auch die Nato angreifen.

Einige europäische Staats- und Regierungschefs, insbesondere der französische Präsident Emmanuel Macron, könnten sich für einen größeren Krieg entscheiden, um zu versuchen, die öffentliche Meinung zu ihren Gunsten zu beeinflussen.

Die Entsendung von Truppen und das Angebot von Kampfflugzeugen und anderen Waffen könnte als bewusste Entscheidung für einen größeren europäischen Krieg interpretiert werden. Die Tatsache, dass die USA hinter der Stationierung von F-16-Stützpunkten in Rumänien zu stehen scheinen, könnte Bidens Weg sein, einen Krieg in Europa auszulösen und seinem schwindenden politischen Ansehen entgegenzutreten.

Wird ein Krieg in Europa provoziert?

Vielleicht ist Biden aber auch gar nicht bewusst, dass sein Stab sich diese "neue" Strategie ausgedacht hat, um die Haut ihres Chefs zu retten.

Solche Ideen sind von Natur aus riskant, denn die Verteidigungsfähigkeit der Nato ist peinlich gering. Das Bündnis und die Zukunft Europas aufs Spiel zu setzen, nur um im Amt zu bleiben, ist an sich schon kritikwürdig, wenn es stimmt, wahrscheinlich kriminell.

Es gibt auch keinen Beweis dafür, dass die öffentliche Meinung einen größeren Krieg unterstützen würde. Es ist eher wahrscheinlich, dass es in Europa eine angestaute Antikriegsstimmung gibt, die sich sowohl von rechts als auch von links und wahrscheinlich auch in der politischen Mitte der Gesellschaft entladen wird.

Die Nato ist bereits gefährlich nahe daran, sich in ein aggressives Bündnis zu verwandeln und das könnte ihren Zerfall und ihre Ablehnung bedeuten.

Stephen Bryen war Stabschef des Unterausschusses für den Nahen Osten im Ausschuss für auswärtige Beziehungen des US-Senats und stellvertretender Unterstaatssekretär für Verteidigungspolitik. Sein Artikel ist im Original hier erschienen.