zurück zum Artikel

Warum auf die Pandemie kein Investitionsboom folgt

top

Der erhoffte Befreiungsschlag nach dem Pandemie-bedingten wirtschaftlichen Einbruch ist bislang ausgeblieben

Trotz massiver staatlicher Unterstützungsleistungen gibt es weder bei Konsumenten noch bei Investoren die erwartete Aufbruchsstimmung [1].

Die Konsumzurückhaltung der Privathaushalte wird in der Volkswirtschaftslehre vielfach auf Existenzunsicherheit und Zukunftsängste zurückgeführt. Gegenwärtig bestehen jedoch keine überhöhten Sorgen eines Arbeitsplatzverlusts oder von Reallohneinbußen. Als weitere Erklärung für vermehrte Spartätigkeit wird ein attraktives Zinsniveau angeführt, von dem aktuell nicht die Rede sein kann.

Die Hauptursache der mangelnden Konsumnachfrage lässt sich immer schwerer verleugnen: die Vertiefung der Kluft zwischen Arm zu Reich. Diese dauert bereits seit Jahrzehnten an und erreicht im Zuge der Anti-Corona-Maßnahmen neue Dimensionen [2].

In deren Folge sinkt der Anteil der Bezieher von mittleren und gehobenen Einkommen, sodass sich die Wahl zwischen Konsumieren und Sparen für immer weniger Privathaushalte stellt. Bei einer wachsenden Zahl von Bürgern reichen die Geldeinkünfte gerade zur Finanzierung der alltäglichen Ausgaben.

Indessen haben Einkommensveränderungen in reichen Haushalten keinen Einfluss auf das Konsumvolumen, da sie ihre Bedürfnisse und Wünsche ohnehin maximal befriedigen können. Vor diesem Hintergrund dürfte nicht einmal ein gestiegenes Verbrauchervertrauen den Konsum merklich ankurbeln.

Nun wird argumentiert, dass der coronabedingte Verzicht auf Urlaubsreisen und Freizeitaktivitäten einen Konsumstau herbeigeführt hat. Tatsächlich erhöhte sich bei mehreren Produktsegmenten die Nachfrage, was etwa die höheren Preise für Baustoffe belegen. Indem die gesparten Summen aber ausgegeben werden, schwächt sich der Konsumimpuls gleichzeitig ab. Sind die Geldmittel aufgebraucht, wird er größtenteils erloschen sein.

Kosteneinsparungen statt Erhöhung des Produktionswerts

Um Investitionsbereitschaft zu wecken, dürfte ein vorübergehend gestiegenes Kaufinteresse nicht ausreichen. Vielmehr müssen Unternehmen von der Beständigkeit einer höheren Nachfrage privater und staatlicher Endverbraucher überzeugt sein.

Nimmt nun der Konsum von Privatpersonen nur minimal zu und sind öffentliche Haushalte zu Einsparungen gezwungen, besteht für den Absatz von mehr oder teureren Produkten ein erhöhtes Risiko. Dann bietet auch kein niedriges Zinsangebot genügenden Anreiz für größere Investitionen. Die Leitzinspolitik der Zentralbanken stößt hier offenbar auf ihre Grenzen.

Angesichts der zurückbleibenden Endnachfrage ist nicht verwunderlich, dass die Investitionsquote in Deutschland wie auch anderswo in der westlichen Welt über einen längeren Zeitraum im Sinken begriffen ist [3]. Die Investitionstätigkeit konzentriert sich mittlerweile auf Ersatzbeschaffungen zur Aufrechterhaltung des vorhandenen Produktionsvolumens. Desgleichen dient sie der Erhöhung und Stabilisierung des Qualitätsniveaus durch den Einsatz neuer Technologien und besserer Kontrollinstrumente.

Nun sind Unternehmen aber bestrebt, ihre Gewinne zu steigern. Wenn dies nicht durch einen wertmäßig größeren Güterabsatz gelingt, verbleibt als Mittel die Nutzung von Einspareffekten. Neben höherer Produktivität durch fortgeschrittene Technologien bieten sich hierzu weitere Methoden an: Steigerung der Arbeitsleistung, effektivere Produktionsverfahren, Verminderung von Ausschuss, Auslagerung unrentabler Teilbereiche, Erschließung preisgünstigerer Bezugsquellen für Ausgangs- und Betriebsstoffe u.a.m.

Da sich aber der Verkaufswert der produzierten Güter nicht erhöht, implizieren die erzielten Gewinnsteigerungen Verluste für Lohnabhängige, Subunternehmen und Lieferanten. Dadurch wird im Endeffekt die Umverteilung von Arm zu Reich weiter vorangetrieben. Dies beeinträchtigt wiederum die Konsumnachfrage, sodass Investitionen noch stärker auf Kosteneinsparungen fokussiert sind. Es entsteht ein Teufelskreis.

Schwächere Dynamik durch vorsichtiges Agieren

Weil jedes Unternehmen bestrebt ist, Kosten zu senken, könnte nun angenommen werden, dass die Konkurrenzlage zu Preisnachlässen zwingt und sich die Gewinnerwartungen in Luft auflösen. Auf diesen Aspekt nahm Karl Marx Bezug [4], als er die maßgebliche Rolle des Wettbewerbs für die Entwicklung der Produktivkräfte hervorhob.

Die Dynamik des kapitalistischen Systems beruht nach seiner Theorie darauf, dass jeder Produzent "bei Strafe des Untergangs" investieren muss, was ihm kurzfristig höhere Profite einbringt. Indem er den Produktivitätsvorsprung zur Steigerung der Produktion nutzt, geht dieser Vorteil zwar tendenziell verloren, weil es zu einem Überangebot kommt und das Preisniveau sinkt. Da jedoch schwächere Konkurrenten ausgeschaltet werden, kann das Unternehmen seinen Marktanteil vergrößern und nach Stabilisierung der Preise einen dauerhaften Gewinnzuwachs erzielen.

Dieser Prozess, den Joseph Schumpeter als "schöpferische Zerstörung" bezeichnete, war zu einer Zeit prägend, als weitgehende Unkenntnis der jeweiligen Marktlage bestand. Es war diese faktische Blindheit, die periodisch zu Überproduktionen führte und Wirtschaftskrisen verursachte. Eine unvermeidliche Folge war die Vernichtung von Kapital.

Solche Gefahren sind in der Gegenwart angesichts des umfassenden und ständig aktualisierten Informationsangebots weitaus geringer. Unternehmen agieren vorsichtiger, und im Ernstfall verfügen Regierungen über ein Instrumentarium, mit dem sie gegensteuern können.

Dabei soll nicht ausgeschlossen werden, dass es für manche Unternehmen und Branchen rentabel ist, mittels Preisnachlässen den Kundenstamm zu vergrößern. Zuweilen werden auch Investitionen getätigt, die sich erst Jahre später auszahlen. Ein Beispiel ist der gewaltige Mitteleinsatz japanischer Autoproduzenten in Reparatur- und Vertriebsnetze während der 70er-Jahre, um die Märkte Westeuropas und Nordamerikas erobern zu können.

Größere, auf Expansion angelegte Investitionsschübe gibt es gegenwärtig allenfalls noch in China, Indien und anderen Ländern mit hohem Wachstum. Weshalb sie im wirtschaftlichen Einzugsbereich des Westens überwiegend der Vergangenheit angehören [5], hat strukturelle Ursachen. Da diese sich in Abhängigkeit von der Größe und Marktposition eines Unternehmens unterscheiden, sollen im Folgenden multinationalen Kapitalgesellschaften und mittelständischen Produzenten gesondert betrachtet werden.

Marktbeherrschung durch Oligopolstrukturen

Global agierenden Großkonzernen kommt ein wachsendes Gewicht zu. Nach einer Studie der ETH Zürich [6] ist die Kapitalkonzentration derart fortgeschritten, dass 147 Konzerne rund 40 Prozent jener 43.060 international tätigen Unternehmen kontrollieren, die in der Wirtschaftsdatenbank Orbis erfasst sind.

Da diese Zahlenangaben zehn Jahre alt sind, dürfte sich der Prozess weiter intensiviert haben. Indem die Anzahl der "Global Player" schrumpft, wird ein Boden für die Bildung von Oligopolen bereitet. Zugleich wird deren Tätigkeitsfeld erweitert, weil immer neue Wirtschaftssektoren von einer Konzentrationswelle erfasst werden.

Die Funktionsweise von Oligopolen wird durch die Spieltheorie beschrieben. Je geringer die Zahl der Mitglieder ist und je mehr sie voneinander wissen, desto eher lässt sich ein Nash-Gleichgewicht [7] erzielen. Dabei handelt es sich um einen Zustand, der jedem der Beteiligten einen größtmöglichen Nutzen bringt.

Im Kern geht es dabei um ein Austaxieren von Einzel- und Gruppeninteresse, was sich exemplarisch bei Profifußballern aufzeigen lässt. Einerseits wollen sie als Individuen brillieren, um ihren Marktwert zu erhöhen. Andererseits müssen sie mannschaftsdienlich spielen, damit das Team erfolgreich ist und öffentlich wahrgenommen wird.

Um zu gewährleisten, dass sich einzelne Konzerne Brancheninteressen unterwerfen, gibt es vielerorts personelle und Eigentumsverflechtungen. Ferner stärken gemeinsame Bezugsquellen und Vermarktungskanäle die gegenseitige Abhängigkeit, zugleich verschaffen sie Kostenvorteile. Explizite Preisabsprachen und Marktaufteilungen sind nicht erforderlich, da jeder ausscherende Akteur die Konkurrenten zu gleichen Schritten zwingen würde, was letztlich allen zum Nachteil gereicht.

Das Hauptaugenmerk der Mitglieder eines Oligopols ist auf die Kontrolle des Angebots gerichtet. Um das Preisniveau zu halten, darf nur so viel produziert werden, wie der Markt aufnehmen kann. Investitionen dienen vornehmlich Kosteneinsparungen, wodurch sich das Ertragsniveau steigern lässt. Deren weiterer Zweck ist die Erhaltung des technologischen Vorsprungs, um einem Einstieg von Außenseitern in den exklusiven Club der Marktführer vorzubeugen.

Innerhalb eines Oligopols finden gleichwohl Machtverschiebungen statt. Gewöhnlich beruhen sie auf technologischen Durchbrüchen oder erfolgreichen Verkaufsstrategien einzelner Akteure. Für den schwächeren Part empfiehlt sich in solchen Fällen ein freiwilliger Rückzug aus den betroffenen Teilmärkten.

Obgleich derartige Situationen eher eine Ausnahme darstellen, kommt es zuweilen zu drastischen Umwälzungen. Besonders betroffen sind Branchen mit hohem Innovationspotenzial. Ein Beispiel aus der jüngeren Vergangenheit ist der Aufstieg und Fall des Mobiltelefonherstellers Nokia während der Übergänge vom Festnetz zum Handy und vom Handy zum Smartphone.

Da Übereinkünfte zwischen Konzernen schwer zu belegen sind, erweist sich die Kartell-Gesetzgebung als stumpfes Schwert. Zudem wird sie von Regierungen oftmals bewusst ignoriert, wenn diese etwa nationale Flaggschiffe zu globalen Champions aufrüsten [8].

Zu dem breitgefächerten Arsenal gehören Vorleistungen bei Forschung und Infrastruktur, Steuerermäßigungen, günstige Finanzierungen, Lobbyismus im Ausland und sogar Sanktionen gegen globale Konkurrenten. Wiederholt beklagen internationale Organisationen wie IWF und WTO sowie die EU-Kartellbehörde eine Verzerrung des Wettbewerbs. Dennoch wird diese Praxis nicht nur beibehalten, sondern offen vorangetrieben.

Gefährdeter Mittelstand und ambivalente Erfahrungen bei Neugründungen

Im Gegensatz zu großen Konzernen sind mittelständische Unternehmen nicht durch Oligopolstrukturen geschützt. Dies macht sie verwundbar, soweit sie nicht eine wichtige Nische etwa im Technologiebereich besetzen. Das Streben nach gesichertem Absatz der eigenen Produktion tritt zunehmend an die Stelle von Gründerelan mit hoher Risikobereitschaft.

Einen gewissen Einfluss haben Generationswechsel, die allgemein von einer geringeren Identifikation mit dem Betriebsgeschehen begleitet werden. Der noch größere Anteil [9] von Familienunternehmen im östlichen und mittleren Deutschland mag hierdurch zu erklären sein.

Neben dem Zurückbleiben der Konsumnachfrage bilden der beschleunigte technologische Wandel und die Herausforderungen der Globalisierung ein unsicheres Umfeld. Besonders gefährdet sind Produzenten, die als Zulieferer oder verlängerte Werkbank transnationaler Konzerne fungieren. Da sie jederzeit durch Akteure in Billiglohnländern ersetzt werden können, müssen sie ständig um ihre Aufträge bangen.

Dass Eigentümer von Mittelstandsbetrieben riskante Investitionen meiden und stattdessen Teile ihres Vermögens in marktgängigen Wertpapieren anlegen, ist ihnen nicht zu verdenken. Ebenfalls dürften sie bereitwilliger Übernahmeangebote mächtiger Konkurrenten akzeptieren, die selbst eine marktbeherrschende Stellung anstreben.

Die vielen in letzter Zeit gegründeten Start-ups und Ich-AGs sind eine positive Erscheinung und schaffen ein gewisses Gegengewicht. Es werden einerseits neue Wirtschaftsbereiche erschlossen. Andererseits werden Arbeitskräfte absorbiert, die infolge von Kosteneinsparungen größerer Unternehmen freigesetzt worden sind.

Dennoch soll deren volkswirtschaftliche Bedeutung nicht überbewertet werden. Bis auf einige Ausnahmen wie der Spielindustrie und Teilen des Consulting-Business handelt es sich um Tätigkeitsfelder mit hohem Abbruchrisiko und geringen Einkünften. Mittels billiger Leistungsangebote nehmen die Newcomer [10] häufig alteingesessenen Unternehmen Aufträge weg.

Eine häufige Folge ist die Entlassung vernünftiger bezahlten Personals. Gleichwohl ist der Investitionsaufwand bei Unternehmensgründungen im Dienstleistungsbereich allgemein gering. Bei der Sharing Economy ist er faktisch null.

Aktuelle Maßnahmen der Investitionsförderung und ihre Schwachstellen

Die westlichen Industriestaaten wollen nun mittels massiver Beschaffungsprogramme den wirtschaftlichen Einbruch kompensieren, den die Bekämpfung der Corona-Pandemie verursacht hat. Davon erhoffen sich die Regierungen gleichermaßen eine Zunahme der privaten Interventionstätigkeit.

An vorderster Front steht die US-amerikanische Regierung [11], die bereits im letzten Mai ankündigte, 2,3 Billionen US-Dollar für Infrastrukturmaßnahmen bereitzustellen. Während der folgenden Debatte wurden, auch um die Zustimmung republikanischer Senatoren zu erlangen, erhebliche Abstriche vorgenommen. Übrig blieb schließlich eine Billion US-Dollar [12].

Ebenso gab es in der EU starke Widerstände, wodurch sich die Verabschiedung des geplanten Aufbaufonds verzögerte. Nach dem im Juli dieses Jahres erzielten Kompromiss reduziert sich der Umfang der direkten Zuschüsse auf 390 Milliarden Euro [13]. Der verbleibende Rest des Gesamtbetrags von 750 Milliarden Euro wird als Kredit gewährt.

Wirtschaftsexperten halten die Summen einerseits für unzureichend und machen andererseits auf Probleme bei der Mittelvergabe aufmerksam. Letzteres hat die "sparsamen Fünf" (Niederlande, Österreich, Dänemark, Schweden, Finnland) dazu bewogen, auf eine eingehende Prüfung der beantragten Projekte durch EU-Experten zu bestehen.

Dadurch soll ein sachgemäßer Einsatz der Gelder gewährleistet werden. Da die Entscheidungen hinter verschlossenen Türen gefällt werden, beklagt der DGB ein Demokratiedefizit [14]. Angesichts der starken Präsenz von Lobbyverbänden in Brüssel ist die Sorge nicht unbegründet. Auf jeden Fall entstehen erhebliche Verzögerungen, was sich nachteilig auf die Investitionsbereitschaft privater Wirtschaftsakteure auswirken dürfte.

In den USA ist die Lage noch prekärer. Deregulierung und Privatisierungen gemäß der neoliberalen Doktrin führten zu einem Verlust von Expertenwissen auf staatlicher und kommunaler Ebene. Zu befürchten ist, dass die Infrastrukturprogramme nicht durch Fachkräfte erstellt und umgesetzt werden, die sich gesellschaftlichen Interessen verpflichtet fühlen. Eine massive Einflussnahme der Wirtschaftslobby hatten schon früher verheerende Folgen.

Erinnert sei an den ungeklärten Verbleib von mehr als zwei Billionen US-Dollar Militärausgaben [15], wobei die Untersuchungen wegen der angeblichen Zerstörung von Dokumenten durch den 9/11-Pentagon-Crash eingestellt wurden.

Trotz der genannten Schwächen erscheint eine investitionsfördernde Wirtschaftspolitik als einziger Weg zu einem angemessenen und zugleich nachhaltigen Wachstum. Soweit Unternehmen in staatlichem oder kommunalem Besitz sind, fließen die vorgeschossenen Gelder großenteils in die Schatullen der Finanzämter zurück. Allerdings haben die Privatisierungen der vergangenen Jahrzehnte das öffentliche Eigentum an Produktionsstätten erheblich gestutzt.

Zwar entfalten staatliche Konjunkturprogramme ihre stimulierende Wirkung ebenso im privaten Sektor. Jedoch gelangen bei jeder Transaktion Teile der eingesetzten Finanzmittel auf die Konten reicher Privathaushalte [16] und verlieren damit ihre Nachfragewirksamkeit. Damit sich Unternehmen zu Investitionen animieren lassen, muss aber Gewissheit bestehen, dass die staatlichen Fördermaßnahmen dauerhaft greifen.

Begrenzte staatliche Finanzmittel durch Steuerflucht

Eine fortgesetzte Finanzierung ist folglich unausweichlich. Soll sie nicht durch eine unbegrenzte Staatsverschuldung erfolgen, verbleibt als Alternative die Anhebung von Steuern. Eine finanzielle Mehrbelastung von Privathaushalten mit mittleren und niedrigen Einkommen senkt jedoch die Konsumgüternachfrage. Es müsste also die reiche Oberschicht zur Kasse gebeten werden.

Wegen der Aufgabe von Kapitalverkehrskontrollen im Zuge der neoliberalen Wende ist deren höhere Besteuerung aber kaum durchsetzbar. Steueroasen und ein zunehmender Steuerwettbewerb der Staaten bieten reichlich Möglichkeiten, den Fiskus zu umgehen.

Ein erster Schritt zur Erweiterung des finanziellen Handlungsspielraums der Regierungen ist die im letzten Oktober erzielte Übereinkunft von 136 Staaten über eine Mindeststeuer [17].

Von der Regelung betroffen sind grenzüberschreitend tätige Großkonzerne. Da deren Gewinne in den meisten Industrieländern aktuell höher besteuert werden als durch die vereinbarten 15 Prozent, bleibt die Wirkung marginal. Auch soll die Regelung erst ab 2023 gelten. Zumindest wird das Problem des Steuerwettbewerbs thematisiert und weiteren Steuersenkungen ein Riegel vorgeschoben.

Die größten Einbußen erleidet der Fiskus durch die Verschiebung privater Vermögen in Offshore-Plätze, wo für Kapitalerträge nur minimale oder gar keine Steuern zu entrichten sind. Ferner gibt es sowohl für Privatpersonen als auch für Firmen eine Vielzahl legaler Steuersparmodelle, mit denen besonders kleinere Staaten um Kunden wetteifern.

Der jährliche Steuerverlust in der EU wird auf eine Billion Euro geschätzt [18] und liegt damit über dem Betrag des aktuell verabschiedeten Aufbaufonds. Allein mit dieser Summe ließe sich eine Investitionsförderung großen Stils realisieren, sodass auf Steueranhebungen weitgehend verzichtet werden könnte.

Trotz wiederholter Klagen führender Politiker wurden bislang keine effektiven Maßnahmen gegen die Steuerflucht ergriffen. Dass es offenbar am Willen fehlt, ist daran sichtbar, dass mit Jean-Claude Juncker einer der Hauptarchitekten des Finanzplatzes Luxemburg zum vorherigen EU-Kommissionschef ernannt wurde.

Zweifellos sind die Bürger der mittleren und unteren Einkommensklassen Hauptleidtragende der Steuerhinterziehung vermögender Haushalte. Doch kurioserweise sind diese auch selbst betroffen. Als Aktionäre wollen sie verständlicherweise ihren Besitzstand vergrößern. Indem sie jedoch der Staatsgewalt Steuermittel vorenthalten, erschweren sie eine Finanzierung von wirtschaftlichen Stimulierungsprogrammen, ohne die das Produktionsvermögen kaum wachsen dürfte.


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-6294273

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.ikb-blog.de/corona-pandemie-fehlende-resilienz-der-privaten-investitionen/
[2] https://corona-transition.org/die-dunkle-seite-der-corona-massnahmen
[3] https://de.irefeurope.org/Diskussionsbeitrage/Artikel/article/Investitionen-Lebt-Deutschland-von-der-Substanz
[4] http://www.marx-forum.de/marx-lexikon/lexikon_k/konkurrenz.html
[5] https://www.risknet.de/themen/risknews/iwf-warnt-vor-hoeherer-risikoaversion/
[6] https://www.aargauerzeitung.ch/verschiedenes/147-finanzkonzerne-regieren-die-welt-ld.1618015
[7] https://www.unternehmerlexikon.de/oligopol/
[8] https://www.zeit.de/wirtschaft/2019-05/nationale-industriestrategie-2030-peter-altmaier-industriepolitik-faq?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.google.fi%2F
[9] https://www.uni-trier.de/fileadmin/fb4/prof/BWL/MIT/Download/10-SS_17/2017-06-01_Block_IHK_Innovation_in_Mittelstand_und_Familienunternehmen.pdf
[10] https://www.berlin.de/rbmskzl/aktuelles/pressemitteilungen/2003/pressemitteilung.47050.php
[11] https://www.tagesschau.de/ausland/amerika/biden-us-haushalt-101.html
[12] https://www.tagesschau.de/inland/usa-kongress-biden-infrastruktur-paket-101.html
[13] https://www.dw.com/de/die-eu-einigt-sich-auf-finanzpaket-gegen-corona-krise/a-54251342
[14] https://www.dgb.de/themen/++co++8f12b798-dd44-11ea-8e28-001a4a16011a
[15] https://www.youtube.com/watch?v=jjcRywb6Zf4
[16] https://www.heise.de/tp/features/Folgenschwerer-Liquiditaetsabfluss-in-den-Anlagesektor-3999413.html
[17] https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/136-staaten-einigen-sich-auf-globale-mindeststeuer-17576446.html
[18] http://www.handelsblatt.com/politik/international/kampf-gegen-steuerhinterziehung-es-geht-um-billionen/10907016-2.html