Warum eine Impfpflicht zu weit geht

Seite 2: Ich und der Andere

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Dass der Andere gar nicht mehr als Person und Mensch, sondern nur noch als Ding gesehen wird, äußert sich heute allzu oft in der verwahrlosten Diskussionskultur: Man tauscht sich nicht mehr über Argumente aus, sondern wiederholt endlos den eigenen Standpunkt, denn man kennt ja die Wahrheit . Der Andere, der sich eine andere - will heißen: eigene - Meinung erlaubt, ist nur noch Störfaktor.

Er (oder sie) wird schnell mit Etiketten wie "Leugner", "Verschwörungstheoretiker", "Rassist" oder "Nazi" versehen und damit aus dem Diskurs ausgegrenzt: Mit einem "Geisteskranken" lässt sich doch nicht diskutieren. Auch das beraubt den Anderen seines Subjektstatus und seiner Würde. Nach mindestens zwanzig Jahren gescheiterter Versuche sollte man meinen, dass man im Bildungsbürgertum und im Journalismus irgendwann einmal versteht, dass man so die Gesellschaft immer nur weiter polarisiert und spaltet, die Menschen immer weiter auseinandertreibt.

So gut wie niemandem dürften die Lockdowns gefallen und so gut wie allen dürfte die Überwindung der Notlage wichtig sein. Ein wirksamer und sicherer Impfstoff wird daher aller Wahrscheinlichkeit nach für sich selbst sprechen; und die Zweifler sollten Gründe überzeugen, nicht Zwänge. Wenn so schon die Herdenimmunität erreicht würde und das Virus sich darum nicht mehr pandemisch ausbreiten könnte, wäre die Impfpflicht allein darum unverhältnismäßig, weil zum Erreichen des Ziels unnötig.

Kontrolle und Widerstand

Suchslands Verweis am Schluss auf den "Immunitätsausweis", der jeden Widerstand gegen die Impfung zwecklos mache, halte ich zudem für oberflächlich: Erstens könnten allenfalls Privatunternehmen das zur Zugangsvoraussetzung machen, aber nicht öffentliche oder quasi-öffentliche Einrichtungen; zweitens würde dann wahrscheinlich die Anfertigung gefälschter "Immunitätsausweise" zum blühenden Geschäft dank derjenigen, die sich den Maßnahmen um jeden Preis widersetzen werden.

Zudem lassen sich Menschen nicht gerne kontrollieren – und dann wehren sie sich. So hat mein Kollege Maarten Derksen in seiner historischen Arbeit über "Social Technology" beziehungsweise "Human Engineering" (Cambridge University Press, 2017) aufgezeigt, wie die Versuche, Psychologie und Sozialwissenschaften in der Praxis anzuwenden, um die Menschen zu steuern, immer wieder schief gingen. Neuere Versuche zur Lenkung der öffentlichen Meinung hat der Psychologieprofessor Rainer Mausfeld kritisch analysiert. Er erinnert uns daran, dass die Demokratie zum Schutz vor Machtmissbrauch entwickelt wurde.

Ebenso wenig wie von Terroristen, sollten wir uns von Viren zur Aufgabe des liberalen, demokratischen Rechtsstaats drängen lassen, für den übrigens unsere Vorfahren gekämpft haben und zu oft sogar gestorben sind. Welche gravierenden Folgen es haben kann, wenn der Einzelne nicht mehr vor staatlicher Willkür geschützt ist, haben wir im Lauf der Geschichte oft genug gesehen. Dagegen erscheint der heutige Lockdown wie ein Gartenfest.

Lasst uns miteinander reden - und lasst uns dann tun, was vernünftigerweise zu tun ist und getan werden kann! Der Rest ist Geschichte.