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Warum wir frei sind

Wie kann der Mensch eigenständig entscheiden, wenn der Lauf der Welt seit dem Urknall feststeht? Die Antwort ist einfach: Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun

Es gibt klassische Probleme in der Philosophie, die wahrscheinlich entweder unlösbar sind, oder nur Lösungen erlauben, die in einer anderen Zeit und anderen Welt wieder verworfen würden. Zu diesen gehört das gute alte "Leib-Seele-Problem" (oder Körper-Geist-Problem, oder Bewusstseinsproblem, oder … [1]).

Alles, was wir hier in Jahrtausenden erreicht haben, ist, dass wir die beiden populärsten Lösungsansätze zu den Akten legen können: Dass Wahrnehmung, Erinnerung, Denken, Fühlen, Handeln und Persönlichkeit vom Gehirn abhängen, erledigt den Dualismus. Und die logische Erdspalte der mentalen Verursachung lässt den Physikalismus abstürzen.

Es bleiben nur der Panpsychismus – reizvoll, aber wenig überzeugend. Und der Idealismus – überzeugend, aber wenig reizvoll. So wird uns das Problem wohl noch tausend oder zehntausend Jahre lang begleiten. Und was für ein Glück! Was täten wir sonst?

Das nahezu ebenso ehrwürdige Problem der Willensfreiheit hingegen gehört nicht in diese Gruppe. Die Kernfrage, ob Willensfreiheit und Determinismus vereinbar seien, lässt sich kurz und klar beantworten.

Denn es gibt genau zwei Möglichkeiten. Entweder: Alles, was geschieht, inklusive dessen, was in Gehirnen vor sich geht, ist durch vorangegangene Zustände vollständig bestimmt. Oder nicht. Ja oder nein. A oder nicht-a. Tertium non datur.

Nun versuche man sich vorzustellen (es ist vielleicht unmöglich), Entscheidungen, die einer trifft, wären wenigstens manchmal nicht-determiniert. Sie wären also nicht, auch rückblickend nicht, durch Beweggründe und Abwägungen zu erklären. Sie ereigneten sich unvorhersagbar, unverstehbar, gleichsam aus dem Nichts. Der Handelnde könnte selbst keine Rechenschaft über seine Taten ablegen. Er wäre ihnen so ausgeliefert wie ein Tourette-Erkrankter seinen Tics. Das, und nichts anderes, bedeutet "indeterminiert".

Wäre das "frei"?

Und noch einmal: Es gibt kein Drittes. Keinen "Schon-irgendwie-determiniert-aber-das Bewusstsein-kann-eingreifen"-Fuzzydeterminismus. Ich habe absichtlich von "vorangegangenen Zuständen" geschrieben, nicht von "physikalischen" Zuständen. Denn es ist für die Bestimmtheit allen Handelns einerlei, ob wir es aus der Innen- oder der Außen-, aus der psychologischen oder der physikalischen Perspektive betrachten. Unser Handeln hat Gründe. Und für gewöhnlich sind wir froh darüber.

Damit könnte ein Beitrag über Willensfreiheit fertig sein: Willensfreiheit und Determinismus sind vereinbar, müssen es sein, weil die Alternative offensichtlich nicht funktioniert.

Doch die Erfahrung lehrt, dass selbst helle Köpfe damit nicht zufrieden sind. Etwas sperrt sich in ihnen dagegen, dass man gleichzeitig frei und bestimmt sein könne. Dass wir es sind, darin gibt es (s.o.) keinen Zweifel. Es bleibt jedoch die Frage, wie wir es sind.

Das schwere dualistische Erbe

Eine Quelle der Verwirrung sind die beiden erwähnten Perspektiven. Denn mag es auch für die Frage der Determiniertheit irrelevant sein, ob sie physikalisch oder psychologisch erfolgt – für unser Denken darüber macht es einen gewaltigen Unterschied. Wie Stephan Schleim im Forum zu seinem Blogbeitrag [2] zu diesem Thema dargelegt hat, ist das wissenschaftliche und publizistische Interesse am Thema "Willensfreiheit" [3] sprunghaft gestiegen, seitdem Neurobiologen meinen, sich dazu äußern zu können oder müssen. Denn mit ihren Apparaten und Ableitungen tritt plötzlich die Außenperspektive scheinbar objektiv in den Vordergrund. Plötzlich ist es nicht mehr eine Person, die entscheidet, sondern "ihr Gehirn".

Und so fragen sich Leute: Wie kann ich frei sein, wenn mein Gehirn alles schon entschieden hat? Sie hätten nie gefragt: Wie kann ich frei sein, wenn ich für jede meiner Entscheidungen gute Gründe habe? In beiden Fragen benennt der Konditionalsatz den Determinismus. Und doch scheint nur die erste Frage Sinn zu haben.

Das verdanken wir, wie mir scheint, jahrtausendealten Denkgewohnheiten. Früher haben wir Körper und Seele getrennt: Der Körper verrottete im Grabe, die Seele flog (im besten Fall) in den Himmel. Descartes, dem dieser Dualismus gerne vorgeworfen wird, hat nur versucht, ihn philosophisch zu übersetzen.

Die meisten Religionen würden nicht ohne ihn funktionieren. Wenn - was in allen drei anderen eingangs aufgeführten metaphysischen Modellen gilt - die "Seele" auf die eine oder andere Weise an den Körper gebunden ist, gibt es nichts, was den individuellen Tod überdauert, mithin nichts, um dessen ewiges Heil oder Wiedergeburt man sich Sorgen zu machen bräuchte, und auch keine immaterielle Sphäre für so etwas wie "Gott".

Doch auch in vermeintlich areligiöser Zeit ist der Dualismus nie verschwunden. Als wäre es eine Grundfunktion unseres Denkens, werden stets Grenzen gezogen und Gegensätze behauptet. Weit verbreitet ist der Gehirn-Körper-Dualismus [4] derer, die sich das Gehirn als autonomen Träger von Individualität und Bewusstsein vorstellen, und den Körper als sein austauschbares Vehikel.

Parallel dazu spukt aber weiterhin auch etwas durch die Köpfe und die Debatten, was man "Ich-Körper-Dualismus" nennen könnte: die verbreitete Redeweise von "Ich und mein Körper" oder "Ich und mein Gehirn".

Dass ich - sprachlich völlig korrekt - von "meinem Gehirn" sprechen kann, baut allerdings eine semantische Falle. Indem das Possessivpronomen eine Beziehung erzeugt, verbindet es zugleich (was mein ist, gehört zu mir) und trennt (nur getrennte Einheiten können eine Beziehung zueinander haben).

So von der Sprache verführt, erliegt der Sprecher bereitwillig dem Fehlschluss, aus den beiden Perspektiven der ersten und der dritten Person zwei getrennte Einheiten zu machen. Und wundert sich dann, wie "Ich" frei sein kann, wenn "mein Körper" determiniert ist.

Aber es gibt keine Trennung. "Ich" ist nichts Anderes als "mein Körper" [5]. Das Gehirn ist kein Zentralrechner, sondern nur ein besonders dicht geknüpftes Netz, tausendfach eingebunden in das Netzwerk des Körpers, der wiederum tausendfach eingebunden ist in das Netz der Welt.

Es gibt keine klaren Grenzen, und nie lässt sich das Eine sinnvoll ohne das Andere denken. "Bewusstsein" aber - was immer das sein mag – ist eine Eigenschaft oder ein Prozess des ganzen Körpers in seiner Einbindung in die Umwelt.

Und wenn "Ich" identisch bin mit meinem ganzen umweltbezogenen Körper, dann wird es sinnlos, mich von mir selbst gezwungen oder meiner Freiheit beraubt zu wähnen. Zwingen oder unfrei machen kann mich nur etwas, das Nicht-Ich ist. Die Abwägungen und Entscheidungen in mir, in meinem Gehirn und Körper, sind aber ein Teil von mir. Sie sind der Prozess meiner Entscheidungsfindung.

Wann erfahre ich von meinen Entscheidungen?

Auch eine zweite Quelle der Verwirrung über Willensfreiheit ist den Neurowissenschaften zuzuschreiben. In berühmten Experimenten hat Benjamin Libet [6] gezeigt, dass das elektrische Bereitschaftspotential im Motorkortex, das einer Bewegung vorangeht (oder sie auslöst), schon rund 350 Millisekunden vor der bewussten Entscheidung zu dieser Bewegung beobachtet werden kann.

Die Entscheidung fällt also bereits - späteren Forschungen nach sogar bis zu zehn Sekunden [7] - lange bevor der Handelnde sich ihrer bewusst wird.

Diese Beobachtung wird gemeinhin als Herausforderung für die Idee des freien Willens wahrgenommen. Sie scheint einerseits zu zeigen, dass "mein Gehirn" entscheidet, ohne dass "ich" einen Einfluss darauf hätte: Der darin versteckte Denkfehler wurde oben bereits behandelt. Verwirrend, vielleicht auch verunsichernd, ist andererseits aber auch der Eindruck, dass mein bewusstes – meist sprachliches – Grübeln und Abwägen nicht die Ursache meiner Entscheidungen zu sein scheint, sondern eher sogar umgekehrt.

Was habe "ich" eigentlich zu sagen, wenn ich erst nachträglich von meinen Entscheidungen erfahre? Wie soll ich es verstehen, dass theoretisch (hinreichende Signalschärfe vorausgesetzt) der Experimentator, der live meine Scannerdaten beobachtet, mir in aller Ruhe "Sie werden gleich links drücken" sagen kann - während ich noch weder ob noch was weiß?

Aber die Künstlichkeit der Laborbedingung lässt vergessen, was Entscheidungen eigentlich sind. Als Lackmustest der Willensfreiheit fragen Philosophen gerne: Hätte der Handelnde in derselben Situation auch anders entscheiden können? Nur wenn die Antwort "ja" lautet, wäre er demnach frei; "nein" macht ihn unfrei.

Doch das ist Unfug. Die richtige Antwort auf die Frage lautet weder "ja" noch "nein", sondern: "Warum?"

Mit "derselben Situation" meint der Philosoph tatsächlich und wörtlich dieselbe Situation: die völlige Identität aller inneren und äußeren Weltzustände. Filmisch betrachtet keine Zeitschleife, keinen Murmeltiertag, sondern einen Rewind bis zu der fraglichen Stelle. Nichts hat sich geändert. Der Handelnde hat kein neues Wissen, keine zusätzlichen Erfahrungen, keine andere Stimmung. Warum sollte er sich anders entscheiden?

Entscheidungen sind kein Münzwurf: Kopf - aber es hätte auch Zahl sein können. Nein! Entscheidungen haben eine Vorgeschichte. Sie sind das Ergebnis von Erfahrungen, Erinnerungen, Nachdenken, Abwägen, Einschätzungen und aktuellen Stimmungen.

Aus diesem umfangreichen Prozess des ganzen Körpers entsteht die Vorliebe für "Kopf". Gewiss hätte auch "Zahl" herauskommen können – wenn, ja, wenn in diesem Prozess nur irgendetwas anders gewesen wäre. Die Vorstellung dagegen, das Hirnkastl wäre eine Art Schrödingerscher Kiste, die in derselben Situation mal eine tote und mal eine wütende Katze ausspuckt, ist absurd.

Außerhalb des Labors verliert die Erkenntnis, dass Entscheidungen unbewusst angebahnt werden, daher sogleich ihren Schrecken. Tatsächlich haben wir seit Freud, wenn nicht gar seit Schopenhauer und den Romantikern, gewusst, dass Entscheidungen außerhalb des Bewusstseins reifen. Erstaunlich ist allenfalls, dass die völlig belang- und folgenlose Wahl zwischen einem Knopfdruck links und einem Knopfdruck rechts mehrere Sekunden Vorlauf hat. Bei größeren, lebensnäheren Entscheidungen hat hingegen fast jeder schon erfahren, wie lange sie einen quälen können.

Und wer sich kennt, weiß, dass das bewusste Nachdenken nur einen kleinen Teil zum Ergebnis beiträgt. Am Ende entscheidet "der Bauch", beziehungsweise laut Antonio Damasio die "somatischen Marker": Unbewusste, auf Heuristiken und Faustregeln beruhende Wertungen, die sich körperlich äußern, und auf diesem Umweg vom unteren Stirnhirn als Signal berücksichtigt werden.

Tatsächlich kommt uns die Vorstellung verschroben vor, es zu machen wie Charles Darwin, der vor der Entscheidung zur Heirat säuberlich in zwei Spalten Pro und Contra aufschrieb und abwog. Man möchte nicht annehmen, dass der Entschluss tragfähig war, wenn er nicht auch den Gefühlen des Gelehrten entsprach.

Eher diente seine Tabelle dazu, herauszubekommen, was er innerlich wollte: So wie man, wenn man sich nicht zu entscheiden weiß, eine Münze wirft - und dann nicht nach dem Ergebnis handelt, sondern danach, ob man damit zufrieden ist oder nicht.

Die Entscheidung bildet sich im Unbewussten. Grübeln und Selbstgespräche sind das Sonar, das sie in der Tiefe aufspürt und erkennbar macht.

Ganz rational

Im Grunde wurzelt das Unbehagen, das determinierte, unbewusste Entscheidungen auslösen, in einem verengten Rationalitätsbegriff. Der Mensch, und gerade der abendländische Mensch, und schon gar der Akademiker, möchte sich gerne als vernünftig sehen. Was "vernünftig" oder "rational" bedeutet, ist eine andere, verknäuelte Debatte, aber im allgemeinen Verständnis ist es so etwas wie: logisch aus Begriffen herzuleiten.

Wie schon Kant sagte: "Die Vernunft ist das Vermögen der Begriffe." Für vernünftig, und mithin für "gut", halten wir daher Entscheidungen, die wir im bewussten, sprachlichen Nachdenken erarbeitet haben. Und lehnen daher die Vorstellung ab, dass diese Vernunftsleistung keine wirksame Rolle spielen solle.

Vernünftig aber kann viel mehr sein. In einer Notsituation reflexhaft zu reagieren, statt erst lange Analysen durchzuführen, ist sehr vernünftig. Ebenso, Alltagsentscheidungen nach Gewohnheit und Neigung zu treffen, statt Energie mit Erwägungen zu verschwenden.

In Beziehungsfragen auf die Gefühle zu hören, ist zweifellos vernünftig. Trost und Handlungsmut im Gebet zu suchen, wo die Wirklichkeit das Denken überfordert, ist es wahrscheinlich auch. Die Evolution, die ganze Natur funktionieren sehr rational - und verfügen doch über keinerlei Begriffe.

Wir brauchen einen erweiterten Begriff von Rationalität. Einen, nach welchem die unbewussten, körperlich gestützten Entscheidungen vernünftig sind, weil sie Wirksamkeit und Überleben in der Welt ermöglichen. So können wir uns identifizieren mit dem Willen unseres ganzen Körpers, der im Ganzen rational handelt, anstatt nur mit dem Knistern in unseren sprachlich-assoziativen Hirnrindengebieten.

Letzteres ist dabei nicht sinnlos. Erstens trägt es zur Entscheidung bei, zweitens hilft es, wie schon gesagt, sie zu entdecken. Und drittens ermöglicht das sprachliche Denken, sich eine Entscheidung nachträglich anzueignen, wie Peter Bieri es nennt [8]. Bisweilen können wir uns fragen: Was hat mich da geritten? Warum habe ich in jener Situation so oder so entschieden? Woher der Fehler, woher der Glücksgriff?

Dann kann ein – womöglich langer – Prozess der Selbstanalyse beginnen, in welchem verborgene Ängste, Vorurteile, Stärken zum Vorschein kommen. Mühsam wird der dunkle Prozess der Entscheidungsfindung ans Licht der Sprache geholt und im engeren Sinne "rationalisiert". Das Wundern ist stets der Beginn der Erkenntnis, daher das Staunen über sich selbst der Weg zur Selbsterkenntnis.

Gewinnen können wir dadurch die einzige Form von "Freiheit", auf die es in dieser Debatte ankommt: die Freiheit von jenen Motivationen (Trieben, Ängsten, Kurzschlüssen), die wir in uns ablehnen, die wir nicht als Teil unseres Selbst akzeptieren wollen – sei das eine Neurose, ein indoktriniertes Glaubenssystem, eine Sucht oder eine Charakterschwäche.

Denn einschränken kann unsere Freiheit nur etwas, das nicht Teil von uns selbst ist: der Angreifer mit der Waffe, die Regierung, die Krankheit, der unbeherrschbare Trieb. Jede Entscheidung hingegen, die wir ungezwungen, im Einklang mit unseren Wertvorstellungen und unserem aktuellen Weltwissen, aus unserer ganzen, integrierten Persönlichkeit heraus fällen, ist frei. Dass sie auch determiniert ist, tut nichts zur Sache.


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https://www.heise.de/-6118201

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.heise.de/tp/features/Denken-mit-Leib-und-Seele-3593478.html
[2] https://scilogs.spektrum.de/menschen-bilder/von-der-theoretischen-zur-praktischen-freiheit/
[3] https://books.google.com/ngrams/graph?content=free+will&year_start=1800&year_end=2019&corpus=26&smoothing=3&direct_url=t1%3B%2Cfree%20will%3B%2Cc0#t1%3B%2Cfree%20will%3B%2Cc0
[4] https://www.wbg-wissenverbindet.de/shop/29084/die-philosophischen-grundlagen-der-neurowissenschaften
[5] https://www.heise.de/tp/features/Ich-denkender-Koerper-4501581.html
[6] https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/6640273/
[7] https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/18408715/
[8] https://www.buchkomplizen.de/buecher-mehr/das-handwerk-der-freiheit.html