Was bedeutet der Fall von Bachmut in der Ukraine wirklich?

Seite 2: Wir befinden uns in einer Eskalationsdynamik

All das geschieht zu einer Zeit, in der die Vereinigten Staaten den Weg für den Transfer moderner Kampfflugzeuge, den F-16, geebnet haben und die G7-Führung der Ukraine gerade weitere Hilfe und Waffen zugesagt hat. Glauben Sie, dass sich die Nato jetzt stärker engagieren wird, um einen scheinbar russischen Sieg, so symbolisch er auch sein mag, zu verhindern? Ist damit der Weg für eine weitere Eskalation frei?

Anatol Lieven: Ich denke, das ist zweifellos die Absicht der Nato und der USA. Die Frage ist, ob es funktionieren wird. Und natürlich auch, wo die Ukrainer angreifen werden, denn die meisten haben erwartet, dass sie in Richtung Asowsches Meer vorrücken werden, um die russische Position in zwei Hälften zu teilen.

Aber nachdem sie das derart klar signalisiert haben, haben die Russen sehr viel Zeit erhalten, sich vorzubereiten. Und die Satellitenbilder zeigen mehrere russische Verteidigungslinien. Andererseits könnte die Ukraine bei einem erneuten Gegenangriff im Donbass einfach in eine weitere Zermürbungsschlacht verwickelt werden, ohne dass es zu einem Durchbruch kommt.

Die Nato versucht also, die Ukrainer zu stärken, und wenn die Russen die Ukrainer zurückhalten können und sie nicht durchbrechen, dann gibt es für Russland keinen großen Anreiz mehr, zu eskalieren.

Das Problem ist, wenn die Unterstützung der Nato funktioniert und die Ukrainer wirklich durchbrechen, dann besteht meiner Meinung nach die Möglichkeit, dass Russland eskaliert, und wir wissen nicht, wohin das führen wird.

George Beebe: Vollkommen richtig. Wir befinden uns in einer Eskalationsdynamik mit den Russen. Das tun wir schon seit geraumer Zeit. Jeder russische Vorstoß oder Eskalationsschritt wird vom Westen erwidert und umgekehrt.

Ich denke, einer der Punkte bei der Übergabe der F-16 – und es ist immer noch nicht klar, wie viele dieser Flugzeuge die Ukrainer erhalten sollen und wie schnell sie zu ihnen gelangen werden – ist, dass es für die Ukrainer schwierig sein wird, diese Flugzeuge ohne umfangreiche westliche Unterstützung zu betreiben.

Die Jets sind sehr wartungsintensiv und benötigen lange und relativ gut präparierte Start- und Landebahnen. Und davon haben die Ukrainer nur sehr wenige. Sie müssen also entweder die bestehenden Start- und Landebahnen in der Ukraine ausbauen, um diese Flugzeuge operieren zu können, oder sie müssen sie von den Luftwaffenstützpunkten der Nato-Länder aus starten lassen.

Beides ist problematisch, denn wenn sie die Start- und Landebahnen ausbauen, werden die Russen das sehen. Damit signalisieren sie ihnen im Wesentlichen, wo sie angreifen sollten, um die Fähigkeit der Ukraine, diese Flugzeuge zu nutzen, zu beeinträchtigen.

Und wenn sie von Nato-Luftwaffenstützpunkten aus operieren, dann werden die Russen eine schwere Entscheidung treffen müssen, ob sie die Stützpunkte angreifen, von denen aus diese Flugzeuge fliegen. Wie auch immer, die Ukrainer können die Kampfflugzeuge nicht selbst instand halten.

Sie werden diese Flugzeuge zur Wartung in Nato-Länder verschicken und zurückholen müssen. Oder der Westen wird eigene Wartungsmannschaften in die Ukraine schicken müssen, um die Wartung dort durchzuführen. Es ist ein Akt mit Eskalationspotenzial.

Meine Vermutung ist – ich habe keine Beweise dafür, es ist aber ein starker Verdacht – dass je mehr den Ukrainern die Luftabwehrraketen ausgingen, desto stärker wurde der Druck im Westen, der Ukraine F-16 zu liefern. Der Westen hat einfach nicht genügend Raketen, um sie der Ukraine bereitzustellen.

Um sicherzustellen, dass die Ukrainer nicht schutzlos gegen russische Luftangriffe sind, wird daher als einzige Möglichkeit angesehen, solche Kampfflugzeuge zur Verfügung zu stellen. Es zeigt auf negative Weise, wie der Westen den Zustand der ukrainischen Luftabwehr einschätzt.

Das ist ziemlich beängstigend. Sind wir Ihrer Einschätzung nach näher an einem Waffenstillstand oder heute viel weiter davon entfernt als noch letzte Woche, vor der Nachricht über die F-16 und der Übernahme von Bachmut durch die Russen? Wie groß ist Ihre Zuversicht, dass es in naher Zukunft tatsächlich zu diplomatischen Verhandlungen kommen könnte?

Anatol Lieven: In der Erklärung der G7 wurde der vollständige Rückzug Russlands gefordert. Es wurde nicht ausdrücklich gesagt, dass Russland sich aus allen ukrainischen Gebieten Stand 2014 zurückziehen müsse. Aber es war sicherlich kein ermutigendes Zeichen für welchen Kompromiss auch immer.

Letztlich müssen wir aber abwarten, was auf dem Schlachtfeld passiert. Denn in den letzten Wochen und Monaten wurde immer wieder angedeutet, dass, wenn die Ukraine in diesem Jahr keinen großen Sieg erringt, Hilfe in dem jetzigen Umfang nicht aufrechterhalten werden kann.

George hat absolut Recht, dass der Westen nicht in der Lage ist, Luftabwehrraketen zu liefern. Es ist schließlich ein Krieg, und die Entwicklungen auf dem Schlachtfeld werden der entscheidende Faktor sein – oder das Ausbleiben von Fortschritten auf dem Schlachtfeld.

George, wollen Sie dem noch etwas hinzufügen?

George Beebe: Ich denke, dass die beiden Seiten im Moment sehr weit auseinander liegen. Weder die Ukraine noch Russland sind zu einem Kompromiss bereit. Die Erklärung der G7 und die Entscheidung Washingtons, die F-16 bereitzustellen, ermutigen mich nicht zu der Annahme, dass die Vereinigten Staaten auch nur annähernd versuchen werden, einen Kompromiss zu finden.

Das einzig Ermutigende in Bezug auf den Frieden ist, dass die anderen Teile der Welt – China, Brasilien, der Vatikan – offenbar mehr denn je bestrebt sind, einen Ausweg aus dieser Situation zu finden.

Ich danke Ihnen.

Das Interview erscheint in Kooperation mit Responsible Statecraft. Übersetzung: David Goeßmann.

George Beebe ist Direktor für Grand Strategy beim Quincy Institute. Er verbrachte mehr als zwei Jahrzehnte in der US-Regierung als Geheimdienstanalyst, Diplomat und politischer Berater, unter anderem als Direktor der Russland-Analyse der CIA, als Direktor des Open Source Center der CIA und als Berater von Vizepräsident Cheney in Russlandfragen. Sein Buch "The Russia Trap: How Our Shadow War with Russia Could Spiral into Nuclear Catastrophe" warnt davor, wie die Vereinigten Staaten und Russland in eine gefährliche militärische Konfrontation stolpern könnten. Beebe war zudem Vizepräsident und Studiendirektor am Center for the National Interest.

Anatol Lieven ist Senior Research Fellow für Russland und Europa am Quincy Institute for Responsible Statecraft. Zuvor war er Professor an der Georgetown University in Katar und an der Abteilung für Kriegsstudien des King's College London. Er ist Mitglied des beratenden Ausschusses der Südasienabteilung des britischen Außen- und Commonwealth-Büros. Lieven ist Autor mehrerer Bücher über Russland und seine Nachbarländer, darunter "Baltic Revolution: Estonia, Latvia, Lithuania and the Path to Independence" und "Ukraine and Russia: A Fraternal Rivalry" (Eine brüderliche Rivalität).