Weihnachten 2024: Prognostizierte 735 Millionen Paketsendungen

Pakete im Regal und auf einem Tisch, im Hintergrund ein Weihnachtsbaum

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Alles herausholen, auf möglichst wenig verzichten? 10.000 Dinge pro Person: Wohlstand oder Wahnsinn? Über Konsum und Freiheit. Ein Essay.

Aus Überheblichkeit und Dummheit wird Zerstörung mit Wohlstand gleichgesetzt, wird die Selbstzerstörung als Errungenschaft gefeiert.

Axel Schlote, Das Blendwerk von Freiheit, Wohlstand und Demokratie

Freiheit ist zu einem Kampfbegriff geworden (…,) zum persönlichen Ideal der maximalen Selbstentfaltung.

Jean-Pierre Wils, Verzicht und Freiheit

"Kaufe ein!" rät der Beichtautomat in dem Sci-Fi-Film THX 1138 (einem Frühwerk von George Lucas) dem psychisch angeschlagenen Protagonisten. Menschen in der dystopischen Nachkriegsordnung sind zwangsmedikamentiert, biometrisch überwacht; man kann in nachgeäfften Kapellen bei einer virtuellen Gottheit Rat holen, leider nur in Form standardisierter Bandansagen.

Dieser Überwachungsstaat mitsamt seinen gesellschaftlichen Kontrollinstanzen verspricht eine "makellose Realität". Zu Sanktionszwecken kann gegebenenfalls eine "Denksperre" verordnet werden. Eine "verstörende SF-Parabel", urteilten Kritiker.

"Buy – and be happy!"

Buy – and be happy! Kaufen als Therapie und schöner Schein, als Balsam für die Seele und nahezu einzig verbliebene Fluchtoption aus dem Terror der Normalität … Gefühlt ist unsere spätkapitalistische Warengesellschaft mit ihren Umsatztreibern und Glücksversprechen gar nicht so weit von Lucas' bösem Traum entfernt.

Die "Denksperre" verordnen wir uns inzwischen möglicherweise selbst.

Jeder von uns besitzt 10.000 Dinge, schrieb der Kölner Stadt-Anzeiger (KStA) in einem Beitrag, betitelt "Mehr oder weniger", Ende Oktober. Von den durchschnittlich 60 Kleidungsstücken, die deutsche Konsumenten und Konsumentinnen jedes Jahr kaufen, werden nach Angaben des Umweltbundesamtes 40 Prozent selten oder nie getragen.

Kaufen ist offenbar mehr als "nur" materieller Erwerb. Besorgte Politiker reden gern von "Kaufkraft", eine Form angetäuschter Menschlichkeit.

Alle Jahre wieder

In den beiden Monaten November und Dezember nennt sich das Kind hoffnungsfroh: "Weihnachtsgeschäft". Nach Branchenangaben einhergehend mit 735 Millionen Paketsendungen (Prognose 2024).

Übers ganze Jahr verteilt wurden 2023 sagenhafte 4,2 Milliarden Pakete nur in Deutschland verschickt, Tendenz steigend: 2013 waren es noch knapp 2,7 Milliarden. Bis 2028 soll sich das Volumen verdoppelt haben

Der florierende Online-Handel ist (und bleibt) Treiber für den Kaufboom. Und treibt zugleich den Flächenverbrauch dank immer gigantischer werdender Logistikzentren in die Höhe. Rund 14,5 Millionen Personen (gerechnet ab 14 Jahren) drücken in Deutschland mehrmals pro Monat bequem im Internet den Button: Bestellen – und ab die Post.

Dabei sind hier andere Kehrseiten des gigantischen Spiels noch gar nicht berührt: die Verschwendung von Lebensmitteln etwa, die Berge von Müllmengen, üblicher Flächenfraß durch Besiedlung und Verkehr (in Deutschland täglich im Umfang von 78 Fußballfeldern), ins Kraut schießende Freizeitpassionen (z.B. Kreuzfahrten, Massentrips in die Berge); die weihnachtliche Kaufwut wurde schon erwähnt, gern unterschlagen die Nebeneffekte wie millionenweise abgeholzte Tannen und Tonnen von Papierbergen.

Eine Frage der Freiheit

Natürlich betreffen die Konsumgewohnheiten unseren Freiheitsbegriff. Zwar hat Corona weltweit für Einbrüche beim Konsum geführt, aber man kann hier kaum von einer freiwilligen Entscheidung sprechen, sicher nicht was die Mehrheit betrifft. Echtes Umdenken?

Das Gefühl, frei zu sein, schließt in der Kultur der Warengesellschaft die Freiheit zu ungehemmtem Konsum ein; und daran hat sich im Kern nichts geändert.

Unsere "seichte Beteiligung am Leben der Welt", nennt das passenderweise der französische Autor Michel Houellebecq. Eine Überlebensfrage, wenn es nach Jean-Pierre Wils geht. Dessen Buch kann das Frückstück aktuell sinnvoll ergänzen.

Unter dem Titel "Verzicht und Freiheit. Überlebensräume der Zukunft" verbindet der Autor das Thema – logisch – mit unseren Aussichten auf morgen. Wils ist emeritierter Professor für Philosophische Ethik und Kulturphilosophie an der Universität im niederländischen Nijmegen. Kurz:

Sein Text liest sich als Appell, ohne unötig zu moralisieren, aber er spricht auch die systemische Frage unserer Lebensweise an.

Die Grenze zwischen dem Nötigen fürs Überleben und dem Unnötigen verschiebt sich ständig.

Jean-Pierre Wils, Verzicht und Freiheit

Wir wollen, so Wils, im Privaten wie im Öffentlichen auf immer mehr einen immer leichteren Zugriff haben. Alles herausholen, auf möglichst wenig verzichten.

Das nennt er "Vergrößerungsmaxime". Daneben stellt Wils einen weiteren Treiber des autonomen Individuums, den nennt er "Intensitätsmaxime": Der multioptionale Mensch will auch möglichst intensiv leben und erleben. In summa:

Vermutlich kränkeln wir schon längst an einer falschen Freiheitsidee, an einer armseligen Auffassung darüber, was uns aufgrund eigener Entscheidungen zustehe und demnach in Reichweite bleiben müsse.

Jean-Pierre Wils, Verzicht und Freiheit

Disponiertsein fürs moderne Leben

Das immergleiche Leben transzendieren, dem Horror der Leere entkommen, die Nerven kitzeln, Zerstreuungs- und Vergnügungsgrade steigern. Wer sich daranmacht, dieses Begehren einzuschränken, schränkt die individuelle Freiheit ein. So jedenfalls aus Sicht maximaler Selbstentfaltung, die Parole lautet: Warum auf etwas verzichten, was mir gut tut? Bitte keine Bevormundung!

Leider tun solche Strebungen der Natur nicht gut. Der Fortschritt der Menschheit erweist sich als Notstand der Menschheit.

Laut Experten ist je Grad Erderwärmung mit sieben Prozent mehr Starkregenfällen zu rechnen; wir liegen da bereits deutlich über der Marke (mit einem Anstieg im zweistelligen Prozentbereich). Und wir schaffen die Klimaziele nicht, die Zeit läuft uns davon: Den Anstieg der globalen Erwärmung kann man nicht wegdiskutieren; vor allem entgegen vollmundiger Versprechen nicht mehr stoppen.

Die Weltgemeinschaft läuft den Zielen aktuell in einem selbstzerstörerischen Lauf hinterher.

Weltklimagipfel als Simulation

Die weitere Erderwärmung ist schon jetzt auf Jahrzehnte hinaus vorprogrammiert.

Fazit der Weltwetterorganisation (WMO)

Die UN-Klimakonferenz in Aserbaidschan, eine großartige Simulation ökologischer Vernunft; eine der typischen symbolischen Ersatzformen für längst überfälliges Handeln. Man darf hier getrost von getünchten Gräbern sprechen: Die in Baku stattfindende Konferenz ist so ein getünchtes Grab.

Der nach wie vor ungehemmte Weltverbrauch, unsere tödlichen Konsumgewohnheiten und Obsessionen ignorieren den kritischen Punkt, der längst Selbstzerfall bedeutet und der unter der wichtigtuerischen Fassade vor sich hin weist.

Wils drückt es schlicht so aus:

Der Rhythmus der Natur ist durch unsere Interventionen infiziert und aus dem Lot geraten.

Jean-Pierre Wils, Verzicht und Freiheit

Sein Diktum betrifft keineswegs nur die äußere Natur, die – wir bekommen es täglich vor Augen geführt - in erschreckendem Maß Objekt eines brachialen Utilitarismus geworden ist, sondern auch die eigene. Die herrschende industriell-kapitalistische Lebensform zieht unweigerlich psychologische und moralische Folgen nach sich.