Weil nicht sein kann, was nicht sein darf
Harun Yahya und sein Kampf gegen die Wissenschaft
Kreationisten? Sind das nicht diese Leute aus den USA, die auf ihren Websites verkünden, dass es eine Evolution des Lebens nie gegeben haben kann, weil in der Bibel steht, dass Gott zuständig ist? Abgesehen davon, dass der Kreationismus längst nicht mehr nur in den USA stattfindet, haben christliche Eiferer den Unsinn nicht gepachtet: Kreationismus gibt es auch auf islamisch.
Kanaldeckelschwer liegt das Buch in der Hand, gebunden, mit goldenen Lettern bedruckt, und nennt sich "Atlas der Schöpfung". In das Titelbild integriert sind die Darstellungen verschiedener Tierarten, die per Lenticularfolien animiert werden. Solche "Wackelbilder" kennt man auch von Kinderbüchern und etwas teureren Scherzpostkarten. Auf den ersten Blick wirkt das Werk wie die dicken und reich bebilderten, aber preisgünstigen Wälzer über Natur und Forschung, die früher Kindern unter den Weihnachtsbaum gelegt wurden, wenn die Eltern um ein besseres Geschenk verlegen gewesen waren. Und dennoch hat Cord Riechelmann Recht, wenn er in der taz über das Buch sagt: "Es gibt Bücher, die strahlen Unangenehmes aus. Man will sie nicht bei sich in der Nähe haben."
Der Autor Harun Yahya beschreibt sich wie folgt selbst:
Adnan Oktar, der unter dem Pseudonym Harun Yahya scheibt, wurde 1956 in Ankara geboren. (…) Seit den 1980er Jahren verfasst er zahlreiche Werke zu Themen des Glaubens, der Wissenschaft und der Politik. Harun Yahya ist bekannt als Autor wichtiger Werke, die die Hochstapeleien der Evolutionisten aufdecken, ihre falschen Behauptungen und die dunklen Verbindungen zwischen Darwinismus und so blutigen Ideologien wie Faschismus und Kommunismus.
("Über den Autor")
Hier spielt jemand gleich mit offenen Karten, und wohl selten hat ein wissenschaftsfeindliches Propagandamachwerk seine Absichten so schnell so deutlich kundgetan wie "Der Atlas der Schöpfung". In einem Grußwort an den Leser heißt es:
In allen Büchern des Autors werden Fragen, die sich auf den Glauben beziehen, auf der Grundlage des Inhalts des Quran erklärt, und die Menschen werden dazu ermutigt, Gottes Wort zu lernen und ihm entsprechend zu leben. Alle Themen, die Gottes Offenbarung selbst betreffen, werden in einer Weise erklärt, dass sie beim Leser keine Zweifel oder unbeantwortete Fragen hinterlassen.
("An den Leser")
Da der Koran für den Autor selbstverständlich auch die Messlatte für die Naturwissenschaft ist, sagt er hier nichts anderes, als dass alle seine Bücher gegen die Wissenschaft gerichtet sind, weil Zweifel, Kritik und unbeantwortete Fragen die Triebfedern jeder echten Forschung darstellen. Yahya verbreitet sich, wie alle modernen Antimodernisten, natürlich auch im Internet
Der baden-württembergische Verfassungsschutz kennt ihn zudem als ehemaligen Holocaustleugner, der aus taktischen Gründen derzeit ein wenig leiser tritt.
Parallel zu der Zurückhaltung der „Milli Gazete“ im Hinblick auf Harun Yahya ist auch der Autor selbst vorsichtiger geworden. So wird das von ihm verfasste Werk „Die Holocaust-Lüge“ („Soykirim Yalani“) nicht mehr angeboten. Der Autor hat auch in weiteren, auf Deutsch erschienenen Texten zu diesem Thema ursprünglich eindeutig antisemitische Inhalte in der Zwischenzeit getilgt. (...) Im Juli 2003 stellte sich die Produktion Yahyas darauf ein, dass die Leugnung des Holocaust als Antisemitismus politisch belastend ist. Das bedeutet jedoch nicht, dass Yahya seine antijüdische Haltung aufgegeben hat, es handelt sich hierbei vielmehr nur um eine taktisch bedingte Vorsichtsmaßnahme.
Dass Harun Yahya beim Kampf gegen Selbstzweifel bereits eine hohe Meisterschaft erlangt hat, ist evident.
Das Siegel des Propheten, das auf dem Umschlag aller Bücher des Autors abgebildet ist, symbolisiert, dass der Quran das letzte Buch und das letzte Wort Gottes ist (...). Der Autor verwendete in allen seinen Arbeiten den Quran und die Sunnah (Überlieferungen) des Propheten Muhammad (Möge Gott ihn segnen und Frieden auf ihm sein lassen) zu seiner Führung. Er zielt darauf ab, alle grundlegenden Behauptungen der ungläubigen Systeme einzeln zu widerlegen, die Einwände gegen die Religion endgültig auszuräumen und ein "letztes Wort" zu sprechen
("Über den Autor")
Allerletzte Worte zu den letzten Worten also, die laut Yahya bereits der Koran enthält. So viel Wichtigkeit und Heiligkeit begründet auch, dass Bonuspunkte sammelt, wer die wichtigen Werke von Herrn Yahya in Umlauf bringt:
Gleichzeitig ist es ein großer Verdienst, diese zum Wohlgefallen Gottes verfassten Werke bekannt zu machen (...). In allen Büchern ist die Beweis- und Überzeugungskraft des Verfassers zu spüren, so dass es für jemanden, der anderen die Religion erklären möchte, die wirkungsvollste Methode ist, die Menschen zum Lesen dieser Bücher zu ermutigen
("An den Leser")
Ist hier ein religiös gepolter Egomane am Werk, der gigantische Wälzer drucken lässt, um sich selbst zu loben? Wer weiß - Yahya hat auf jeden Fall mehr zu bieten als bloß das. Er hat, wie bereits erwähnt, auch eine Mission: Die Widerlegung der Evolutionstheorie. Wie geht er die große Aufgabe an? Nach so entschiedenem Eigenlob verblüfft die Schlichtheit der Methode. Yahya behauptet im Wesentlichen folgendes: Wenn es so etwas wie Evolution gegeben hätte, die logischerweise damit einhergeht, dass eine Art sich aus einer Vorläuferart entwickelt, dann müsste es massenhaft Zwischenstufen zwischen den heute existierenden Arten und ihren Vorläufern gegeben haben. Ergo müsste es davon Fossilien geben. Yahya meint nun, dass in keinem Fall je das Fossil einer Übergangsform gefunden worden sei. Und er behauptet, dass alle heute existierenden Arten vom ersten Tag ihrer Existenz unverändert geblieben sind, weil sie sich nicht entwickelt haben, sondern von Gott geschaffen worden sind. Um das zu belegen, druckt er in seinem Wälzer Hunderte von Seiten lang Beispiele für Arten ab, denen man tatsächlich immerhin ähnlich aussehende Fossilien zuordnen kann.
Lassen wir für den Moment beiseite, dass er sich dabei natürlich nur auf die erhaltenen Überreste seiner Kronzeugen stützen kann. Dumm ist ja schon folgendes: Die echte Wissenschaft kennt eine ganze Menge Fossilien von Übergangsformen, was Yahyas Behauptung, sie hätten nie existiert, gewisse Schwierigkeiten bereitet. Und die Behauptung, dass alle heute existierenden Arten immer gleich geblieben seien, ist in ihrer Totalität ohnehin unbeweisbar. Yahya meint zwar:
Die in diesem Buch besprochenen und illustrierten Fossilien sind nur einige Beispiele für die Hunderte Millionen Arten, die das Faktum der der Schöpfung beweisen. Doch selbst diese wenigen Beispiele reichen völlig aus, zu belegen, dass die Evolutionstheorie ein groß angelegter Schwindel ist, eine der größten Betrügereien der Wissenschaftsgeschichte
(Einleitung, S. 15)
Ganz im Gegenteil aber hätte Yahya die Pflicht, seine Behauptung, es habe nie eine Evolution gegeben, durch die Beibringung aller existierenden Arten und der ihnen eindeutig zugeordneten Fossilien zu beweisen. Zudem müsste er zweifelsfrei demonstrieren, dass die Merkmale dieser Fossilien mit denen rezenter Arten komplett übereinstimmen, und außerdem, dass der Fossilierungsprozess nicht zum Verlust von Merkmalen geführt hat, die eben doch Abweichungen und Veränderungen belegen könnten. Aus vielen Gründen ein Ding der Unmöglichkeit. Hingegen machen die existierenden Fossilien von Übergangsformen die Anstrengungen von Yahya auf einen Streich obsolet. Yahyas "Methode" ist ein gutes Beispiel dafür, dass es in der Wissenschaft wenig Sinn macht, die Nichtexistenz einer Sache beweisen zu wollen.
Wir haben hier also einen Autor, der eine widerlegte Behauptung mit Behauptungen beweisen möchte, die prinzipiell nicht belegbar sind. Rechnet man hinzu, dass das Thema der Übergangsformen, an dem sich Yahya abarbeitet, für die Evolutionstheorie an Bedeutung verloren hat, weil die Molekulargenetik neue Methoden zur Bestimmung der Verwandtschaftsverhältnisse zwischen den Arten erlaubt, dann sieht man leicht, dass Yahyas verpeiltes Gerede "nicht einmal falsch ist" - der Physiker Wolfgang Pauli fasste mit diesem Bonmot Konstrukte, die die Mindestanforderungen der wissenschaftlichen Diskutierbarkeit nicht erfüllen.
Leute von Yahyas Schlag schreckt so etwas natürlich nicht, denn es geht ihnen nicht um wissenschaftliche Diskussion, sondern um Propaganda. Weil nicht sein kann, was seinen religiösen Überzeugungen nach nicht sein darf, behauptet er einfach wieder und wieder, was er glaubt. Die Übergangsformen erklärt er für nicht existent, der Archäopteryx war für ihn ein Vogel und nichts weiter, die gefundenen Hominiden-Fossilien ordnet er krampfhaft den Affen oder den Menschen zu, weil es nun eben nach seiner Doktrin keine Zwischen- und Übergangsformen gegeben haben darf, die einen gemeinsamen Stammbaum der heute lebenden Menschen und der heute lebenden Menschenaffen belegen. Um seinen Äußerungen den Anschein der Plausibilität zu verleihen, benutzt er immer wieder die gleichen Tricks. Bestimmungsunsicherheiten bei Hominiden-Fossilien bläst er zu Beweisen dafür auf, dass sie auf keinen Fall Übergangsformen, sondern immer nur die Fossilien von Menschen oder Affen sein können. Diskussionen über den Industrie-Melanismus sind ihm der Beleg, dass die Evolutionstheorie ein Schwindel sei. Mit der Molekulargenetik will er fertig werden, indem er behauptet, dass Mutationen niemals evolutionäre Vorteile nach sich ziehen, sondern allenfalls Missbildungen, die zum Tod der betroffenen Individuen führen, und damit der Reinerhaltung der Art dienen:
- Die direkte Auswirkung der Mutationen ist schädlich: Da sie ungeplant auftreten, beschädigen sie fast immer den Organismus der ihnen ausgesetzt ist. Vernunft lehrt uns, dass unbewusste Eingriffe in eine vollkommene und komplexe Struktur dieselbe nicht verbessern, sondern nur einschränken können. Tatsächlich konnte bisher niemals eine "vorteilhafte Mutation" beobachtet werden.
- Mutation fügt der DNS eines Organismus keine neue Information hinzu: die Trägerteilchen der genetischen Information werden entweder aus ihren Plätzen herausgerissen, zerstört oder an andere Stellen versetzt. Mutationen können ein Lebewesen nicht dazu bringen, ein neues Organ oder eine neue Charaktereigenschaft auszubilden. Sie können lediglich Abnormalitäten verursachen, wie etwa ein am Rücken wachsendes Bein, oder ein am Bauch wachsendes Ohr.
Analoger Unsinn prägt auch Yahyas Bild der Selektion:
Die natürliche Selektion dient als ein Mechanismus, durch den die schwachen Individuen innerhalb einer Spezies entfernt werden. Sie ist ein Konservationsmechanismus, der die bestehende Spezies vor Degeneration bewahrt. Darüber hinaus hat sie keinerlei Fähigkeit, eine Spezies in eine andere umzuwandeln.
Warum Gott nur die negativen Aspekte der Mutation und des Selektionsprinzips zugelassen haben sollte, wenn bei dem Mechanismus nicht auch ab und zu etwas Brauchbares herausspringt, bleibt Yahyas Geheimnis. Einfach Stasis ohne Mutation und Selektion zu verordnen, sollte in einer ohnehin ab Werk perfekten Schöpfung ein Leichtes gewesen sein. Aber vielleicht wollte Gott sich eine Möglichkeit vorbehalten, Abweichler zu bestrafen. Vielleicht trifft das auch nur auf Harun Yahya zu.
Wenn das alles so albern ist, warum sich überhaupt damit beschäftigen? Das Problem ist, dass Yahyas vergiftete Gewissheiten wirken. Die "Beweiskraft" seiner Schriften, deren er sich so rühmt, beruht auf falscher Anschaulichkeit. Seine verkitschte pseudowissenschaftliche Frömmelei ist millimetergenau auf den infantilen Geschmack eines kritikunfähigen Publikums zugeschnitten, das lieber Trost und Halt in Märchen sucht, als etwas über die Welt erfahren will. Seine Methode der endlosen Wiederholung, gepaart mit der Taktik, den Leser mit Bildern zu erschlagen, ist simpel, aber gerade bei seiner Zielgruppe effektiv. All zu lange haben echte Wissenschaftler über Autoren wie Harun Yahya nur gelacht, oder haben "geschwiegen und sind vorübergegangen".
Das ist bei der Sachlage verständlich, weist aber auf einen blinden Fleck der modernen Wissenschaft selbst hin. Echte Naturwissenschaftler verstehen sich, von Ausnahmen wie Carl Sagan und Richard Dawkins abgesehen, als Kritiker ihrer selbst und ihrer Kollegen, nicht aber als Kritiker des gesellschaftlichen Umfelds, in dem ihre Wissenschaft stattfindet. Daher sind sie oft den Veränderungen gegenüber blind, die dieses gesellschaftliche Umfeld durchmacht. Aber das Aufkommen des Kreationismus stellt eine gesellschaftliche Veränderung dar, die mehr Beachtung und Kritik verdient als bisher. Denn einen Verdienst hat der "Atlas der Schöpfung" durchaus, auch wenn es nicht der ist, den sein Autor sich schon in den multiplen Vorworten zuschustert. Er macht mit aller wünschenswerten Klarheit deutlich, was von der Wissenschaft übrig bliebe, wenn Leute wie Yahya das Sagen hätten: nichts außer dem pseudowissenschaftlich aufgemöbelten Starrsinn des religösen Dogmas. Und das wäre, bei aller notwendigen Kritik an der Wissenschaft selbst, eine Tragödie.