Weltfrauentag: Geschlechtsspezifische Fluchtgründe anerkennen
Seite 2: Die Istanbul Konvention: bislang nur leere Worte
- Weltfrauentag: Geschlechtsspezifische Fluchtgründe anerkennen
- Die Istanbul Konvention: bislang nur leere Worte
- Auf einer Seite lesen
Ebel führt weiter aus: "Wir wissen es alle, die Istanbul-Konvention wurde von der Mehrzahl der europäischen Länder und von den Regierungen des Schengen-Raums ratifiziert. Frauen, die Gewalt erlitten haben, haben einen Rechtsanspruch auf internationalen Schutz. Doch bislang ist dieses Recht nur eine Sammlung toter Buchstaben. Das ist unannehmbar. Unsere Petition soll helfen, diesen Zustand zu ändern."
Die Istanbul Konvention wurde als Übereinkunft des Europarats am 11. Mai 2011 unterzeichnet. Zur Überprüfung ihrer Umsetzung wurde eine "Group of Experts on Action against Violence against Women and Domestic Violence (Grevio) eingesetzt. Nachdem die Konvention in Deutschland im Februar 2018 Gesetzeskraft erlangt hatte, berichtete die Bundesregierung im September 2020 an Grevio über die Situation in Deutschland.
Ergänzend verfassten die Hilfsorganisation Pro Asyl, einige Flüchtlingsräte und die Universität Göttingen im Juli 2021 einen Bericht "zur Umsetzung der Istanbul-Konvention in Bezug auf geflüchtete Frauen und Mädchen in Deutschland.
Sie stellten fest: "Es wird sichtbar, dass das Asyl- und Aufenthaltsrecht an vielen Stellen in einem eklatanten Widerspruch zum Gewaltschutz steht. Es besteht umfangreicher Handlungsbedarf."
Die geschlechtsspezifische Gewalt, die Geflüchtete in ihren Herkunftsländern erfahren, geht nicht nur auf der Flucht weiter, sondern auch in Deutschland. Frauen, Mädchen und LGBTIQA+-Personen sind bei der Unterbringung in Sammelunterkünften von Gewalt bedroht, im Asylverfahren werden ihre Fluchtgründe oft nicht mit ausreichender Sensibilität erfragt, sie bekommen keine bedarfsgerechte medizinische Versorgung und keine angemessene Beratung und Unterstützung.
"Sie wollen angstfrei, selbstbestimmt, informiert, geschützt sein"
"Das deutsche Asylsystem ist so aufgebaut, dass Frauen und LGBTIQA+ Personen ununterbrochen unter immensen Druck stehen und sich oft ohne Sicherheitsgefühl durchkämpfen müssen. Für einige von uns kann dieser Zustand mehrere Jahre andauern", erklärt Aigün Hirsch vom niedersächsischen Flüchtlingsrat. Sie hat sowohl aus der Referent:innenperspektive als auch durch ihre persönliche Fluchterfahrung Expertise gesammelt.
"Der Kampf endet nicht mit einem sicheren Aufenthaltstitel", so Aigün Hirsch:
Vielmehr können wir uns ab diesem Zeitpunkt dem manchmal weniger überlebenswichtigen, dennoch lebenswichtigen Kampf gegen erlebte sexistische Diskriminierung und Gewalt nicht mehr entziehen. Aus meiner Beratungsarbeit mit Schutzsuchenden versuche ich hier die Stimmen der Frauen und LGBTIQA+ Angehörigen einzubringen. Sie wollen angstfrei, selbstbestimmt, informiert, geschützt vor rassistischer und geschlechtsspezifischer Gewalt sein; respektiert, gehört und gesehen werden, auf allen Etappen des Asylverfahrens und danach, sowie in ihrem alltäglichen Leben.
Eine auf die Bedarfe und mögliche Einschränkungen der Schutzsuchenden abgestimmte Anhörung zu den Fluchtgründen sei eine notwendige Grundlage, um ein faires Asylverfahren zu schaffen.
"Von Anfang an muss allen schutzsuchenden Frauen und LGBTIQA+ Personen menschenwürdiger Wohnraum, Privatsphäre, Zugang zu gesundheitlicher Versorgung sowie Zugang zu Bildungs- und Sprachlernmöglichkeiten, und nicht zuletzt zum Arbeitsmarkt gewährt werden. Und das unabhängig von ihrer Herkunft!", betont Aigün Hirsch.
Ein Europäisches feministisches Netzwerk des Widerstands
Die Petition soll am 11. Mai 2022, dem Jahrestag der Istanbul Konvention, den europäischen Institutionen übergeben werden. "Natürlich reicht es nicht aus, Unterschriften zu sammeln und sie einzureichen, damit sich etwas ändert.
In der Schweiz wissen wir das nur zu gut" sagt Ebel. "Bei uns gibt es beispielsweise seit 1981 das verfassungsmäßige Recht auf gleichen Lohn für gleichwertige Arbeit, aber ein Arbeitgeber kann dieses Recht noch heute ungestraft ignorieren. Eine Petition ist ein Instrument, das uns hilft, eine Kampagne aufzubauen und uns um eine gemeinsame Aktion zu versammeln."
Die Unterschriften sollten dazu dienen, die öffentliche Meinung zu alarmieren und eine Debatte in der gesamten Gesellschaft anzuregen, Politiker*innen aufzufordern, in den Parlamenten zu intervenieren und Druck auszuüben, damit sich die Dinge ändern. Marianne Ebel:
Am Anfang waren wir nur ein paar feministische Aktivistinnen, die sich für Migrantinnen einsetzten, insbesondere für Frauen, die Asyl beantragten. Wir waren – und sind noch immer – schockiert darüber, dass diejenigen, die in ihren Herkunftsländern misshandelt wurden, die auf dem Weg ins Exil, aber manchmal auch bei ihrer Ankunft in Europa vergewaltigt wurden, ohne Versorgung und ohne Rechte bleiben und in ein anderes Land zurückgeschickt werden. Das ist nicht hinnehmbar.
Sie ist sich sicher, dass die Aktionen des Bündnisses nicht am 11. Mai enden werden. "Der Krieg in der Ukraine verleiht unserer Petition eine hohe Aktualität" so Ebel, "und wir brauchen jetzt Tausende von Menschen, die die Petition online unterzeichnen. Eine einfache und kleine Geste, aber von großer Bedeutung. Sie bedeutet 'Ja, ich stimme zu, wir müssen diese Forderungen in die Tat umsetzen.‘ Die Unterschrift kann aber auch der erste Schritt zu einem größeren Engagement sein. Wer unterzeichnet, wird eingeladen, sich der Kampagne von Feminist Asylum anzuschließen, wenn gewünscht. So wird, Schritt für Schritt, das Europäische Netzwerk des Widerstands und des Kampfes für die Rechte von Flüchtlingen und Migrantinnen gestärkt."