Wenn Linke sich weniger an "Querdenkern" abarbeiten
Verstärkt überlegen sozialpolitische und antifaschistische Gruppen, wie sie in der Corona-Krise mit eigenen Forderungen auftreten und Rechte von Unzufriedenen isolieren könnten
Dass das Verhalten von Linken zur Regierungspolitik in der Corona-Krise "ein ziemliches Desaster darstellt, wird allmählich – zwei Jahre nach deren Ausbruch – problematisiert", stellte kürzlich der emeritierte Politologe Joachim Hirsch fest. "Wenn auch eher noch etwas vereinzelt", so Hirsch, der in den 1970er-Jahren einer der Stichwortgeber einer linken Staatskritik gewesen ist.
Er findet es erstaunlich, dass es von linker Seite vor allem darum ging, "sich an 'Querdenkern', 'Verschwörungstheoretikern' und Impfgegnern abzuarbeiten – und zugleich die staatlichen Maßnahmen praktisch vorbehaltlos zu unterstützen, wenn nicht sogar als ungenügend zu kritisieren. "Als hätte es nicht einmal eine elaborierte Kapitalismus- und Staatskritik gegeben", so Hirsch.
Diese Erkenntnis verbreitet sich auch verstärkt in der Bewegungslinken. Dazu gehört die Initiative Jour Fixe - Gewerkschaftslinke Hamburg, die in einem Offenen Brief das Bündnis Hamburg gegen Rechts davor warnte, alle Teilnehmer der "Spaziergänge" und Demonstrationen gegen die Impfpflicht pauschal im rechten Spektrum zu verorten:
Die Samstag-DemonstrantInnen sind zum allergrößten Teil keine Linken. Um so mehr sollte man sich freuen, dass sie auf die Straße gehen, ihre Meinung und ihre Interessen kundtun.
Für sie war es sicher keine Sympathiewerbung für "links", wenn kleine Grüppchen von Antifas oder Omas gegen Rechts am Straßenrand standen und sie mit Rufen "Nazis, Nazis" beschimpften.
Aus dem Offenen Brief der Initiative Jour Fixe – Gewerkschaftslinke Hamburg
Der Offene Brief wird auf der Homepage des Hamburger Bündnisses gegen Rechts nicht erwähnt. Allerdings fällt auf, dass in den letzten Wochen dort nicht mehr zu Gegendemos gegen die Corona-Maßnahmengegner aufgerufen wurde.
"Gegen Kapital und Impflobbyismus"
Wie der taz-Journalist Andreas Speit am Freitag berichtete, haben auch anarchistische Gruppen angekündigt, gegen "Kapital und Impflobbyismus" auf die Straße zu gehen. Speit schreibt:
Diese linke Kritik an den staatlichen Pandemiemaßnahmen wird lauter. In den vergangenen Wochen forderten in Hamburg unter anderem "Freie Linke" und Anarchist:innen, die Impfpatente freizugeben und keinen staatlichen Impfzwang durchzusetzen. Auch forderten sie auf den Demos "Champagner für alle". Mit rotem Stern und geballter Faust wurde zuvor für die Demonstration am Samstag geworben. In einen der Telegram-Kanäle der Querdenkenden- und Corona-Leugnenden-Bewegung fand sich das Plakat zum Aufruf der Demonstration. Den Aufruf veröffentlichte auch die "Anarchistisch Libertäre Freie Linke" in ihrem Telegram-Kanal.
Andreas Speit, taz-hamburg
Speit, der sich Jahre mit rechten Gruppen befasst und sich auch schon länger kritisch mit den Protesten gegen die Corona-Maßnahmen befasst, hat allerdings wohl übersehen, dass es sich bei den erwähnten Anarchisten um eine Untergruppe der umstrittenen Freien Linken handelt. Es muss sich noch zeigen, wie groß der Kreis der Linken ist, die dort tatsächlich mitwirken.
Was tun gegen Rechte bei Protesten, deren Kernthema nicht rechts ist?
Die globalisierungskritische Organisation Attac hat sich erst kürzlich wieder von einigen ihrer Mitglieder distanziert, die am 5. Februar an einer Kundgebung unter dem Motto "Wir wollen alle wieder tanzen gehen" teilgenommen haben. Dort sollen auch diverse Rechte gewesen sein, aber ohne sich offen als solche zu erkennen zu geben.
Die Anmelderin der Demonstration hat mittlerweile erklärt, dass sie sich eindeutig von Rechten wie der AfD distanziert. Doch der Attac-Ko-Kreis antwortete, die Bewegung gegen die Corona-Maßnahmen sei insgesamt derart von Rechten beeinflusst, dass ein vollständiger Bruch mit dieser Bewegung nötig sei.
Was wäre so aus den Hartz-IV-Protesten geworden?
Da wäre natürlich eine Diskussion sinnvoll, wie man Rechte in solchen Bewegungen am besten bekämpft. Besteht nicht die Gefahr, dass durch diese Taktik Menschen, die sich von Rechten distanzieren, eher in deren Richtung gestoßen werden? Können sich Rechte nicht als Gewinner sehen, wenn allein ihre Teilnahme ohne eindeutige Symbole dazu führt, dass Linke nicht mehr versuchen, auf den Rest der Beteiligten argumentativ einzuwirken, sondern alle pauschal abstempeln?
Wäre es nicht sinnvoller, mit emanzipatorischen, solidarischen Forderungen in diese Proteste zu gehen und damit rechte Gruppen zu isolieren und auszugrenzen?
Das ist zum Teil bei der Gelbwesten-Bewegung in Frankreich oder auch bei der Bewegung gegen die Hartz-IV-Gesetze 2004 in Deutschland gelungen. Auch dort liefen Rechte mit. Hätten sofort alle Linken die Proteste verlassen, wäre das für sie ein Triumph geworden.
Weil damals sowohl in Frankreich als auch in Deutschland basisgewerkschaftliche und soziale Gruppen diese Bewegungen nicht verlassen haben, konnten sie verhindern, dass sie sich nach rechts entwickelten. Daran will eine linke Gruppe anknüpfen, die unter dem Motto "Kapitalismus ist keine Verschwörungstheorie" dazu aufruft:
Lasst uns Nazis aus den Demos drängen. Lasst uns Verschwurbelte aufklären und ihnen nicht als herablassende Herrenmenschen begegnen. Lasst uns gemeinsam den Kapitalismus bekämpfen, denn dieser ist keine Verschwörungstheorie.
Gruppe "Kapitalismus ist keine Verschwörungstheorie"
Dass es dabei nicht um Impfgegner, sondern um Kritiker einer Impfpflicht handelt, zeigt der Forderungskatalog am Ende. Dazu gehören:
Pharmagewinne abschaffen!
Impfstoffpatente freigeben!
Masken und Test für alle kostenlos!
Schluss mit 2G Diskriminierung!
Für eine freie Impfentscheidung!
Kein Pass Sanitär!
Champagner für alle, Impfen wer will!.
Aus der Forderungskatalog der Gruppe "Kapitalismus ist keine Verschwörungstheorie"
In eine ähnliche Richtung gehen die Überlegungen der Offenen Antifa Köln, die sich inhaltlich mit der Querdenken-Bewegung befasst hat. Dabei unterscheidet sie grob zwei große Gruppen: Überzeugte Rechte und Esoteriker, die bekämpft werden sollen.
Die zweite Gruppe seien "Kleinbürgerinnen und Kleinbürger, die an verschiedenen Zeitpunkten aufgrund von starken Einschnitten in ihrer finanziellen Situation und daraus resultierenden existenziellen Ängsten, einen einfachen Ausweg aus der Pandemie genommen haben, nämlich die Leugnung der Pandemie oder einzelner Aspekte des gesellschaftlichen Pandemiegeschehens, wie z. B. der Impfungen, der Maskenpflicht oder der tatsächlichen Todeszahlen".
Die Offene Antifa Köln plädiert für einen differenzierten Umgang mit den Maßnahmen-Gegnern: Während die Rechten klar bekämpft werden sollen, müsse den wütenden Kleinbürgern, die nach ihrer Analyse die Mehrheit der Demoteilnehmer ausmachen, eine linke Alternative aufgezeigt werden. Die Antifaschisten verweisen auf das linke Umverteilungsbündnis "Wer hat, der gibt" oder Arbeitskämpfe in Krankenhäusern und im Pflegebereich.
Tatsächlich könnten da noch einige aktuelle Forderungen dazu kommen, beispielsweise wenn es um die Impfpflicht im Gesundheitsbereich geht. Eine große Mehrheit der Beschäftigten ist geimpft. Es gibt aber auch Beschäftigte dort, die durchaus keine Impfkritiker sind, aber dagegen, dass jetzt ihnen jetzt besondere Pflichten aufgelegt werden, obwohl gerade sie zu Beginn der Pandemie als Heldinnen und Helden beklatscht wurden.
Sie befürchten, dass durch die einrichtungsbezogene Impfpflicht die sowieso desolate Personalsituation noch kritischer wird. Ein anderes Thema wäre der frühzeitige Widerspruch gegen Sanktionen für Nichtgeimpfte in Jobcentern. Es war wohl ein Versuchsballon, dass der Chef der Bundesagentur für Arbeit darüber nachdachte, ob Ungeimpften das Arbeitslosengeld gesperrt werden könnte.
Noch ist völlig unklar, wer betroffen sein soll und ob eine solche Sanktionierung rechtlich überhaupt möglich ist. Aber da sollte man nicht warten, bis der Status ungeimpft bedeutet, die Betroffenen tun nicht alles, um einen Job zu bekommen. Damit könnte Sanktionen begründet werden. Es wäre für eine außerparlamentarische Linke an der Zeit, sich hier klar dagegen zu positionieren, bevor auch hier die Rechten auch hier wieder anzudocken versuchen.
Truckerproteste mit globaler Wirkung
Wie schnell das heute auch global geht, zeigen die Truckerproteste, die in Kanada begannen und sofort von Rechten in den USA und auch in Australien aufgegriffen wurden. Besonders nervös wurde die rechtsliberale Regierung in Frankreich, als dort auch Trucker einen Marsch auf Paris angekündigt haben.
Schließlich sind die Präsidentschaftswahlen nicht mehr weit – und im französischen Staatsapparat ist die Angst groß, dass damit auch die Gelbwesten-Bewegung wieder Auftrieb bekommt, nachdem sie durch die Pandemie weitgehend lahmgelegt war. Von beiden Bewegungen fühlen sich Menschen angesprochen, die bisher noch nicht politisch aktiv waren. Ob bei den Trucker-Protesten linke Interventionsversuche möglich sind, wird sich zeigen. Denn ein Problem ist, dass in vielen Ländern linke Gruppen einen großen Bedeutungsverlust erlitten haben.
Kein linker Protest zur Steinmeier-Wahl
Das zeigt sich in Deutschland auch nicht zuletzt daran, dass die sichere Wiederwahl von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) ohne linke Proteste über die Bühne ging. Obwohl Steinmeier sowohl zu den Architekten von Agenda 2010 und Hartz IV gehört hatte, als auch dafür gesorgt hatte, dass der in Deutschland geborene und aufgewachsene türkische Staatsbürger Murat Kurnaz mehr als vier Jahre lang unschuldig im US-Gefangenenlager Guantanamo eingesperrt blieb. Steinmeier hatte 2002 als Kanzleramtschef ein Freilassungsangebot von Seiten der USA ausgeschlagen und später bestritten, dass dieses offiziell und belastbar gewesen sei.
Kurnaz' Anwalt Bernhard Docke, der mit der Mutter des Opfers für seine Freilassung kämpfte, ist am selben Wochenende nach Berlin gekommen, weil auf der Berlinale der Film "Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush" läuft, der diesen Kampf zum Thema hat. Wäre die linke Bewegung nicht so marginal, hätte sie im Zentrum von Berlin zeitgleich zur Präsidentenwahl eine Veranstaltung oder Kundgebung organisiert – unter dem Motto "Steinmeier – nicht unser Präsident".
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