Wenn die Grünen die absolute Mehrheit hätten
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Mediensplitter (20): Analysen zur Lage im Ampel-Land. Freiheit im Clinch mit Wohlstand und Verzicht. Wie veränderungsfeindlich ist Deutschland?
Nach etwa einer Stunde lud Ulf Poschardt ein zu einem originellen Gedankenexperiment: "Was wäre, wenn die Grünen die absolute Mehrheit hätten? Was wäre dann? Wie läuft es dann?"
Eine klare Antwort hatte der Chefredakteur der Welt-Gruppe leider nicht, stattdessen nur die melancholische Feststellung, dass sie kulturell und medial bereits eine Zweidrittel-Mehrheit hätten. Darüber kann man streiten, doch statt den Grundsatzfragen zu folgen, verhakte sich die Debatte zu oft in den widerstreitenden Temperamenten der drei Diskutanten.
Vor allem Poschardt, bekennender FDP-Versteher und der den Grünen nahestehende Politikwissenschaftler Albrecht von Lucke (Blätter für Deutsche und Internationale Politik) bellten sich an wie Kinder auf dem Pausenhof, während taz-Chefredakeurin Ulrike Winkelmann etwas unbeteiligt daneben stand.
Angst vor Streit und eine Art verlagerter Kulturkampf
"Grüne gegen FDP. Wie viel Ampelzoff verträgt das Land?" – so hieß der Titel der Sendung "Kontrovers" im Deutschlandfunk. Ein Debatten-Framing, das man keineswegs unterschreiben muss. Denn vielleicht überschätzen die Medien diesen Streit gewaltig.
Im Gegenteil jazzen sie ihn kalkuliert hoch, weil das ihnen und der Auflage nutzt. Schon die Angst vor Streit und die Unterstellung, Streit sei irgendwie etwas Politikfernes und nicht vielmehr die Essenz des Politischen, ist eine typisch deutsche Blickverengung und Fehlannahme.
Trotzdem war es eine Sendung von erhellender Qualität und einem analytischen Niveau, wie es in deutschen Medien selten ist, auch weil die Konstellation der Teilnehmer konstruktiven Streit gewissermaßen vorprogrammierte.
"Die Deutschen tun sich immer schwer mit Streit", sagte Poschardt gleich zu Beginn der Sendung und versuchte die Hysterie aus der Debatte zu nehmen. Dabei gehöre Streit zum Alltag. Die Ampel auf Bundesebene sei schließlich ein historischer Versuch, alle Beteiligten hätten vorher gewusst, worauf sie sich einlassen und wie schwer das wird. Die FDP habe eine undankbare Rolle, denn sie stehe "für eine Minimalvernunft, ökonomische und finanzpolitische Minimalvernunft".
Dankbar für die FDP sei an jedem Morgen Kanzler Olaf Scholz: Die FDP halte ihm nämlich "die irren Pläne seiner eigenen Partei und die noch wilderen umfassenderen Umgestaltungspläne der Grünen" auf Distanz.
Die Enttäuschung der FDP-Wähler sei verständlich, "weil die FDP mitgemacht hat in der Corona-Hysterie", wie die der grünen Wähler, "weil die schönen Regulierungs- und Verbots- und Verzichtsüberlegungen mit den kritischen FDP-Nachfragen verunmöglicht wird".
Der Streit sei aber nur etwas Vordergründiges.
Die eigentliche Frage ist: Wie kann man aus so einer Konstellation wieder ein Projekt machen. Projekt, indem es eine Addition von Stärken ist, die alle Parteien haben und nicht eine Art verlagerter Kulturkampf. Und da halte ich, anders als viele viele Journalisten, die FDP für sehr viel moderater, als die meisten Teile der Grünen.
Ulf Poschardt
Die Ähnlichkeiten zwischen Grünen und FDP
Politik wird heute nicht nur von den Medien, sondern inzwischen von den Politikern selbst als Daily-Soap erzählt: "Der Streit zwischen Lindner und Habeck", die Briefe, die sich die Minister hin und her schreiben. Kanzler Scholz spielt in der Soap den guten Hausvater, der zwischen den ungehörigen Kindern schlichtet und den Frieden wiederherstellt. Am Rand die entfernten Verwandten Nouripour und Lang, Esken und Klingbeil und der Fraktionsvorsitzende der FDP Christian Dürr, die zum Zuhören gezwungen sind.
"Viele fragen sich inzwischen, ob diese Regierung nicht längst an ihre Grenzen gestoßen ist? Sind die Grundsätze liberaler und grüner Politik überhaupt miteinander vereinbar?" – schon diese Fragen von Deutschlandfunk-Redakteur Tobias Armbruster, einer der besten in der Politikredaktion, sind keineswegs zwingend. Man könnte den Zustand der Koalition auch ganz anders beschreiben.
Man könnte, wie der Soziologe Andreas Reckwitz (vgl. Sind wir zu müde und zu ängstlich für den Fortschritt?), die Ähnlichkeiten zwischen Grünen und FDP betonen.
Man könnte erklären, warum die Grünen auch eine liberale, in Teilen sogar neoliberale Partei sind und nicht der Gegensatz zu irgendeinem Liberalismus, egal, wie man ihn genau versteht. Man könnte auch versuchen, zu erklären, warum diese angeblich so gegensätzlichen Parteien im gleichen Sozialmilieu wildern, die gleichen Wähler ansprechen, warum beide Parteien bei den jungen Wählern führen?
Apokalyptische Zukunftsszenarien
Zwei Dystopien traten damit in Wettstreit zueinander: Während Poschardt die Dystopie eines grünen Neofeudalismus an die Wand malte, in dem die absolutistischen Regenten eines allmächtigen Staats "in die Art zu heizen, zu fahren, zu essen, zu sprechen und zu denken" eingreifen, und die Gegenwart gegen die Zumutungen durch den Angriff apokalyptischer Zukunftsszenarien verteidigte, sah Albrecht von Lucke anderes: Das Untergangsszenario in einer entfesselten Freiheit, die die Zukunft der Gier und der Verzichtsapathie der Boomer opfert.
Angesichts dessen nahm er die Position eines linkskonservativen Haushaltsmanagers ein, der immer wieder gegen Poschardts freiheitliche Positionen mit dem Wohlstand argumentierte, der für zukünftige Generationen zu bewahren sei.
Von der Utopie einer anderen Gesellschaft ist da zumindest rhetorisch keine Rede. Stattdessen liegt Luckes Utopie im Technokratischen eines Mikromanagements jedes kleinsten Lebensbereichs, kombiniert mit einem Verbotsregime, das bestimmte Energien komplett untersagt, und andere hoch besteuert, und das um jede seiner Handlung einen moralischen Kranz aus "Verantwortung" flicht.
Die Grünen, so Lucke, seien unter der Last ihrer "Zukunftsverantwortung" "die Einzigen, die die Idee der Transformationskoalition wirklich hart durchdeklinieren, mit Kosten, mit Verlusten für die gegenwärtig Lebenden".
Lucke betonte aber sehr einseitig die ökologische Frage. Als ob es keine andere gäbe. Gibt es nicht einen Krieg und außenpolitische Herausforderungen, die zu lösen sind und die Drohung eines globalen Konflikts, der jede Vorstellung von Transformation ohnehin unmöglich machte, falls er ausbricht?
Und muss Transformation nicht finanziert werden? Wie?