"Wer hat die Grenzziehung zwischen Männern und Frauen wie gemacht?"

Seite 2: "Differenz, Gleichheit und Natur"

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Viele Vertreter von den Gender Studies sagen: So etwas wie Natur gibt es gar nicht...

Paula-Irene Villa: Ich glaube, das ist eine verkürzte Wahrnehmung. Ich würde das zwar in vielen Kontexten durchaus auch so sagen, aber, was damit gemeint ist: Es gibt Natur nicht als das Außersoziale, Ahistorische, An-sich-so-Seiende, was dann die so genannten Naturwissenschaften sich direkt abschauen können. Ich bin wie viele meiner Kollegen und Kolleginnen aus einer Fülle von Gründen nicht überzeugt, dass man das in diesem naiven Sinne sagen kann. Das ist für die Geschlechterforschung wichtig.

Wenn ich noch einmal auf das Thema von vorhin zurückgreifen darf: Differenz, Gleichheit und Natur. Die Auseinandersetzung mit Natur ist eine ganz zentrale, weil daran der Geschlechterdiskurs seit Ende des 18. Jahrhunderts so eng gekoppelt ist, so dass die Auseinadersetzung darüber, was Natur heißt, virulent wird. In diesem Sinne würde das Gros der Geschlechterforschung sagen, es gibt nicht so etwas wie die Natur, die sozusagen fertige Frauen und Männer kennt. Aber dass es eine materiale Möglichkeit, eine Ontologie gibt, die nicht aufgeht in sozialwissenschaftlicher Beschreibung, damit hat kaum jemand ein Problem. Es bleibt aber die alte epistemologische Frage: Wie können wir von Natur reden, wenn wir von ihr reden, was ja eine soziale Praxis ist?

Welches sind für das Verständnis der Gender Studies die wichtigsten, die sie begründenden und tragenden Publikationen? Und worin besteht deren besondere Bedeutung?

Paula-Irene Villa: Ah, die Frage nach dem Kanon - da macht man sich ja nur unbeliebt! Ganz klar ist Simone de Beauvoir ein zentraler Text. Ich als Soziologin finde einige Texte der ersten Frauenbewegung sehr wichtig (zum Beispiel die von Hedwig Dohm), dann Georg Simmel, der einzige Klassiker der Soziologie, der sich immer wieder mit der Geschlechterfrage auseinandergesetzt hat, von Friedrich Engels die Familienschrift, einige Sachen von Marx, aber eher in vermittelter Form. Nicht so sehr also in direkter Bezugnahme, aber weil die Unterscheidung von Reproduktion und Produktion so wichtig ist, ist die Auseinandersetzung mit Marx zentral.

Wenn wir dann in das zeitgenössische Feld gehen, sind es ganz sicher Texte aus der sogenannten Ethnomethodologie, in den USA von Herbert Garfinkel und S.Kessler/W. McKenna, die in den 60er und 70er Jahren das Doing Gender-Konzept ohne großen theoretischen Unterbau empirisch entwickelt haben. Dann Barbara Duden, Gerda Lerner, Karin Hausen, Claudia Honegger, Ursula Beer, Regina Becker-Schmidt und Gudrun-Axeli Knapp, also vor allem geschichtswissenschaftliche und gesellschaftstheoretische Texte, die klar gemacht haben, dass das bürgerliche Geschlechtermodell ein partikular und historisch spezifisch ist, wie auch die Rede von der Natur: Die Natur der Frauen als Hausfrau, die Natur der Kindheit und so weiter.

Das bürgerlich-moderne und kapitalistische gerahmte Geschlechtermodell ist ein historisch partikulares und zudem elitäres Projekt der westeuropäischen Aufklärung und kein Abbild einer allgemeinen Praxis. Diese und viele weitere Autorinnen haben darauf hingewiesen, dass die Rede von der "Natur" der Geschlechter ihre eigene historische Verortung verschleiert und damit ein gesellschaftliches Phänomen ideologisch gegen Wandel immunisiert. Für die aktuellen Debatten sind absolut zentral die Arbeiten von Judith Butler, die auf den performativen und diskursiven Charakter der Geschlechterdifferenz aufmerksam machen, sowie die Auseinandersetzungen um intersectionality, die wiederum nachdrücklich hinweisen auf die interne Komplexität von Geschlecht im Sinne einer Differenz, die sich mit anderen Differenzen kreuzt.

Wie steht es mit den Texten von Shulamith Firestone?

Paula-Irene Villa: Interessant, dass Sie danach fragen. Für die USA und für den politischen Kontext der (frühen) Frauenforschung in Deutschland waren ihre Texte sicherlich wichtig, wobei ihre Arbeiten in der Frauen- und Geschlechterforschung nicht kanonisch wurden.

"Für Butler ist Gender prekär"

Wie sieht es speziell mit den Werken von Judith Butler aus?

Paula-Irene Villa: Sie ist derzeit ohne Zweifel die bekannteste, faktisch auch eine der wichtigsten Autorinnen der Gegenwart. Doch Judith Butler hat weder den Begriff der Gender Studies erfunden, noch die Gender Studies begründet, auch war sie nicht deren erste Theoretikerin. Sie selber würde das auch nie von sich behaupten, aber gemeinhin wird ihr das unterstellt beziehungsweise zugeschrieben. Judith Butler war im deutschsprachigen Raum in den 1990er Jahren sehr umstritten, wie das bei vielen Theoretikern und Theoretikerinnen - vor allem in Deutschland - eben so ist. Bei Bourdieu und Foucault war das auch nicht anders, die sich alle dann eher zögerlich durchgesetzt haben.

Butler und die Gender Studies sind nicht synonym; Butlers Arbeiten markieren eine hinsichtlich der (Forschungs-)Produktivität kaum zu überschätzende Position, aber zugleich existiert ein sehr weites Forschungsfeld, in dem mit vielfachen Ansätzen, Methoden und Fragestellungen gearbeitet wird. Im Kontext von Butler sind dann verschiedene französische poststrukturalistische Theoretiker und Theoretikerinnen überhaupt oder erneut rezipiert worden, zum Beispiel Derrida, Deleuze, Althusser etcetera.

Das Stichwort Diskurs ist sehr eng mit Butler verknüpft. Grundsätzlich ist Butler so wichtig, weil sie argumentiert, dass Gender keine innere "Wahrheit" hat, keine fixierbare Essenz. Vielmehr, so Butler, sei Gender ein performativer Diskurs beziehungsweise eine performative Praxis, die sich an diskursiven Normen orientiere. Gender ist dabei immer vorläufig und brüchig. Damit passt Butler gewissermaßen zu vielen politischen beziehungsweise kulturellen Formen und auch ökonomischen Dynamiken der Gegenwart. Prekarisierung zum Beispiel ist ein ökonomisches und kulturelles Phänomen, das mindestens ambivalent ist. Für Butler ist Gender selbst prekär.

Butler bündelt in ihren Arbeit viele wichtige Themen der Gender Studies, und liefert zu deren Beforschung innovative und wichtige Impulse: Herrschaft, Differenz, Praxis, Körper, Subjekt, Vergesellschaftung, Diskurs/Sprache - das sind diese zentralen Themen. Und schließlich bilden die Arbeiten eine Schnittstelle zwischen Gender und queer studies, das heißt das Zusammendenken von und Forschen zu Geschlecht, Begehren und Normalisierung als (auch Herrschafts-)Logik. Inzwischen ist aber auch das Stichwort "Intersektionalität" von großer Bedeutung: Intersectionality knüpft an frühere Debatten um race, class and gender an.

Es geht hier um verknüpfte Ungleichheits- und Differenzstrukturen: Wir sind ja nicht nur ein Geschlecht und es ist in der Empirie wie auch in der Theorie die Frage, wie sich mit dieser Komplexität umgehen lässt. Dies wird zur Zeit wieder, unterfüttert mit postkolonialen Perspektiven, sehr intensiv diskutiert. Im Feld der Gender Studies sind viele Texte der cultural studies wichtig, die sich mit dem Feld der Kultur systematisch auseinandersetzen: Angela McRobbie zum Beispiel.

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