Wer ist Meister in hybrider Kriegsführung: Russland oder die USA?
Ein deutscher Marinesoldat sucht nach möglichen Gefahren in der Ostsee bei einer Nato-Übung. 6. Juni 2023. Bild: Nato
Nachrichten über Ukraine: Rede vom Hybridkrieg macht aus nicht-militärischen Aktionen Krieg. Das ist falsch. Und: der Westen geht selektiv vor. (Teil 2 und Schluss)
Im ersten Teil der Analyse "Was steckt hinter dem Vorwurf der hybriden Kriegsführung Russlands in Europa?" konnten wir schon sehen, dass die Aussage, der Kreml systematisch Sabotageakte in EU-Ländern befeuert, auf Unterstellungen beruht, die von Putin und Selenskyj gegenseitig befeuert werden.
Die Liste von vagen Verdächtigungen gegen Russland ließe sich lange fortsetzen. Als ein DHL-Flugzeug in Litauen abstürzt, wird gemutmaßt, dass es sich um einen Terroranschlag durch die Russische Föderation handelt. Das deutsche Außenministerium spricht erneut von einer hybriden Attacke. Indizien, Belege, gar Beweise: Fehlanzeige.
Die Kriegsfront: Graffitis und verdächtige Russen
Die mutmaßliche Hybrid-Kriegsführung der russischen Regierung, die in Europa zu der Bedrohung der Sicherheit erklärt wird, besteht am Ende aus einem Sammelsurium von Mutmaßungen, die sich meist in Nichts auflösen. Erinnern wir uns an die Sprengung der North-Stream-Pipelines 2022, die anfänglich Russland in die Schuhe geschoben wurde, während schnell klar wurde, dass die Spuren in die Ukraine bzw. in die USA führen.
Neben den medial inszenierten High-Profile-Sabotagefällen, die die russische Regierung als Aggressor ins Visier nehmen, wird gleichzeitig eine Flut von kleineren Ereignissen zu einem Geflecht hybrider russischer Attacken gegen die Europäer verwoben, bei denen ebenfalls oft nicht klar ist, wer die Täter sind, ganz zu schweigen vom fehlenden Kreml-Bezug.
Angesicht dieser nebulösen Mischung aus Anschuldigungen, Geschehnissen und Mutmaßungen wird hier nie eine Waffenruhe gelten können. Dieser Krieg wird – faktisch oder mutmaßlich – ewig weitergehen.
Die Chronologie der Zeit über russische Hybridaktionen enthält ein ganze Reihe solcher an sich belanglosen Vorfälle, darunter "verdächtige Fahrzeuge", die vor einer Kaserne in Rheinland-Pfalz registriert worden seien, oder Drohnen, die über Stützpunkten kreisen, Graffitis mit Aufrufen, den Ukraine-Krieg zu beenden, oder Social-Media-Kampagnen.
Das Medienschlachtfeld
Wenn man sich fragt: Was hat der Kreml in den vergangenen drei Jahren seit Ausbruch des Ukraine-Kriegs nun nachweislich an Sabotage und hybriden Aktionen in Europa begangen, die eine Gefahr für die Stabilität der EU-Staaten darstellt, dann wird man mit leeren Händen dastehen.
Man sollte eigentlich meinen, wenn Russland seit über zehn Jahren aus allen Rohren hybriden Krieg gegen Europa führt, so jedenfalls das allgemeine Narrativ, dass man von dieser Jahrhundertbedrohung und kontinentalen Verunsicherung etwas mitbekommen würde. Aber außerhalb des Medienschlachtfelds ist von Destabilisierung nichts zu spüren.
Wenn es keinen Frieden mehr geben soll
Was den Begriff selbst angeht: Dass Staaten im Krieg nicht nur militärisch agieren, sondern auch mit nicht-militärischen Mitteln arbeiten – von Propaganda über verdeckte Aktionen bis zu Sabotage –, um ihre Kriegsziele zu erreichen, ist nichts Neues. Von hybrider Kriegsführung als neuer Kriegskunst zu sprechen, wird daher auch von einer Reihe von Forschern abgelehnt. Zugleich wird der Begriff, der im Zuge der Antiterrorkriege der USA aufkam, wegen seiner ideologischen Ausrichtung kritisiert.
Der Vorwurf lautet: Man versuche, das Recht auf militärische Gewalt auch auf nicht-kriegerische Konfliktsituationen auszuweiten. So sei eine ganze Reihe von Begriffen wie "grenzenloser Krieg", "asymmetrischer Krieg", "Operationen jenseits der Kriegsführung", "neue Arten von Schlachtfeldern"‘ und "irregulärer Krieg" eingeführt worden, mit dem Ziel, die Grenzen zwischen Frieden und Krieg zu verwischen.
Krieg findet danach nicht erst statt, wenn zwei Staaten militärisch mit gewisser Intensität gegeneinander kämpfen, sondern er startet bereits mit Spionageaktivitäten, PR-Kampagnen und Sabotageakten. Das sei aber, so die Kritiker, mit dem internationalen Recht nicht vereinbar und eine gefährliche Ausweitung. Entsprechende Vorwürfe kommen immer wieder von den Präsidenten Wladimir Putin und Wolodymyr Selenskyj im aktuellen Konflikt in Osteuropa.
Der Mythos vom hybriden Krieg
Denn es gehe bei der Kriegsbestimmung nicht darum, wie der Krieg geführt werde (und Kriege sind in der Vergangenheit immer "hybrid" geführt worden), sondern ob es sich überhaupt um einen Krieg handele, der an klare Bedingungen geknüpft ist (und damit auch an entsprechende Regeln und Maßnahmen), so die US-Rechtsprofessorin und Kriegsforscherin Mary Ellen O'Connell von der University of Notre Dame, die vom "Mythos des hybriden Kriegs" spricht.
Sie macht dabei auch klar, inwiefern es überhaupt Sinn ergibt, in Bezug auf das Vorgehen der Russischen Föderation von einem "hybriden Krieg" zu sprechen:
Russlands vielfältiges Verhalten in der Ukraine kann als "hybride Kriegsführung" bezeichnet werden, wenn es mit den eigentlichen organisierten bewaffneten Kämpfen in der Ukraine zusammenhängt.
Deutschland ist nicht die Krim
Wichtig ist hier: "in der Ukraine" und im Zusammenhang mit den "Kämpfen in der Ukraine". Unter dieser Voraussetzung können nicht-militärische Methoden Teil der Kriegsführung in der Ukraine werden, so O’Connell, wie die "grünen Männchen" (Soldaten ohne Hoheitsabzeichen) auf der Krim, Propaganda-Kampagnen, Spionage, Einsatz irregulärer Truppenteile, Korruption und diverse Zwangsmaßnahmen jenseits militärischer Aktivitäten.
Aber Deutschland, Frankreich oder Polen sind eben nicht die Ostukraine oder die Krim und befinden sich auch nicht im Krieg mit Russland und dessen Präsidenten Wladimir Putin.
Es gibt – worauf Russlandkenner immer wieder verweisen, ich habe an anderer Stelle ebenfalls darüber geschrieben – auch keine Kriegsabsichten und Strategien Moskaus, EU- oder Nato-Staaten zu überfallen, ganz zu schweigen von den dafür nicht vorhandenen Mitteln. Aber genau diese Suggestion wird über das Narrativ eines hybriden Kriegs gegen Europa verbreitet.
Kalte-Krieg-Verschwörung 2.0
Murat Caliskan, leitender Forscher bei "Beyond the Horizon International Strategic Studies", einer Organisation mit Sitz in Belgien, hält den Diskurs rund um die hybride Kriegsführung insgesamt für irreführend. So werde jede russische Aktion als Teil einer gut koordinierten Kampagne der "hybriden Kriegsführung" interpretiert – ähnlich wie schon US-Präsident John F. Kennedy im Kalten Krieg der 1960er-Jahre vor einer großen Verschwörung Moskaus warnte.
Damals sprach Kennedy über die enormen Kapazitäten der Sowjets, mit "verdeckten Mitteln", "Einschüchterung", "Kombination von militärischen, diplomatischen, nachrichtendienstlichen, wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und politischen Operationen" den Westen zu attackieren.
Heute erscheint Moskau erneut übermächtig mit seinem angeblichen Monopol an verdeckten, indirekten Methoden, denen Europa nichts entgegenzusetzen habe. Für Caliskan ist die Rede vom hybriden Krieg ein falsches Label, das der Westen Russland aufdrückt.
Der hybride Krieg des Westens
Das hat auch damit zu tun, dass die Kräfteverhältnisse und die Tatsache verzerrt werden, dass nicht Russland, sondern die USA – auch unter Donald Trump – tatsächlich Meister hybrider Kriegsführung sind.
Man muss sich nur die indirekten bis verdeckten Methoden Washingtons und ihrer Bündnispartner der letzten Jahrzehnte anschauen, die von Drohnen- und schmutzigen Kriegen, Privatarmeen, Kooperationen mit Milizen, über finanzielle Erpressung von Staaten, massiver Spionage (siehe den NSA-Skandal oder auch das deutsche BND-Programm, mit dem befreundete Staaten, der Vatikan, internationale Organisationen und ausländische Journalisten ausspioniert werden), bis zu Wirtschaftssanktionen, Propaganda, politischer Beeinflussung von Wahlen und Unterstützung von Aufständen/Revolutionen in ehemalige Sowjetstaaten reichen.
Außerdem wird in der öffentlichen Debatte im Westen nur auf die angebliche hybride Kriegsführung Russlands gegen Europa abgehoben. Verwandte Methoden, die der Westen gegen Russland anwendet, um Moskau unter Druck zu setzen, werden nicht unter diese Kategorie gefasst.
Die USA und die Nato-Staaten betreiben aber ebenfalls Spionage, PR und politische Einflussnahme gegen Russland. Nach gängigen Standards müsste man darüber hinaus die Nato-Osterweiterung, die Unterstützung des Maidan-Aufstands, die vielfältigen Sanktionen gegen Russland, die militärische Unterstützung der Ukraine seit 2014 sowie den Einsatz von Spezialeinheiten und CIA-Mitarbeitern dort als hybride Taktik ansehen.
Moskaus tatsächliche Doktrin
Russland selbst bezeichnet sein Vorgehen in der Ukraine nicht als hybride Kriegsführung. Die militärische Doktrin Russlands sei auch nicht darauf ausgerichtet, betonen Michael Kofman und Matthew Rojansky vom Kennan Institute am Wilson Center in den USA.
Die immer wieder zitierten Worte vom Chef des Generalstabs der russischen Streitkräfte, Waleri Gerassimow, von 2013, stärker auf nichtmilitärische Mittel zu achten, bildeten lediglich eine Mahnung an die russischen Führung, mit den Methoden der westlichen Kriegsführung seit den Antiterrorkriegen mitzuhalten. Sie seien keineswegs ein Beleg dafür, dass Russland den Fokus auf eine Hybrid-Strategie gelegt habe.
Der Begriff der hybriden Kriegsführung sei "ebenso amorph wie das Phänomen, das er beschreibt", erklärte Florian Schaurer, damals Referent für Strategieentwicklung im Bundesverteidigungsministerium, schon 2015.
Eine Studie zeigt dann auch, dass in 66 untersuchten Medienartikeln, in denen der Begriff "hybride Kriegsführung" benutzt wurde, dieser nur in 18 Fällen richtig angewendet wird. Der Begriff habe im medialen Gebrauch im Kontext des Ukraine-Konfliktes an "analytischer Tiefenschärfe" verloren und diene vorrangig als "politisches Schlagwort", schlussfolgert Schaurer.
Die Legende vom übermächtigen Feind
Das gilt heute umso mehr, da der Begriff seit dem Februar 2022 über die Grenzen der Ukraine auf ganz Europa ausgedehnt worden ist – mit einem selektiven Fokus auf Moskau. Damit wird das Narrativ vorangetrieben, dass Russland bereits auf dem europäischen Kontinent kriegerisch aktiv sei, wenn auch verdeckt und indirekt bzw. in Vorbereitung auf einen vollumfänglichen Krieg.
Bleibt der Einwand, dass sich Russland doch in Europa einmische, Spionage betreibe und versuche, die Meinung zu beeinflussen? Ja, davon ist auszugehen, wie Indizien zeigen. Vieles von dem fällt unter die gängige Praxis von Staaten. Wenn es sich um illegale Vorgehensweisen handelt, sollten sie nach nationalen Gesetzen geahndet werden, sei es in Berlin, Paris oder auf dem Schwarzen Meer.
Aber der Handlungsspielraum Russlands ist sehr begrenzt und die Aktionen meist auch ziemlich ineffektiv, wie Untersuchungen zeigen. Die USA und Nato-Staaten verfügen global über ein viel weitreichenderes Arsenal von Zwangs- und Interventionsmitteln unterhalb des vollumfänglichen Kriegs – und über eine weit größere Machtreichweite.
Es sollte seit dem Februar 2022 zudem klar geworden sein: Mit einem Krieg gegen Europa hat das russische Vorgehen nichts zu tun. Das wir über eine hybride Kriegsführung Russlands in Europa sprechen, tun wir nur, weil Politik, Militär, Geheimdienste und Medien es so wollen. Dem zu folgen, ergibt keinen Sinn. Es befördert letztlich Lösungen, die den Kontinent tatsächlich destabilisieren könnten, daran kann dann kein Ukraine-Gipfel mehr etwas ändern.
Hier geht es zum ersten Teil der Analyse: "Was steckt hinter dem Vorwurf der hybriden Kriegsführung Russlands in Europa?"