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Wer nicht wählt, ist dumm?

Plakatparodie von Martin Sonneborns PARTEI

Einige FAQs zur Bundestagswahl

Die Bundestagswahl ist das "Hochamt der Demokratie", heißt es oft. Doch was können die Wählerinnen und Wähler überhaupt entscheiden, welchen Einfluss hat ihre Stimme auf die künftige Politik? Timo Rieg beantwortet einige der dazu oft diskutierten Fragen.

Wen wählen wir überhaupt?

Mit der Erststimme können wir uns für einen politischen Vertreter unseres Wahlkreises entscheiden. Dabei sind wir auf den Vorschlag der jeweiligen Partei angewiesen, es gibt keine Möglichkeit, aus dem Gesamtpool der Politiker zu wählen (Panaschieren und Kummulieren gibt es bei der Bundestagswahl nicht). Um die Erststimme können sich auch parteilose Kandidaten bewerben, wenn sie rechtzeitig 200 Unterstützer finden. In den regionalen Medien werden solche unabhängigen Direktkandidaten bei jeder Wahl vorgestellt und ggf. ein wenig gehypt - allerdings hat es noch nie ein solcher Bewerber in den Bundestag oder einen Landtag geschafft. [1]

Mit der Zweitstimme wird eine Partei gewählt. Auch hier haben die Bürger keinen Einfluss darauf, welcher Politiker konkret in den Bundestag kommt, denn die Reihenfolge der sogenannten Landeslisten wird von den Parteien festgelegt - und jede Stimme für eine Partei, die insgesamt nicht mindestens 5 Prozent erreicht, ist verloren. [Außer sie erreicht drei Direktmandate, dann zieht sie mit ihrem Stimmenanteil in den Bundestag ein - d. Red.].

Dieses Konstrukt kann u.a. dafür verantwortlich sein, dass selbst ein an sich in der Bevölkerung beliebter Politiker nicht in den Bundestag kommt - weil er schlicht nicht wählbar ist. Denn gewinnt der Bewerber nicht seinen Wahlkreis (oder wird dort von seiner Partei erst gar nicht aufgestellt) und gewinnt seine Partei gleichzeitig mehr Wahlkreise mit der Erststimme, als ihr nach dem Zweistimmenergebnis überhaupt Sitze zustehen, kommen die Landeslisten gar nicht erst zum Zuge. Das bedeutet: Selbst die Spitzenposition auf einer solchen Landesliste verschafft dann kein Mandat im Bundestag. So gehen Prognosen [2] derzeit davon aus, dass die CSU niemanden von ihrer Landesliste nach Berlin entsenden wird, weil sie so viele Wahlkreise gewinnt.

Ebenso sieht es für die CDU in den Ländern Baden-Württemberg, Bandenburg, Bremen, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Rheinland-Pfalz, Saarland, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Hostein und Thüringen aus: Die Zweitstimme entscheidet zwar über die einer Partei zustehenden Sitze, die Kandidaten der Landeslisten kommen jedoch bei der Union überwiegend nicht zum Zug. Angela Merkel als vermutlich auch künftige Bundeskanzlerin wird also - Duell hin oder her - im Wahlkreis 15 (Vorpommern-Rügen) gewählt werden. 2013 bekam sie dort 56% der Erststimmen, und damit übrigens deutlich mehr als die CDU per Zweitstimme, das waren nur 45%.

Wählen wir die Bundeskanzlerin oder den Bundeskanzler?

Der Wahlkampf ist stark personalisiert. Es gilt als ausgemacht, dass Angela Merkel oder Martin Schulz künftig die Richtlinienkompetenz haben und eine Regierung führen werden. Damit reduziert sich die Auswahlmöglichkeit der Stimmbürger schon in der öffentlichen Debatte auf genau zwei Personen. Dass es mehr und vor allem andere Menschen geben könnte, die für den Job geeignet sind, wird kaum jemand bestreiten - doch das Verfahren sieht eben vor, dass die stärkste Partei den Bundeskanzler stellt, formal schlägt der Bundespräsident die Person vor. [3]

Doch die Entscheidung trifft der Bundestag. Er muss Merkel oder Schulz nicht wählen, er könnte sich auch für jemand anderen entscheiden (es ist - im Gegensatz zu manchen Ländern - nicht Voraussetzung, Mitglied des Parlaments zu sein, Merkel kann daher auch Bundeskanzlerin werden, wenn sie nicht in den Bundestag gewählt werden sollte). Was nach einem reinen Gedankenspiel klingt, kann sehr wohl ganz schnell Realität werden. Denn die derzeitigen Spitzenkandidaten sind nicht verpflichtet, sich im Parlament zur Wahl zu stellen.

Angela Merkel könnte z.B. derzeit noch für die Union werben, nach der Wahl aber bekunden, dass sie andere Pläne hat und gar nicht mehr Bundeskanzlerin sein möchte. Die Wähler haben darauf keinen Einfluss - und es wäre kein Wahlbetrug, ähnliche Konstellationen gab es bereits. Beispiel: Die CSU trat zur Landtagswahl 2008 mit Günther Beckstein als Spitzenkandidaten an, der wieder Ministerpräsident werden sollte. Wegen des relativ schlechten Wahlergebnisses zog er sich jedoch zurück, so dass Horst Seehofer Ministerpräsident wurde - ohne jedes Wählervotum.

Entscheiden die Wähler über die Regierung?

Nein, das tun sie nicht, und erstaunlich ist eigentlich nur, dass dies so wenig Empörung auslöst. Gewählt wird nur der Bundestag - mit sehr eingeschränkten Möglichkeiten, wie eben beschrieben. Aus den dortigen Mehrheitsverhältnissen heraus bildet sich, wenn keine Partei die absolute Mehrheit der Stimmen bekommen hat, ein Bündnis mehrerer Parteien, die versprechen, eine Regierung, die aus Mitglieder dieser Parteien gebildet wird, zu unterstützen, sprich: deren Gesetzesideen als Parlament zu realisieren.

Die Wähler hingegen können noch nicht einmal sicher sein, dass die zuvor um Stimmen buhlenden Spitzenkandidaten der Parteien, die dann eine Regierung bilden, in ihr mitwirken. Gerhard Schröder beanspruchte zwar noch am Wahlabend des 18. September 2005 die Kanzlerschaft für sich [4], gehörte der dann schließlich gebildeten Regierung aus Union und SPD aber bekanntlich nicht mehr an.

Wer also angenommen hatte, mit seiner Stimme für die SPD im Jahr 2005 den bisherigen Kanzler Schröder gewählt zu haben, hatte seine Stimme versenkt.

Können die Wähler über Sachfragen entscheiden?

Auch dies muss klar verneint werden. Kein Wahlversprechen ist bindend. Und nichts macht es so schön deutlich wie die Erhöhung der Mehrwertsteuer der ersten GroKo unter Merkel: die Union hatte im Wahlkampf für eine Anhebung von 16 auf 18 Prozent geworben, die SPD hatte sich klar dagegen positioniert. Beide gemeinsam erhöhten die Merhwertsteuer dann - auf 19 Prozent, womit sowohl die Unions-Wähler als auch die SPD-Wähler nicht bekamen, was versprochen war.

Für demokratische Sachentscheidungen wäre das bekannteste Instrument die Volksabstimmung (in Form von Volksentscheid oder Referendum) - doch das gibt es bisher in Deutschland nicht auf Bundesebene.

Trotzdem ist die Wahlteilnahme das "Hochamt der Demokratie"?

So wird es zumindest von den um Zustimmung buhlenden Parteien ewig deklariert. Tatsächlich muss ein jeder für sich selbst entscheiden, ob die Teilnahme an der Wahl etwas zum Besseren (oder zum Status quo) beiträgt oder nicht. Es gibt keine Wahlpflicht, auch keine moralische.

Ein wesentliches Manko ist, dass derzeit keine Wahl in Deutschland ermöglicht, sich förmlich der Stimme zu enthalten. Man kann den Stimmzettel nur "ungültig" machen, indem man ihn durchstreicht, mit Kommentaren versieht oder einfach leer lässt - all dies heißt "ungültig".

In anderen Ländern gibt es die Möglichkeit, dem Angebot zu widersprechen und sich für keine Partei und keinen Direktkandidaten zu entscheiden. Und in der Zeit, in der es in Deutschland Wahlautomaten eingesetzt wurden, mussten diese ein Tastenfeld für die "ungültige" Stimmabgabe haben.

Ungültige Stimmen zählen nicht und sind damit wertlos?

Ungültige Stimmen haben auf die Sitzverteilung der Parteien keinen direkten Einfluss. Es bleiben keine Sitze leer, nur weil sich Bürger der Stimme enthalten haben (etwa 30 Prozent nehmen erst gar nicht an der Wahl teil, 1,5 bis 2 Prozent geben ungültige Stimmen ab). Auch die Nicht-Zustimmung zur Geltung kommen zu lassen wird zwar in verschiedensten Formen immer mal wieder gefordert, ist aber derzeit nicht Realität (siehe Literatur [5] zu Reformen und Alternativen).

Ungültige Stimmen zählen allerdings zur Wahlbeteiligung. Wo diese also nicht explizit ausgewiesen sind, entsteht ein falsches Bild von der Zustimmung. Alle Prozentangaben im Wahlergebnis selbst beziehen sich auch nur auf die gültigen Stimmen, die bewusste Zustimmungsverweigerung wird also ignoriert.

Eine ungültige Stimme ist wertlos?

Nach der herrschenden Interpretation von Wahlergebnissen: ja. Da eine ungültige Stimme einerseits keinerlei Einfluss auf die Zusammensetzung des Bundestags hat, andererseits auch nicht klar ist, warum eine Stimme ungültig ist (ob aus Absicht oder Unvermögen), wird dieser Anteil an den Wahlzetteln gerne ausgeblendet. Es bliebe eine Herausforderung vor allem an die journalistischen Medien, eine deutliche Veränderung bei den ungültigen Stimmen zu thematisieren. Wenn ihr Anteil am 24. September zum Beispiel deutlich zunähme, obwohl sich das Wahlsystem nicht geändert hat, könnte dies ein Indiz sein, dass dieser Teil der aktiven Wähler keiner der kandidierenden Parteien seine Zustimmung geben wollte.

Wer nicht wählt, wählt die AfD?

Diese Behauptung wird derzeit von vielen Wahlwerbern aufgestellt. Ähnlich wurde aber auch schon lange vor Gründung der AfD argumentiert. In Netzwerken werden Rechnungen wie diese verbreitet:

Die Rechnung an sich stimmt natürlich, doch die Nichtwähler-Forschung zeichnet ein ganz anderes Bild. Denn solche Appelle unterstellen, wer als bisheriger Nichtwähler zur Wahlteilnahme mobilisiert werden könnte, würde anders wählen als die bisherigen Teilnehmer der Wahl. Das ist aber unzutreffend.

Nichtwähler, sofern sie sich überhaupt irgendwie doch zu einer Wahlpräferenz durchringen könnten, entsprechen ziemlich dem Durchschnitt der Wähler, wohl etwas nach rechts verschoben - die AfD würde also nicht weniger, eher noch mehr Stimmanteile bekommen (siehe z.B. Studie der Bertelsmann-Stiftung Politische Ungleichheit [6]).

Aus demokratischer Sicht hat ein solcher Wahlaufruf ein anderes Problem: Dass jede Partei oder Gruppierung zur Wahl ihrer Protagonisten aufruft, ist selbstverständlich und Teil des demokratischen Prozesses. Versuche, vorhandene Positionen in ihrer Artikulation zu unterdrücken, sind jedoch gerade nicht demokratisch. Anders gesagt: In einer Demokratie müssen alle legalen Positonen ihrem Anteil in der Bevölkerung entsprechend vorkommen.

Da fällt heute schon vieles u.a. durch die 5-Prozent-Hürde runter. Auch die heutige Linke wurde jahrelang mit Kampagnen beschossen - und in aktuellen Wahlsendungen werden ihre Positionen immer wieder diskreditiert, obwohl sie völlig zurecht Teil des demokratischen Meinungsspektrums sind. Aber auch hier weiß der Wähler trotz aller Wahlbehauptungen nicht, ob seine Stimme für die Linke Relevanz bekommen wird oder nicht. Martin Schulz z.B. hat sich im großen TV-Duell [7] nicht dazu geäußert.

Zu Teil 1 der Artikelserie:Bundestagswahl: Widerspruch heißt einfach "Nein" [8]

Zu Teil 2 der Artikelserie: TV-Duell: Wer meckert, darf nicht wählen [9]

Discolosure: Der Autor ist bekennender "Ungültig-Wähler" und Verantwortlicher für die Website Unwählbar. [10] Einen Alternativvorschlag zur Wahl von Parteien hat er auf Telepolis vorgestellt (vgl. Aleatorische Demokratie [11]).


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-3824107

Links in diesem Artikel:
[1] http://www.wahlrecht.de/lexikon/parteilose.html
[2] https://www.mandatsrechner.de/
[3] https://www.gesetze-im-internet.de/gg/art_63.html
[4] http://www.focus.de/politik/deutschland/bundestagswahl_2017/elefantenrunde-2005-ex-zdf-chef-zu-schroeder-auftritt-sagen-sie-war-er-betrunken_id_7507382.html
[5] https://citizensjury.wordpress.com/literatur/
[6] https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/themen/aktuelle-meldungen/2015/september/der-typische-nichtwaehler-kommt-aus-sozial-schwachem-milieu/
[7] https://www.heise.de/tp/features/TV-Duell-Wer-meckert-darf-nicht-waehlen-3820866.html
[8] https://www.heise.de/tp/features/Bundestagswahl-Widerspruch-heisst-einfach-Nein-3816874.html
[9] https://www.heise.de/tp/features/TV-Duell-Wer-meckert-darf-nicht-waehlen-3820866.html
[10] http://www.unwaehlbar.org
[11] https://www.heise.de/tp/features/Aleatorische-Demokratie-3400752.html