TV-Duell: Wer meckert, darf nicht wählen
Könnte es sein, dass einfach das Modell "Partei" ausgedient hat? - Ein Kommentar
Die meisten Kommentatoren - ob nun bezahlt oder in der Freizeit tätig - fanden das viel beschworene "Fernseh-Duell" zwischen Bundeskanzlerin Merkel und Bewerber Schulz langweilig (vgl. Merkel-Schulz-Duell: Eine Schmuseveranstaltung).
Bei allen guten Ratschlägen für eine bessere Inszenierung (mehr Angriff, mehr Polemik, mehr Drama) - könnte es sein, dass einfach das Modell "Partei" ausgedient hat?
Die Frage stellen Politiker natürlich nicht, schließlich ist ihre Partei die Firma, für die sie arbeiten, die sie zumindest bis in die Höhen trägt und gelegentlich auch von dort wieder hinab in die Gefilde der Provinz (mit Versorgungsposten bei Parteistiftungen, Sparkassen und anderem Politikerspielzeug). Die Frage kommt aber leider auch kaum von Politikjournalisten - vermutlich, weil hier eine Recherche nicht nur eine, sondern praktisch alle Geschichten, die man noch so zu machen gedenkt, zerstören würde.
Ausdifferenzierte Gesellschaft
Als vor etwa 150 Jahren entstand, was heute als SPD firmiert, war ein sozialdemokratisches Anliegen noch einfach zu formulieren: Arbeiter und Arbeiterinnen wurden ausgebeutet, ihre Familien lebten oft unter erbärmlichsten Bedingungen. Die Wochenarbeitszeit lag bei deutlich über 70 Stunden, eine gesetzliche Krankenversicherung und ein deutsches Rentnerdasein in Thailand waren noch nicht erfunden - die Forderungen einer Arbeiterpartei lagen da recht nahe, und entsprechend einfach waren sie zu kommunizieren: es galt, die Verhältnisse für einen Großteil der Bevölkerung zu verbessern.
An dieser Forderung hängt die SPD bis heute. Weil sich die Gesellschaft aber längst "ausdifferenziert" hat, weil Arbeiter durch Maschinen ersetzt wurden und die noch vorhandenen Arbeiter mit Aktien spekulieren, weil das Erreichen des Rentenalters kein Gottesgeschenk mehr ist, sondern Normalfall, weil also die alten Parolen nicht mehr verfangen, sind die Claims anpassungsfähiger geworden und drehen sich heute alle um "soziale Gerechtigkeit" - worunter jeder verstehen darf, was er mag.
Weil schon die Arbeiterpartei ihre Klienten nicht mehr als Herde zusammengetrieben bekommt, lässt sich auch die Gegenseite nicht polit-geografisch ausmachen: es sind irgendwie "die anderen", aber nicht jeder CDU-ler ist ein Herr Generaldirektor.
Weil das alles nicht mehr so einfach ist, wie es mal war, als es noch sehr brutale, aber einfach zu benennende Ungerechtigkeiten zu beseitigen galt, schreiben Parteien heute lange Wahlprogramme, in denen sie zu jedem erdenklichen Thema etwas möglichst Nettes, aber zugleich flexibel Handhabbares fabulieren. Es ist so unkonkret, dass es beim gestrigen TV-Duell vier versierte und talkkampferprobte Journalisten brauchte, um zwei Vertreter solcher Parteiprogramme verkaufen zu lassen, was da nun drinsteht.
Parteien fordern Prokura
Auch die von Wahlforschern ausgemachten "Wechselwähler" und "Spätentscheider" (die z.T. bis kurz vor Wahltag noch nicht wissen, was sie kaufen wollen und ob überhaupt etwas) sind ein starkes Indiz: das Modell Partei zieht nicht mehr.
Es ist ja auch - nüchtern betrachtet - ein echter Hammer, was Parteien bei der Bundestagswahl von uns fordern: nämlich Prokura, die volle Vertretungsmacht für uns in allen erdenklichen Lebenslagen. Anders als bei der Patientenverfügung, bei der es nur um den kleinen Lebensabschnitt des Sterbens geht, müssen wir hier nicht alle Eventualitäten explizit regeln, damit andere uns in dem von uns gewünschten Sinne vertreten können - bei Parteien genügt ein einziges Kreuz auf dem Stimmzettel. (Über den speziellen Gag, dass dieses Kreuz im Falle eines "Wahlsiegs" auch für alle anderen Menschen gilt, die einem anderen oder niemandem Vollmacht erteilt haben, wird nochmal gesondert zu lachen sein.)
Im Kommunalen versteht inzwischen jedes Kind das Problem, - aber es versteht nicht mehr das Angebot: die Parteien. Denn ob die Kläranlage saniert werden muss und wie hoch die Hundesteuer sein sollte kann nicht ernsthaft eine Frage von Parteifarben sein. Oder gibt es eine grüne und eine braune Hundesteuer? Und muss, wer grüne Hundesteuer will, zwangsläufig auch für grüne Freibadöffnungszeiten sein? Auf Landes- und Bundesebene ist es ebenso, nur nicht mehr so markant: Wieso sollte eine Partei zu allen großen und kleinen Problemen, die mich beschäftigen, eine (zu) mir passende Lösung anbieten?
Ein Gewissen nutzt nicht viel, wenn es vom Parteiprogramm oder der Laune eines Parteichefs in die Rumpelkammer gestellt wird
Das Parlament war auch mal anders gedacht. Nur deshalb ist im Grundgesetz das freie Mandat verankert: Abgeordnete "sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen". Ein Gewissen nutzt ja nicht viel, wenn es vom Parteiprogramm oder schlicht der Laune eines Parteichefs in die Rumpelkammer gestellt wird. Die Orientierung am eigenen Gewissen setzt Denktätigkeit voraus und verlangt einen offenen Entscheidungsprozess. Die Idee war, dass Parlamentarier mit ihrem Hirn durchdenken, was die Regierung von ihnen will - und dann frei von allen Bindungen entscheiden. Das Parlament kontrolliert nicht nur die Regierung, es setzt den Rahmen, macht die Gesetze - nach bestem Wissen und Gewissen. Also von der bis heute kolportierten Idee her.
Dass es in Parteien anders läuft, hat die französische Philosophin Simone Weil kurz vor ihrem Tode 1943 so formuliert:
Eine politische Partei ist eine Maschine zur Fabrikation kollektiver Leidenschaften. Eine politische Partei ist eine Organisation, die so konstruiert ist, dass sie kollektiven Druck auf das Denken jedes Menschen ausübt, der ihr angehört. Der erste und genau genommen einzige Zweck jeder politischen Partei ist ihr eigenes Wachstum, und dies ohne jede Grenze.
(Simone Weil)
Die gegenwärtigen Generalvertreter der beiden mitgliederstärksten Parteien in Deutschland formulieren das zwar ein wenig anders, aber letztlich doch sehr unverhohlen: wir (als Partei) wollen die stärkste Kraft werden und unser Denken lässt sich auf Wahlplakatschlagworte reduzieren. Oder auf ein paar Minuten in der Talkshow.
Koalitionen sind weder wählbar noch per Wahl zu verhindern
Wozu sollte das große TV-Duell nun gut gewesen sein? Wer sich von keinem der beiden Kandidaten und damit von den Positionen ihrer Parteien so angesprochen, und im Hinblick auf die bisherige Politik auch überzeugt fühlt, guten Gewissens eine Generalvollmacht zu erteilen, der kann aufs Wählen nur verzichten - oder einer ganz, ganz aussichtslosen Kleinstpartei seine Stimme geben, als Protest und ggf. Steuersubvention.
Denn Koalitionen sind weder wählbar noch per Wahl zu verhindern - was besonders verrückt an unserem Demokratiesystem ist: alle, die konnten und wollten, haben gewählt - aber was künftig politisch passieren wird, bleibt tage- bis wochenlang offen und der Souverän hat kein Wort mehr mitzusprechen. Irgendwann, nach vielen, vielen Stunden Live-Übertragung von verschlossenen Saaltüren, verkünden Politiker, wer die Wahl gewonnen und künftig das Sagen hat. Sehen wir es als Beruhigung an, dass uns in diesem Herbst keine Überraschung ins Haus steht. Ganz gleich, wer da mit wem eine Koalition bildet: es wird einfach so weitergehen wie bisher.
Soll das die modernste Steuerung für ein Land sein, die man sich im Jahr 2017 denken kann, von demokratischen Idealen mal ganz abgesehen? Merkel oder Schulz, über mehr darf der Souverän nicht debattieren, und entscheiden kann er es gar nicht - das übernehmen die Parteien für ihn?
Zu Teil 1 der Artikelserie: Bundestagswahl: Widerspruch heißt einfach "Nein"