Weshalb eine Ausweitung des Ukraine-Krieges wahrscheinlich ist
Gefährliche Überforderung von Mensch und Technik. Verantwortliche zeigen sich unbesorgt und wären im Ernstfall planlos. Das könnte dramatische Folgen haben.
Wie US-Medien melden, ging die Biden-Regierung im Oktober 2022 davon aus, dass Putin Nuklearwaffen einsetzen könnte. Die Wahrscheinlichkeit stehe 50 zu 50. Von solchen Befürchtungen war in Deutschland nichts zu hören.
Jedenfalls nicht innerhalb jener Meinungsblase, die hierzulande den Kurs bestimmt. Vielleicht deshalb, weil die politische Klasse mit ihren Waffenlieferungen und den Sanktionen gewaltige Kosten erzeugt, die von den Bürgern berappt werden müssen.
Das Scheitern der Ukraine-Politik und eine gefährliche Angst
Denn es ist nichts anderes als Geldverschwendung, wenn weder Waffenlieferungen noch Sanktionen auch nur in die Nähe dessen führen, was verlautbarungsgemäß beabsichtigt worden war, nämlich einen Sieg über Russland herbeizuführen.
Gänzlich kontraproduktiv wäre da eine massenhafte Furcht vor dem Atomkrieg. Bereits den Bedenken, es könne ein konventioneller Krieg auf ganz Europa übergreifen, muss daher konsequent entgegengewirkt werden.
So kann die Meinungsblase kaum noch zulassen, dass wenigstens der Bundeskanzler Befürchtungen hegt, Deutschland könne in einen Krieg hineingezogen werden.
Er spiele mit den Ängsten der Bevölkerung, meint CDU-Chef Friedrich Merz. Besser scheint es ihm zu sein, beide Augen fest zu verschließen und standhaft jedes Risiko auszublenden.
Europa in Flammen?
Dieses Ausmaß an Realitätsverkennung ist kaum noch zu begreifen. Der Philosoph Günther Anders hatte derartige Ausblendungen als Apokalypse-Blindheit bezeichnet.
Politiker mögen sich das leisten können, aber jeder Stratege ist nur dann ein guter Kriegsherr, wenn er auch die möglichen Aktionen des Gegners realistisch einplant und dementsprechend seine Vorkehrungen trifft. Dass etwa ein Angriff auf eine wichtige russische Kommandostation oder gar den Kreml – mit Taurus-Raketen immerhin denkbar – den Einsatz taktischer russischer Atomwaffen geradezu provoziert, würde ein guter Stratege auf dem Schirm haben und nicht einfach ignorieren.
Dabei existiert die Hauptgefahr des permanenten Zündelns und Eskalierens an der Ukraine-Front in Folgendem: In der Tatsache nämlich, dass in der Spannungssituation die Ausweitung des Krieges gewissermaßen automatisch beginnen und in die Katastrophe führen könnte.
Lesen Sie auch
Wenn man es nicht verhindern kann, könnte es zur Selbstentzündung kommen. Ein großer Krieg entbrennt, obgleich niemand ihn will und daher jeder behauptet, er sei ausgeschlossen.
Ist eine Spannungssituation ausreichend aufgeheizt worden, kann sie urplötzlich in völlige Unkontrollierbarkeit umschlagen? Verantwortungsvolle Politik wäre sich dessen bewusst. Ist man wie hierzulande wenig interessiert an einer realistischen Lageeinschätzung, ist die Wahrscheinlichkeit, dass alles außer Kontrolle gerät, natürlich besonders hoch.
Denn die von führenden Politikern verkündete Strategie ist von frappierender Schlichtheit: Waffen liefern und noch mehr Waffen liefern! Dass Sieg oder Niederlage von einer Vielzahl weiterer Faktoren abhängt, etwa den zur Verfügung stehenden Soldaten, scheint unbekannt zu sein.
Wird indirekt (siehe Macron) zugegeben, dass ohne Truppenverstärkung an Sieg nicht zu denken ist, wird so getan, als wäre eine Nato-Beteiligung eine unproblematische Sache. Dass dadurch höchstwahrscheinlich Europa in Flammen gesetzt würde, wird verschwiegen.
Der Ernstfall: Für den Menschen eine Überforderung
Die Selbstzündung im Spannungsfall kann auf zwei grundsätzliche Wurzeln zurückgeführt werden: nämlich auf menschliches und auf technisches Versagen.
Menschliches Versagen wurde 1983 in einer vom Institut für Abrüstungsforschung der UNO in Auftrag gegebenen Studie im Hinblick auf die Atomwaffenfrage beleuchtet.1
Darin wurde aufgezeigt, dass der Umgang mit Atomwaffen bereits grundsätzlich für Menschen eine Überforderung darstellt. Bedenkt man die fast grenzenlose Verantwortung, die mit jeder Entscheidung im Umfeld eines Atomkriegs verbunden ist, scheinen Menschen gänzlich ungeeignet zu sein, um hier noch halbwegs angemessen handeln zu können.
Die UNO-Studie befasst sich vorwiegend mit der menschlichen Neigung zu verzerrter Wahrnehmung bei Informationsüberlastung und unter Stress. Fehlinterpretationen der gegnerischen Absichten sowie die Unfähigkeit, in Stresssituationen und bei oft chronischer Übermüdung die anschwellende Flut an Botschaften wenigstens halbwegs zu überschauen und aus ihnen die richtigen Schlüsse zu ziehen, schränken genau im gleichen Moment die Entscheidungsfähigkeit ein, in dem sie eigentlich in Topform sein sollte.
Es bestehe die Tendenz, dass in Krisensituationen die unteren Stellen Entscheidungen nach oben abschieben, sodass immer weniger Akteure mit immer mehr Aktivitäten überlastet sind und vielleicht sogar den totalen Zusammenbruch erleben.
Steht die Möglichkeit im Raum, dass real ein Atomkrieg ausbrechen könnte, wird in den Kommandozentralen die Hölle los sein. Dazu die Studie:
Man muss sich fragen, wie verantwortliche Entscheidungsträger in einer solchen Situation schwerster Bedrohung durch Gewalt und extremsten Zeitdrucks denken und handeln: Werden sie noch fähig sein, jene kühlen und scharfsinnigen Überlegungen anzustellen, die die Feinheiten der modernen strategischen Doktrinen verlangen und die auch angesichts der Komplexität der Waffensysteme mit ihrer Vielzahl verschiedener Waffentypen unterschiedlicher Leistungsfähigkeit und Zerstörungskraft erforderlich sind? Die Frage stellen, heißt, sie beantworten. Fraglich ist bereits, ob die Entscheidungsträger eine solche Lage überhaupt noch verstehen und richtig wahrzunehmen vermögen.
Auch wenn es "nur" zu einer konventionellen Ausweitung des Ukraine-Krieges käme, was von unseren Traumtänzern – etwa von Macron oder in Deutschland vom CDU-Politiker Roderich Kiesewetter – ausdrücklich gefordert wird, stünde immer die Frage im Raum, ob es zu einer nuklearen Eskalation kommt.
Der Einsatz von Atomwaffen wird in Manövern ja wohl kaum deshalb geübt, weil niemand daran denkt, sie im Zweifelsfall auch tatsächlich zu nutzen. Die Möglichkeit einer atomaren Eskalation einfach abzustreiten, lässt sich an Blauäugigkeit kaum übertreffen.
Wo ist die atomare Schwelle?
Wie sähe es etwa im folgenden konkreten Fall aus? Nehmen wir an, die erweiterte konventionelle Auseinandersetzung hat bereits begonnen. Sagen wir, die Nato sei in die Angelegenheit hineingezogen worden, weil ein vorgeblicher russischer Angriff auf Polen stattfand.
Vielleicht war dort wie schon einmal im November 2022 eine angeblich russische Rakete eingeschlagen, woraufhin Polen dieses Mal den Verteidigungsfall erklärt.
Ein Nato-Kommandeur, 50 Kilometer von der Front, hat gerade die Nachricht erhalten, dass alle seine Leute und alle ihre Waffen innerhalb eines Umkreises von 300 Metern ausgelöscht worden seien. Soll er nun annehmen, es habe sich um eine nukleare Waffe gehandelt? Soll er einen Vergeltungsschlag anfordern? Welche Möglichkeit gäbe es überhaupt, auf die Schnelle zu entscheiden, ob man sich bereits im Atomkrieg befindet, oder nicht?
Detonationen von der Stärke einer taktischen Atomwaffe sind heute auch mit "konventionellen" Waffen zu bewerkstelligen und den sogenannten Dual-Use-Raketen, auch Taurus gehört dazu, ist nicht anzusehen, ob sie konventionell oder nuklear bestückt sind.
Der Oberst a. D. und Mitarbeiter der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin, Wolfgang Richter, hält es für fast unmöglich, innerhalb der zur Verfügung stehenden Zeit sicher zu entscheiden, ob die nukleare Schwelle bereits überschritten wurde. Dem liegt der generelle Zweifel zugrunde, unter Zeitdruck überhaupt verbindlich feststellen zu können, wann und wie ein Atomkrieg begonnen hat oder nicht.2
Weil aber gerade diese Information von überragender Bedeutung ist, kann eine Fehlwahrnehmung Gegenmaßnahmen herausfordern, die den Atomkrieg auch dann in Gang setzen, wenn ihn der Gegner gar nicht beabsichtigt hatte.
Ist aber erst einmal die Türe in die nukleare Eskalation geöffnet worden, weiß niemand, wo die Eskalationsleiter endet. Alleine die Dynamik der Eskalation selbst könnte, ohne dass sie zu bremsen wäre, in den interkontinentalen Schlagabtausch zwischen den USA und Russland übergehen, mit absolut vernichtenden Folgen für die ganze Welt.
Mögliche Kettenreaktionen
Man kann sich das wie eine mechanisierte Kettenreaktion vorstellen. Sie wird von starken Handlungsschemata beherrscht, die bereits zuvor eingeübt und festgelegt wurden.
Was auf jeder Stufe der Eskalation geschieht, hängt nicht von persönlichen Überzeugungen und Überlegungen ab, sondern von einer Art Reiz-Reaktions-Automatik. Auch wenn diese einen Spielraum lassen würde, ist es dennoch unmöglich, aus solchen Handlungszwängen auszusteigen.
Etwa indem man einfach gar nichts tut. Plötzlich könnte die Einsicht dämmern, dass es eigentlich sinnlos ist, die Erde zu zerstören, nur weil ein politischer Interessenkonflikt nicht durch Verhandlungen beigelegt wurde.
Daher ist es eine völlige Illusion, sich vorzustellen, die Männer an den Spitzen, etwa Biden oder Putin, hätten im Fall des Falles wirklich noch das Sagen. Die Agenda, wie in der Situation A zu handeln wäre oder im Falle von B, liegt schon lange vor Eintritt der Ereignisse fest und verlangt keine Positionierung mehr, sondern lediglich die wilde Entschlossenheit, es darauf ankommen zu lassen.
Wohin das führt, weiß im Zweifelsfalle niemand. Aus einer unbedachten Zündelei, deren mögliche Folgen man beharrlich ausblendete, ist eine Weltkatastrophe geworden, die alles an Grausamkeit übersteigt, was Menschen sich bisher vorstellen konnten. Genau besehen war daran niemand schuld, jeder hatte nur getan, was eben getan werden musste.
Fehlbare Frühwarnsysteme
Von ungewollter Selbstzündung kann vor allem auch deshalb geredet werden, weil im Spannungsfall eventuell nicht die Menschen, sondern die Computer verrückt spielen.
Ernsthaft kann die Frage aufgeworfen werden, wer eigentlich über den Eintritt in den Atomkrieg entscheidet. Sind da noch Menschen beteiligt? Da die Zweibeiner kein gutes Bild abgeben, wenn es um Horrorszenarien geht, hat man schon lange Rechner als Frühwarnsysteme dazwischengeschaltet, neuerdings auch die KI.
Vielleicht sind Maschinen in der Lage, die Situation in den Griff zu bekommen. Das Hauptproblem: Eine Masse unklarer Informationen muss im Zweifelsfall innerhalb von Minuten generiert und interpretiert werden. Und zwar zutreffend, absolut realistisch und keinesfalls fehlerhaft.
Was viele nicht wissen: Jedenfalls in den USA befinden sich seit dem Kalten Krieg Atomraketen immer noch im sogenannten Hair-Trigger-Alert-Zustand. Das heißt, sie sind gefechtsbereit und können innerhalb von Minuten abgefeuert werden, ein System der entsicherten Pistole sozusagen.
Man nimmt an, dass es auf der anderen Seite genauso ist. Schon Präsident George W. Bush soll sich daher beschwert haben, er könne noch nicht einmal rechtzeitig "vom Scheißhaus runterkommen", um den Abschuss freizugeben, denn dann sei bereits alles gelaufen.3
Zu entscheiden, ob ein nuklearer Angriff vorliegt, wäre auch dann unmöglich, wenn man nicht gerade am stillen Örtchen weilt. Daher die Frühwarnsysteme. Das Problem nur: Sie können es auch nicht. Trotzdem verhallen die Warnungen der wirklichen Spezialisten auf diesem Gebiet vollkommen ungehört.
Mehrfach hat die Deutsche Gesellschaft für Informatik darauf hingewiesen, dass es fahrlässig ist, sich in dieser Angelegenheit auf die Frühwarnsysteme oder auf die Künstliche Intelligenz zu verlassen. Gänzlich inakzeptabel sei das Prinzip "launch on warning".
Es bedeutet, dass zum atomaren Gegenangriff bereits dann geblasen wird, während die Raketen des Feindes noch im Anflug sind. Angeblich jedenfalls, sofern sich die Computer nicht irren. Es gab schon mehrere solcher scheinbaren Anlässe für den ganz großen Krieg, die dann in den letzten Minuten noch aufgeklärt werden konnten. Die Frühwarnsysteme lagen falsch, ein doch noch denkender Mensch griff rechtzeitig ein.
Der Informatiker und Spezialist für Künstliche Intelligenz an der Hochschule Trier, Prof. Dirk Bläsius, urteilt so:
Die einem maschinellen Entscheidungsvorschlag zugrunde liegenden Informationen sind zu komplex, um diese in der kurzen verfügbaren Zeit (nur wenige Minuten) überprüfen zu können. Eine fachliche Beurteilung der von einem KI-basierten System getroffenen Entscheidungen durch Menschen ist in der kurzen verfügbaren Zeit praktisch unmöglich. Dies gilt schon deshalb, weil die automatische Erkennung oft auf Hunderten Merkmalen basiert. Die KI-Systeme können in der Regel keine einfachen nachvollziehbaren Begründungen liefern und auch wenn Erkennungsmerkmale von einem KI-System ausgegeben werden, könnten diese nicht in der verfügbaren Zeit überprüft werden. Dem Menschen bleibt deshalb meist nur zu glauben, was ein KI-System liefert.
Professor Bläsius macht darauf aufmerksam, dass im Grunde niemand mit der Situation im atomaren System zurechtkommt, auch nicht die Computer. Atomwaffen als Faktoren von Krisen überfordern alle.
Auch und manchmal gerade Menschen mit besonderen Entscheidungskompetenzen sind den ganz normalen Schwächen unterworfen: Sie haben Migräne, sie streiten sich mit ihren Lieben, sie schlafen schlecht, haben Verdauungsbeschwerden, bekommen die Grippe oder nehmen Drogen. Die Einnahme aktivierender Drogen ist unter Entscheidungsträgern, den CEOs, sehr verbreitet.
Neulich wurden durch Proben der Klos des schwedischen Parlaments nachgewiesen, dass Abgeordnete Kokain konsumieren. Der Alkoholismus von US-Präsident Richard Nixon ist bekannt geworden; oft bleiben solche Abhängigkeiten eher verborgen.
Infantiler Selbstschutz?
So gesehen könnte das ignorante Verhalten der europäischen und speziell der deutschen politischen Klasse auch als eine Art von infantilem Selbstschutz verstanden werden. Kriegsgefahr gibt es nur, sofern das nicht Schwurbler auf den Plan ruft, die den politischen Kurs infrage stellen. Kinder halten sich die Augen zu und glauben dann, gut versteckt zu sein. Das müsste reichen.
Die UNO-Studie konstatiert daher überaus realistisch: "Das Spiel mit dem Feuer eines Atomkriegs wird immer selbstverständlicher." Das war 1983 und gilt heute weit mehr als damals. Heute gehört es zum Allerweltswissen, der Kalte Krieg habe endgültig bewiesen, dass Atomwaffen niemals eingesetzt werden und von ihnen daher keine Gefahr ausgeht.
Fachleute sehen das vollkommen anders. Der Glaube an die Wirksamkeit der Abschreckung sei ebendies: ein Glaube, sagt der Atomwaffenexperte der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik Peter Rudolf.4
Die UNO-Studie geht grundsätzlich davon aus, dass Atomwaffen schlichtweg nicht kontrolliert werden können.
Dieses Wissen "müsse eigentlich die Menschheit zur Einsicht führen, entweder sämtliche Atomwaffen, weil zu gefährlich in den Händen so unvollkommener Wesen, sofort abzuschaffen oder aber wenigstens ein funktionstüchtiges System internationaler Streitbeilegung zu schaffen, das die Austragung internationaler Gegensätze auf eigene Faust überflüssig macht".
Ein Anfang in diese Richtung wäre mit dem UNO-Atomwaffenverbotsvertrag gemacht, den Deutschland bisher nicht unterschrieben hat. Wie auch? Wer Gefahren so systematisch ausblendet oder kleinredet wie die Angehörigen der herrschenden Meinungsblase, sieht dazu keinen Anlass.