Westen muss zwischen Krieg und Frieden mit Russland wählen – und ehrlich sein
Seite 2: Wenn russische Raketen europäische Städte treffen
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Ich halte es zudem für höchst unwahrscheinlich, dass ein konventioneller Krieg nicht dazu führen würde, dass russische Raketen in irgendeiner Weise europäische Städte ins Visier nehmen würden.
Während wir von zu Hause aus von den Verwüstungen in den ukrainischen Städten schockiert sind, würde die Unterstützung der europäischen Öffentlichkeit für einen Krieg in sich zusammenfallen, sobald europäische Bürger durch Irrläufer-Raketen getötet würden.
Denn die Menschen würden fragen: Warum streben wir nicht nach Frieden? Und zumindest im Großbritannien hätte niemand in Whitehall [Straße im Regierungsviertel von London] eine Antwort darauf.
Während ich also froh bin, dass wir uns aus einem direkten Konflikt mit Russland herausgehalten haben, bleibt die Frage, warum wir seit 2014 keinen Weg zum Frieden in der Ukraine eingeschlagen haben?
Nicht-Reden als diplomatische Leitlinie
Großbritannien hat 2014 aufgegeben, sich um Frieden mit Russland zu bemühen, als Phillip Hammond Außenminister wurde und den Dialog mit Russland auf oberer Ebene abbrach. Diese Position verhärtete sich, als Theresa May 2016 Premierministerin wurde, und ist bis heute praktisch unverändert geblieben.
Die Ereignisse auf der Krim und im Donbass wurden als Affront gegen die neu deklarierte regelbasierte internationale Ordnung betrachtet, und eine Zusammenarbeit mit Moskau würde als Billigung dessen erscheinen. "Keine Rückkehr zur Tagesordnung!" wurde zum Propagandaslogan der Wahl.
Man werde über strategische Kommunikationskampagnen einem allgemein empfänglichen, überwiegend dem Krieg zugewandten britischen Medienpublikum Tugendhaftigkeit signalisieren. Über Sanktionen und Politisierung von allem solle nun Druck ausgeübt werden, um Russland vom internationalen Sport, der Eurovision und vielen anderen Dingen auszuschließen. Wir würden über Russland reden, anstatt mit Russland zu reden.
Das "Nicht-Reden" ist jetzt zum dominierenden Grundsatz britischer Diplomatie geworden. Die britische Botschaft in Moskau ist ein Potemkinsches Haus mit einem Botschafter aus Pappmaché.
Die Nuland-Clique zieht die Fäden
Nach dem Brexit haben wir die Kontrolle über unsere Außen- und Sicherheitspolitik von Brüssel zurückerhalten und die Schlüssel sofort an die Entscheidungsträger in Washington D.C. übergeben.
Bevor Trump zum Präsidenten gewählt und Nuland für vier Jahre beiseitegeschoben wurde, schwärmten die Londoner Kollegen regelmäßig von den neuesten Russland-Informationen, die sie von "Toria" (Nuland) und Dan (Fried) – einem anderen hart gesottenen Neokonservativen, der zu Beginn der Ukraine-Krise die Russland-Sanktions-Taskforce eingerichtet hatte – erhalten hatten.
Genauso wie Nulands toxische Clique die Fäden in Kiew zog, taten sie das auch in Whitehall und zweifellos auch in anderen europäischen Hauptstädten.
Und die Botschaften waren deutlich. Es ist nicht Sache Russlands zu entscheiden, welche Länder der Nato beitreten, und Russland hat kein Recht, seine Besorgnis über die Expansion des größten Militärbündnisses der Welt in seinen Hinterhof zu äußern. Wenn es ihnen nicht gefällt, dann "Fuck E-you!" [Anspielung auf Nulands abgehörtes Telefonat, wo sie "Fuck the EU!" gegenüber dem US-Botschafter in der Ukraine äußerte.] (https://www.bbc.com/news/world-europe-26079957)
Als Biden kam, kam auch der Krieg
Die Weigerung, auf die russischen Bedenken gegenüber der Nato einzugehen, war nicht nur schlechte Staatskunst, sondern angesichts der Ereignisse in Georgien im Jahr 2008 auch unglaublich töricht.
Alles, was Russland in der Ukraine getan hat, war vorhersehbar, wurde schon Jahre vor Kriegsbeginn angekündigt und daher vermeidbar. Nachdem Biden zum US-Präsidenten gewählt worden war, wurde Nuland jedoch schnell wieder eingestellt, und ein weiteres Mitglied ihrer Clique, Jake Sullivan – jetzt Nationaler Sicherheitsberater –, legte mit ihr zusammen erneut Hand an die amerikanische Russlandpolitik.
Ein offener Krieg zwischen der Ukraine und Russland war unvermeidlich, ab dem Zeitpunkt, wo der sechsundvierzigste US-Präsident im Januar 2021 auf dem Capitol Hill seine gebrechliche Hand auf die Bibel legte.
Und es war klar, dass Großbritannien jedem haarsträubenden US-Konzept für die Ukraine blindlings folgen würde, komme, was wolle. Boris Johnson als Premierminister und Liz Truss als Außenministerin rieten der Ukraine aktiv davon ab, sich im März/April 2022 auf ein Friedensabkommen einzulassen.
Sich aus dem Elfenbeinturm entrüsten über Mündungsfeuer
Johnson und Truss sitzen nun wie Nuland in ihrem bequemen Elfenbeinturm und beobachten entrüstet das Mündungsfeuer und die Kämpfe in der Ukraine aus der Ferne.
Von der Ukraine wird erwartet, dass sie Russland auf dem Schlachtfeld mit unzureichenden Soldaten, Männern und Frauen, sowie mangelndem Material besiegt, bevor das Nato-Militärbündnis erwägt, dem zerrütteten Land zu einem nicht näher bezeichneten späteren Zeitpunkt Schutz nach Artikel 5 anzubieten.
Doch wer glaubt, die Ukraine könne Russland aus eigener Kraft besiegen, macht sich Illusionen und verkennt die Fakten. All die brüderlichen Umarmungen, die (inzwischen eindeutig unaufrichtigen) Unterstützungsangebote für "so lange wie nötig" und die großen Auftritte von Selenskyj beim Musikfestival im britischen Glastonbury haben das Land der Nato-Mitgliedschaft nicht näher gebracht.
Jens Stoltenberg beteuert, dass die Ukraine dennoch ein Mitglied der Nato-Familie ist. Aber als ich aufgewachsen bin, haben meine älteren Geschwister immer eingegriffen, wenn ich von einem größeren Kind verprügelt wurde.
Die Entscheidung: Krieg oder Frieden?
Um die Ukraine vor der völligen Zerstörung zu bewahren, muss der Westen jetzt die Entscheidung zwischen Krieg und Frieden treffen und seine Bürger befragen, welchen Weg man einschlagen soll.
Sich für den Frieden zu entscheiden, beinhaltet schwierige Gespräche mit Selenskyj, in denen westliche Politiker deutlich machen werden, dass sein Land keine weitere Hilfe erhalten wird, wenn es sich nicht mit Russland an den Verhandlungstisch setzt, um einen Waffenstillstand zu vereinbaren sowie einen langen und schmerzhaften Prozess von Friedensgesprächen zu beginnen.
Das wird schwierig werden. Vor allem die USA und Großbritannien haben so viele Jahre damit verbracht, der Ukraine zu erklären, dass ihr Auftreten gegenüber Russland richtig und gerecht ist, und man auf niemanden mehr hört (auch nicht auf den Papst), der auf die drohende Katastrophe hinweist und einen Kurswechsel vorschlägt.
Sich für den Krieg zu entscheiden, bedeutet eine ehrliche Diskussion mit den Bürgern über die unmittelbaren Folgen für eine große Zahl von Nato-Kräften, die möglicherweise das ultimative Opfer bringen, und über die Effekte auf das Sicherheitsempfinden in westlichen Städten für eine Mission, die bestenfalls nur marginale Vorteile bringen könnte.
Außerdem würde es einen weiteren, meiner Einschätzung nach schwerwiegenderen globalen wirtschaftlichen Schock geben, der mehr Europäer in die Armut stürzen würde.
Wenn westliche Politiker ihren Bürgern gegenüber endlich ehrlich sind und ihnen sagen, wie schwerwiegend die Wahl ist, würden sich die meisten Menschen für den Frieden entscheiden, davon bin ich überzeugt.
Der Artikel erscheint in Kooperation mit dem Magazin Brave New Europe. Hier finden Sie das englische Original. Übersetzung: David Goeßmann.
Ian Proud war von 1999 bis 2023 Mitglied des britischen diplomatischen Dienstes und von 2014 bis 2019 an der britischen Botschaft in Moskau tätig. Er hat kürzlich seine Memoiren "A Misfit in Moscow: How British diplomacy in Russia failed, 2014-2019" veröffentlicht.