Wie der Reichsbürgerprozess von der Regierung missbraucht wird

Fahne der sogenannten Reichsbürger, Reichsadler auf weißem Grund

Unlustig im Lustgarten, Berlin: "Reichsbürger". Bild: Juergen Nowak, Shutterstock.com

Es ist gut, dass die Verschwörer um einen Prinzen im Karo-Sakko vor Gericht stehen. Doch damit es nicht getan. Die eigentliche Gefahr wird verkannt. Ein Telepolis-Leitartikel.

Einige Medien können sich in Superlativen kaum überbieten, wenn es um den am heutigen 29. April 2024 begonnenen Prozess gegen die sogenannten Reichsbürger an drei Gerichten im Bundesgebiet geht. Die größte Verschwörung in der Geschichte des Landes wird dort verkündet.

Manche Zuhörer und Zuschauer dürften sich fragen: Wird da mit republikanischen Kanonen auf aristokratische Spatzen geschossen? Und noch eine Frage stellt sich, ernster und tiefergehender; die nämlich nach dem Zweck dieses Schauspiels und der Intention seiner Regisseure.

In Stuttgart hat der Prozess gegen neun mutmaßliche Mitglieder der "Reichsbürger"-Gruppe um Heinrich XIII. Prinz Reuß begonnen. Sie müssen sich vor dem Oberlandesgericht Stuttgart verantworten. Die Bundesanwaltschaft wirft den Angeklagten vor, Mitglieder einer terroristischen Vereinigung zu sein und ein hochverräterisches Unternehmen vorbereitet zu haben.

Einigen wird zudem unerlaubter Waffenbesitz vorgeworfen, einem sogar versuchter Mord. Dabei ist das Einzige, was man dem gealterten Prinzen aus Hessen zweifelsohne vorwerfen kann, sein unglaublich schlechter Modegeschmack, der sich an seinem karierten Sakko bei der Festnahme erkennen lässt.

Und nicht missverstanden zu werden: Hier soll nicht die Gefahr dieser regressiven und von der Vergangenheit geleiteten Bande Verirrter verharmlost werden, wie das rechtsgerichtete Medien tun, um dem Fall Brisanz zu nehmen.

Laut Bundesanwaltschaft war der Aufbau der organisierten Verbände, den sogenannten Heimatschutzkompanien, in einigen Fällen immerhin schon fortgeschritten. In zwei Fällen hätten die Verantwortlichen bereits selbst aktiv werden können.

"Gruppe Reiß": Umstürzchen im Ländle

Innerhalb der "Kompanie 221", die für die Bereiche Tübingen und Freudenstadt in Baden-Württemberg zuständig gewesen sein soll, seien Zuständige für die Rekrutierung weiteren Personals ernannt worden. Auch die Kompanie, die für Jena sowie die Kreise Saale-Holzland und Saale-Orla hätte zuständig sein sollen, hätte selbst tätig werden können.

"Säuberungsaktionen" in ihrem Zuständigkeitsbereich waren geplant. Wie auch immer man die Sache bewertet: Mit der Zerschlagung der Gruppe wurde offen offenbar Schaden an Material und Mensch verhindert.

Überhöhung der Angeklagten

Das Problem an diesem inszenierten Prozess ist, dass er in seiner Überhöhung der Angeklagten zur selbsterfüllenden Prophezeiung werden könnte. In bestimmten Kreisen dürfte die "Gruppe Reuß" schon jetzt einen Heldenstatus genießen wie Bader und Meinhof einst unter westdeutschen Linksradikalen.

Bei der Fokussierung auf gut zwei Dutzend Verwirrte droht das eigentliche Thema aus dem Blick zu geraten: Inwieweit der inzwischen gesamtdeutsche Sicherheitsapparat für Staatsfeinde jeglicher regressiver Couleur anfällig ist.

Reichsbürger und das KSK der Bundeswehr

Diese Überlegung ist nicht weit hergeholt, zumal die Ermittlungen unter anderem zu einem Bundeswehrsoldaten des Kommando Spezialkräfte (KSK) im baden-württembergischen Calw führten. Der Stabsfeldwebel Andreas M. soll neben seiner Bundeswehrtätigkeit auch am Aufbau privater "Heimatschutzkompanien" gearbeitet haben.

Ausgerechnet das Kommando Spezialkräfte! Eine demokratisch wenig beaufsichtigte Spezialeinheit, die den vergangenen Jahren weltweit irgendetwas, vermutlich aber oft Unwesen getrieben hat. Die sich der Kontrolle demokratischer Institutionen oder gar der kritischen Öffentlichkeit derart aggressiv entzieht, dass selbst Journalisten, die in Calw recherchieren, ein gewisses Unwohlsein befällt.

Das gerade solche Strukturen für verwirrte Verschwörer anfällig sind, ist kein Einzelfall. In Litauen haben Mitglieder eines Panzergrendierzugs Kameraden in größerer Runde als "Juden und Verräter" beschimpft – daran erinnert sich offenbar niemand mehr.

Ebenso vergessen wie die Skandale darum und um das sogenannte KSK ist der Umstand, dass über Jahre hinweg ein rechtsgerichteter Politiker, der unlängst sogar seine eigene Partei gegründet hat, den Inlandsgeheimdienst der Bundesrepublik Deutschland kontrolliert hat.

Rechter leitet Inlandsgeheimdienst – war da was?

Vergessen wie der verschleppte und nie aufgeklärte Skandal um Hans-Georg Maaßen ist auch der Umstand, dass von diesem Inlandsgeheimdienst mit dem sogenannten Nationalsozialistischen Untergrund wohl schon einmal eine rechtsterroristische Struktur mitaufgebaut worden ist.

All das und noch viel mehr gerät aus dem Fokus, wenn nun nur noch von der "Gruppe Reuß" und "den Verschwörern" berichtet wird. Das ist politisches Versagen. Und das ist mediales Versagen.

Der eingeengte Blick auf die nun Angeklagten dient noch einem weiteren Zweck: Der Abschiebung von Verantwortung durch die politischen Entscheidungsträger.

Bundesablenkungsministerin Nancy Faeser

Meisterin dieser Disziplin ist Bundesministerinnen Nancy Faeser (SPD), die jedes Mal, wenn sie Kritik ausgesetzt ist, das Schlaglicht auf eine andere Extremistengruppe wirft, um sich selbst aus der Affäre zu ziehen.

Diese militanten Reichsbürger seien "getrieben vom Hass auf unsere Demokratie", hielt Innenministerin Faeser vor Beginn des Prozesses fest. Die Sozialdemokratin fügte an: "Wir werden unsere harte Gangart weiter fortsetzen, bis wir militante Reichsbürger-Strukturen vollständig offengelegt und zerschlagen haben." Es gehe darum, dass sich niemand in dieser extremistischen Szene sicher fühle.

Und niemand redet mehr über die Katastrophen-SPD

Oder geht es umgekehrt darum, dass sich die Faeser und ihre Genossen sicher fühlen können? Denn je mehr über durchgeknallte Reichsbürger gesprochen wird, desto mehr kann sich Faeser als Beschützerin "unserer Demokratie" inszenieren.

Und schon redet niemand mehr über die katastrophale Bilanz der Ampel-Regierung. Niemand mehr über das historische Tief der SPD, die mehr als zehn Prozentpunkte verloren hat seit der vergangenen Bundestagswahl; niemand mehr über das bevorstehende Scheitern bei der Europawahl.

Faesers Aufgabe liegt nicht darin, in einen laufenden juristischen Prozess einzugreifen. Sie sollte sich um die Empfänglichkeit der Sicherheitsbehörden für terroristische Strukturen und ewiggestrige Rattenfänger kümmern; ebenso wie ihr Genosse Boris Pistorius im Fall der Armee.

Wir sollten uns mehr um Polizei und Armee sorgen

Wer von einer rechten Bedrohung schwadroniert, sollte wissen, wie die letzte entstanden ist: SA und SS hatte es schon lange vor 1933 gegeben; beide Verbände waren im Sicherheitsapparat der Weimarer Republik gut vernetzt.

Als Hermann Göring Anfang 1933 die Kontrolle über die Polizei übernahm, war der Anteil sozialdemokratischer Polizisten verschwindend gering. Göhring musste in der Gesamtpolizei binnen 1933 gerade einmal rund 1.000 Beamte entlassen. Davon betroffen waren 7,3 Prozent aller Schutzpolizisten, 1,7 Prozent der Wachtmeister, 1,5 Prozent der Kriminalbeamten und rund zehn Prozent der Kräfte im gehobenen Dienst.

Die sogenannte nationalsozialistische Revolution hatte weit vor 1933 begonnen. Mitten in den Sicherheitsbehörden. Mitten im Staat.