Wie der Westen auf Diplomatie setzte – und die Ukraine dann in den Krieg führte

Von Diplomatie in den Krieg: So schlitterte die Ukraine in die Katastrophe. Was man daraus lernen kann und warum dies Russlands Verantwortung nicht relativiert. (Teil 2 und Schluss)

Die Tatsache der Unterstützung der Verhandlungen durch westliche Politiker ergibt sich aus der Abfolge der Telefonate und Treffen in der Zeit von Anfang März bis mindestens Mitte März.

Am 4. März vergangenen Jahres telefonierten Scholz und Putin; am 5. März traf Bennett Putin in Moskau; am 6. März trafen sich Bennett und Scholz in Berlin; am 7. März besprachen sich die USA, Großbritannien, Frankreich und Deutschland in einer Videokonferenz zum Thema; am 8. März telefonierten Macron und Scholz; am 10. März trafen sich der ukrainische Außenminister Kuleba und der russische Außenminister Lawrow in Ankara; am 12. März telefonierten Scholz und Selenskyj sowie Scholz und Macron und am 14. März trafen sich Scholz und Erdogan in Ankara.

Lesen Sie hierzu auch die Replik von Alexander Dubowy

Nato-Sondergipfel vom 24. März 2022 in Brüssel

Michael von der Schulenburg, ehemaliger führender UN-Diplomat in Friedensmissionen, schreibt, dass "die Nato bereits am 24. März 2022 auf einem Sondergipfel beschlossen hatte, diese Friedensverhandlungen (zwischen der Ukraine und Russland) nicht zu unterstützen."1

Zu diesem Sondergipfel war der US-Präsident eigens eingeflogen. Offenkundig war ein Frieden, wie er von den russischen und ukrainischen Verhandlungsdelegationen ausgehandelt worden war, nicht im Interesse einiger Nato-Staaten.2

Selenskyj widerspricht

Noch am 27. März 2022 hatte Selenskyj den Mut gezeigt, die Ergebnisse der ukrainisch-russischen Friedensverhandlungen vor russischen Journalisten in aller Öffentlichkeit zu verteidigen – und dass obwohl die Nato bereits an 24. März 2022 auf einem Sondergipfel beschlossen hatte, diese Friedensverhandlungen nicht zu unterstützen.

Ebd.

Nach von der Schulenburg hatte es sich bei den russisch-ukrainischen Friedensverhandlungen um eine historisch einmalige Besonderheit gehandelt, die nur dadurch möglich war, weil sich Russen und Ukrainer gut kennen und die "gleiche Sprache sprechen".

Am 28. März erklärte Putin, als ein Zeichen des guten Willens die Bereitschaft, Truppen aus dem Raum Charkow und dem Raum Kiew abzuziehen; dies geschah offenkundig bereits vor dieser öffentlichen Erklärung.

Die Absage an Selenskyj und Putin

Am 29. März 2022 telefonierten Scholz, Biden, Draghi, Macron und Johnson erneut zur Lage in der Ukraine.

Hans-Joachim "Hajo" Funke ist ein deutscher Politikwissenschaftler. Er hatte von 1993 bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2010 eine Lehrtätigkeit am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin inne.

Zu diesem Zeitpunkt hatte sich offenbar die Haltung wichtiger westlicher Bündnispartner verhärtet. Sie formulierten im Gegensatz zum Vorgehen von Bennett und Erdogan Vorbedingungen für Verhandlungen: "Die Staats- und Regierungschefs waren sich einig, die Ukraine weiter tatkräftig zu unterstützen. Sie drängten den russischen Präsidenten Putin erneut dazu, einer Waffenruhe zuzustimmen, alle Kampfhandlungen einzustellen, die russischen Soldaten aus der Ukraine abzuziehen und eine diplomatische Lösung (…) zu ermöglichen."3

Die Washington Post berichtete am 5. April, dass in der Nato die Fortsetzung des Krieges gegenüber einem Waffenstillstand und einer Verhandlungslösung bevorzugt wird: "Für einige in der Nato ist es besser, wenn die Ukrainer weiterkämpfen und sterben als einen Frieden zu erreichen, der zu früh kommt oder zu einem zu hohen Preis für Kiew und das übrige Europa." Selenskyj solle "so lange weiterkämpfen, bis Russland vollständig besiegt ist."

Boris Johnson am 9. April 2022: Wir führen den Krieg weiter

Am 9. April 2022 traf Boris Johnson unangemeldet in Kiew ein und erklärte dem ukrainischen Präsidenten, dass der Westen nicht bereit sei, den Krieg zu beenden. Laut britischem Guardian vom 28. April hatte Premier Johnson den ukrainischen Präsidenten Selenskyj "angewiesen", "keine Zugeständnisse an Putin zu machen"

Harald Kujat ist ein deutscher Luftwaffen-General a.D. Er bekleidete von 2000 bis 2002 die Position des 13. Generalinspekteurs der Bundeswehr und war anschließend von 2002 bis 2005 Vorsitzender des Militärausschusses der Nato.

Darüber berichtete die Ukrajinska Prawda am 5. Mai 2022 in zwei Beiträgen ausführlich:

Kaum hatten sich die ukrainischen Unterhändler und Abramovich/Medinsky nach den Ergebnissen von Istanbul auf die Struktur eines möglichen künftigen Abkommens in groben Zügen geeinigt, erschien der britische Premierminister Boris Johnson fast ohne Vorwarnung in Kiew.

Johnson brachte zwei einfache Botschaften mit nach Kiew. Die erste lautet, dass Putin ein Kriegsverbrecher ist; man sollte Druck auf ihn ausüben, nicht mit ihm verhandeln. Die zweite lautet, dass selbst wenn die Ukraine bereit ist, mit Putin einige Vereinbarungen über Garantien zu unterzeichnen, dass es der kollektive Westen aber nicht ist. Wir können [ein Abkommen] mit Ihnen [der Ukraine] unterzeichnen, aber nicht mit ihm. Er wird sowieso alle über den Tisch ziehen", fasste einer der engen Mitarbeiter Selenskyjs den Kern des Besuchs von Johnson zusammen. Hinter diesem Besuch und den Worten Johnsons verbirgt sich weit mehr als nur die Abneigung, sich auf Abkommen mit Russland einzulassen. Johnson vertrat den Standpunkt, dass der kollektive Westen, der noch im Februar vorgeschlagen hatte, Selenskyj solle sich ergeben und fliehen, nun das Gefühl hat, dass Putin nicht wirklich so mächtig ist, wie sie es sich zuvor vorgestellt hatten. Darüber hinaus besteht eine Chance, ihn "unter Druck zu setzen". Und der Westen will sie nutzen."

Die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) meldete am 12. April, die britische Regierung unter Johnson setze auf einen militärischen Sieg der Ukraine.

Die konservative Unterhausabgeordnete Alicia Kearns sagte: "Lieber bewaffnen wir die Ukrainer bis an die Zähne, als dass wir Putin einen Erfolg gönnen." Die britische Außenministerin Liz Truss bekundete in einer Grundsatzrede, dass der "Sieg der Ukraine (…) für uns alle eine strategische Notwendigkeit" sei und daher die militärische Unterstützung massiv ausgeweitet werden müsse. Guardian-Kolumnist Simon Jenkins warnte: "Liz Truss riskiert, den Krieg in der Ukraine für ihre eigenen Ambitionen anzufachen". Dies sei wohl der erste Tory-Wahlkampf, "der an den Grenzen Russlands ausgetragen wird".

Johnson und Truss wollten, dass Selenskyi "so lange weiterkämpft, bis Russland vollständig besiegt ist. Sie brauchen einen Triumph in ihrem Stellvertreterkrieg. In der Zwischenzeit kann jeder, der nicht ihrer Meinung ist, als Schwächling, Feigling oder Putin-Anhänger abgetan werden. Dass dieser Konflikt von Großbritannien für einen schäbigen bevorstehenden Führungswettstreit missbraucht wird, ist widerwärtig.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

Mit Ihrer Zustimmmung wird hier eine externe Buchempfehlung (Amazon Affiliates) geladen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Amazon Affiliates) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.