Wie eine einst kritische Wissenschaft nun langsam verblüht

Jubiläumskongress der Österreichischen Gesellschaft für Soziologie - ein erster Eindruck aus dem akademischen "Aufmerksamkeitsstadel"

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Dem Jubiläumskongress der Österreichischen Gesellschaft für Soziologie aus Anlass ihres 50-jährigen Bestehens vom 20. bis 23. September 2000, mit dem schönen Thema In welcher Gesellschaft leben wir?, folgt gleich der 30. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, vom 26. bis 29. September 2000: Gute Gesellschaft? Zur Konstruktion sozialer Ordnungen. Das Fragezeichen gehört nun offenbar zum guten, deutschsprachigen Ton.

Impressionen

Herbst 2000. Österreichisches Soziologietreffen an der Universität Wien: das bedeutet NIG (Neues Institutsgebäude) in der Nähe der sehr alten Universität und des ganz neuen Universitätsteils, dem renovierten Komplex des alten Allgemeinen Krankenhauses. Alt und neu verwischen sich österreichisch, irgendwie - aber das wäre etwa in Ungarn wohl nicht anders. Das NIG ist ein zur Zeit eingerüsteter, finsterer akademischer Gebäudeblock, der schon beim Betreten depressiv macht, zwar mit modernen Energiesparlampen etwas erhellt, aber trotzdem unendlich dunkel, muffig, bedrückend. Für Fans allerdings echt sensationell ist das heute schon ganz seltene Exemplar eines wirklich noch in Betrieb befindlichen Paternoster-Aufzugs (die sind an sich EU-mäßig verboten).

Die Örtlichkeiten bilden die beste Metapher für eine Wissenschaft, die gerade verblüht. Typisch dafür ist ja auch das Kongressthema: "In welcher Gesellschaft leben wir?" Noch vor 10, geschweige denn vor 20 oder 30 Jahren, hätte man nicht brav und schülerhaft so eine Frage hingestellt, sondern von vornherein mögliche Antworten formuliert oder selbstbewusst Forderungen angesprochen. Von wem eigentlich sonst erwartet man denn eine Antwort auf die Frage, wie man nun diese Gesellschaft verstehen soll, wenn nicht von den Sozialwissenschaftern?

Themen

Bei den Themen - die Abstracts der Beiträge sind bei den Österreichern über die Webseite einsehbar, bei den Deutschen allerdings nicht (oder gut versteckt, dafür klingen die Titel der Vorträge einfach sprachlich "anspruchsvoller") - wurde ein hübsches Bukett gestaltet. Da blüht vom Thematischen her doch noch vieles. Ansprechend ist auch die alte egalitäre Tradition, dass Titel prinzipiell weggelassen werden, der Name allein und das Gewicht des Vortrags sollen zählen. Auch die Mischung zwischen Etablierten und Newcomern bei den Vorträgen ist prinzipiell eine gute Sache.

Etwas anders sieht es dann aus, wenn man den Inhalten lauscht, was aber schon deswegen schwer fällt, da viele Veranstaltungen parallel geführt werden. Die Essenz der klassischen Soziologie, nämlich eine kritische Grundhaltung der eigenen Gesellschaft gegenüber, scheint bei den Inhalten wie weggeblasen. So brav und artig wie das Kongressthema selbst sind viele Beiträge geraten (zumindest jene, die der Autor dieser 'Rezension' hören konnte, auf das Parallelführungsproblem wurde ja bereits hingewiesen). Wenig Neues, gern werden vollbrachte Arbeiten referiert; etliches an kommerzieller Auftragsforschung ist dabei; Detailkritik ja - aber grundsätzliche kritische Anforderungsprofile an die von den Menschen selbst gestaltbare soziale Wirklichkeit sind recht selten.

Merkwürdigkeiten

Schon beim Auftakt der Veranstaltung war die Rede von einem verlustig gegangenen Wechselspiel zwischen Natur und Kultur, einer Art irgendwie verlorenen Heimat, zu der man nun wissenschaftlich (soziologisch!) wieder zurück sollte. Gut, ästhetische Missgriffe oder sprachliche Ungeschicktheiten muss man schon immer wieder akzeptieren, bei einem Auftakt sollten sie aber tunlichst vermieden werden.

Die konventionelle Sozialstrukturanalyse sei am Ende, erfuhr man auch, denn für die Menschen ist Konsum wichtig, deshalb könnte man ja bei soziologischen Analysen künftig auf Konsum statt auf Erwerbsarbeit abstellen. Das haben übrigens die kommerziellen Marktforschungsinstitute vor 20, 25 Jahren bereits mit beachtlichem Erfolg getan - auf so was kommen Soziologen erst heute? Dennoch, Konsumchancen hängen schon irgendwie mit dem Einkommen zusammen, denkt man sich als Zuhörer. Und, die angloamerikanischen Cultural Studies, in die die dortigen Soziologen und Konsumforscher mittlerweile erfolgreich abgewandert sind, haben diesen oft direkt ins Marketing führenden Side-Step zur Konsumkultur etwa auch um diese Zeit begonnen. Kommt jetzt also ein Vierteljahrhundert danach eine deutschsprachige Variante von "Alltagskultur-Forschung" auf uns zu?

Wirtschaft und Globalisierung lassen sich in und für Österreich natürlich immer unter einem "josephinischem" (hat etwas mit der österreichischen Monarchie vor vielen, vielen Jahrzehnten zu tun) Charakter und mit Traditions- und Anpassungsambiguität diskutieren, was ähnlich beispielsweise. für Bayern zutreffen könnte. Aber bei Geld- und ökonomischen Machtfragen ist dann Ästhetik als Kerndimension wohl wiederum keine besonders schlaue Wahl.

Dafür konnte man andererseits die Klage hören, ist die Lesbenbewegung weit weniger aus staatlichen Mitteln gefördert worden, als dies bei der Schwulenbewegung hierzulande der Fall war. Conclusio der Referentin daraus: "Querness für Alle" tut ebenso Not, wie eine Produktion sexueller Identitäten. Der Impact von Medien kam dabei übrigens nicht zur Sprache. Hier würde sich unter anderem ein Blick in Thomas Tumas bei Spiegel-online publizierten Roman Tödlicher Chat empfehlen, das aber nur so nebenbei erwähnt.

Erstaunlicherweise gab es wenig an dezidierter Beschäftigung mit moderner Technik; zwar schon ein bisschen neue Kommunikationstechnologie, aber das blieb eher randständig. Was heute jedoch mittlerweile auch wiederum einen wohltuenden Charakter haben kann.

Zwischen-Resümee

Ein graues tiefherbstliches Wetter mit gelegentlichem Nieselregen erinnerte an Allerheiligen und Allerseelen. Dann am Freitag, mit einem groß angekündigten "autofreien Tag" in Wien, der aber nur in der Phantasie stattfand, kam Erwartung in die Szene. Diese wurde mit den Studentenprotesten, da die schwarz-blaue Regierung für jedes Studiensemester nun Gebühren in Höhe von mehr als 700 DM einführen will, irgendwie doch entspannt. Ein unendlich trister Tagungsort mit leider auch an deutschen Uni-Verhältnissen orientierten Kaffeepausen. Ein Overhead-Projektor im zentralen Hörsaal 1, der ein mickrig schräges Miniaturbildchen an die Wand wirft. Etwas Power Point - Show über Video-Beamer gab es natürlich schon auch, jedoch die meisten herkömmlichen Overhead-Folien der Referenten waren so grausam akademisch fuzzelig und nervig, wie vor 30 Jahren.

Natürlich war das keine rein österreichische Veranstaltung, immerhin es gab erwartungsgemäß eine Reihe von auswärtigen Gästen und Teilnehmern. Genau deshalb wäre es spannend, wie es nach Wien dann in Köln mit der einmal so kratzbürstigen und wohltuend kräftig sprechenden Soziologie weitergehen wird. (Text abgeschlossen Freitag 22. 9. 2000 abends).