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Wie realistisch ist eine allgemeine Corona-Impfpflicht überhaupt noch?

Maßnahme wäre starker Eingriff in Persönlichkeitsrechte. Wie realistisch ist Erfolg mit Blick auf Omikron und saisonale Effekte? Ausblick auf das Gesundheitssystem im demografischen Wandeln

In Deutschland wurde im November 2019 eine Impfpflicht gegen die Masern verabschiedet. Diese soll insbesondere Kinder schützen, die aus medizinischen Gründen keine Impfung gegen das Virus bekommen können.

Kurz gesagt sollen darum alle anderen Kinder sowie die Angestellten in Kindergärten und Schulen geimpft sein – oder sonst den Einrichtungen fernbleiben. (Natürlich gilt nach wie vor die Schulpflicht.) Beim Verstoß drohen Bußgelder, auch gegen die Einrichtungen.

Einige Eltern zogen darum vors Bundesverfassungsgericht. Dieses lehnte im Mai 2020, also kurz nach Beginn der Coronapandemie, erst einmal die Eilanträge gegen das Gesetz ab [1].

Die hohen Richterinnen und Richter wägten die unterschiedlichen Folgen gegeneinander ab – und ließen das Gesetz erst einmal in Kraft. Dabei spielte der Entscheidungsspielraum des demokratisch legitimierten, nämlich vom Volk gewählten Gesetzgeber eine wichtige Rolle.

Mit Blick auf die Bekämpfung des Coronavirus hat nun das Masernschutzgesetz eine ganz neue Bedeutung bekommen. Die Entscheidung wird das Bundesverfassungsgericht erst nach sorgfältiger Prüfung im Hauptverfahren fällen. Diese hätte dann auch eine Signalwirkung für eine Impfpflicht gegen Corona.

Von Bedeutung ist hier auch eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für die Menschenrechte in Straßburg. Dieser erklärte eine Impfpflicht gegen mehrere Viruserkrankungen in Tschechien für mit den Menschenrechten vereinbar [2].

Das gilt aber nur, wenn die Strafen verhältnismäßig sind. Konkret ging es um Geldbußen in Höhe von bis zu 10.000 Tschechischen Kronen (rund 400 Euro). Die Betreuung ihrer ungeimpften Kleinkinder müssen die Eltern dann selbst organisieren.

Erst einmal Wahlkampf

In Deutschland war dann erst einmal Wahlkampf. Trotz der gefährlicheren Deltavariante des Coronavirus spielte die Impfpflicht darin keine Rolle. Im Gegenteil wurde sie sogar ausgeschlossen. An diesem heißen Eisen wollte sich offenbar keine Partei die Finger verbrennen.

Dabei hatte die schwarz-rote Koalition unter Angela Merkel ja das besagte Masernschutzgesetz verabschiedet. Und war das Coronavirus etwa nicht gefährlicher als die Masern? Zudem hat sich die CDU schon auf einem Bundesparteitag 2015 zur Impfpflicht bekannt [3].

Insofern erweisen sich jetzt die Forderungen der auf die Oppositionsbank verdrängten CDU/CSU nach der Impfpflicht als janusköpfig. Was hätte die Unionsparteien, bis Ende 2021 immerhin in der führenden Rolle der Bundesregierung, denn am Einbringen eines Gesetzesvorschlags gehindert? Was, wenn nicht Wahlkampftaktik?

Olaf Scholz' Vorschlag, die Bundestagsabgeordneten selbst einen Gesetzesvorschlag ausarbeiten zu lassen, scheint nun strategisch klug: Gesetzgeber ist ohnehin nur das Parlament, nicht die Regierung; die umstrittene Impfpflicht könnte stärker in der Bevölkerung akzeptiert werden, wenn sie parteienübergreifend eingeführt wird; und falls das Vorhaben doch scheitert, würde man es dem Bundeskanzler nicht so stark anlasten.

Wird die Initiative scheitern?

Wie realistisch sind aber die Erfolgsaussichten? In diesem Zusammenhang ist die Rolle der FDP von Bedeutung, die die individuellen Freiheitsrechte meist stärker gewichtet als die anderen Parteien. Darum kommen auch nach den Wahlen aus ihren Reihen Bedenken gegen eine allgemeine Impfpflicht zur Bekämpfung des Coronavirus, unter anderem vom stellvertretenden Bundesvorsitzenden Wolfgang Kubicki.

Neben den Freiheitsrechten spielt die Gefährlichkeit des Virus, insbesondere seiner vorherrschenden Mutationen, ebenfalls eine wichtige Rolle. Denn der Eingriff in die Persönlichkeitsrechte wird ja mit dem Gesundheitsschutz gerechtfertigt.

Das ursprünglich für den März 2022 anberaumte Ziel zur Verabschiedung der Impfpflicht erscheint nun unrealistisch. Dabei spielt auch die wegen Fasching geringere Anzahl an Bundestagssitzungen eine Rolle. Von außen betrachtet wirft das die Frage auf, wie dringlich das umstrittene Vorhaben wirklich ist, wenn es 2021 wegen des Wahlkampfs und nun auch wegen eines Volksfests aufgeschoben wird.

Vielleicht erledigt sich das Problem aber auch von selbst, nämlich wegen der Saisonalität des Infektionsgeschehens – und womöglich auch der geringeren Gefährlichkeit der Omikronvariante. Wenn es dabei bleibt, dass Omikron zwar viel ansteckender ist, doch weniger schwere Krankheitsverläufe verursacht, würde das die Notwendigkeit der allgemeinen Impfpflicht verringern.

Zudem gibt es zurzeit auch noch keine zugelassenen Impfstoffe, die spezifisch gegen die in vielfacher Weise mutierte Virusvariante entwickelt wurden. Darum scheint bis auf Weiteres auch der Zugewinn an Immunität durch die Impfung geringer.

Für Eingriffe in Grundrechte gilt die Verhältnismäßigkeitsregel: Das heißt, dass eine Maßnahme sowohl wirksam (zur Lösung des Problems) als auch angemessen (mit Blick auf Grundrechtseinschränkungen) sein muss. Beides werden im Endeffekt die deutschen und europäischen Gerichte überprüfen, so viel ist sicher.

Saisonalitäten

Wenn das Gesetz wegen fehlender Sitzungstage nicht im März verabschiedet werden kann, wäre April der nächstmögliche Zeitraum. Da sind wir aber schon im Frühling – und demnach ändert sich das Klima.

Dass das Infektionsgeschehen der Coronapandemie im April/Mai zurückläuft, sahen wir schon 2020 und 2021 [4]. Ein Forscherteam der koreanischen Handong Global University hat hierzu rund 20 wissenschaftliche Studien verglichen und das vor allem auf die steigende Temperatur zurückgeführt [5].

Die Luftfeuchtigkeit spiele wahrscheinlich ebenfalls eine Rolle, auch wenn hier der Zusammenhang bisher weniger klar sei. Breitengrad, Sonnenstrahlung, Luftverschmutzung oder Windgeschwindigkeit seien jedoch eher nicht oder nur geringer von Bedeutung.

Wie Telepolis bereits berichtete, ist eine allgemeine Corona-Impfpflicht auch aus gesetzlicher Perspektive komplex: Dazu hat der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags im Auftrag der Linken-Abgeordneten Sevim Dagdelen im November 2021 ein Gutachten angefertigt [6].

Jetzt oder nie

Nimmt man alles zusammen, erscheint es somit fraglich, ob Deutschland noch eine allgemeine Corona-Impfpflicht bekommen wird. Vielleicht verläuft das Vorhaben schlicht im Sande, wenn die Pandemie im Frühling weniger ein öffentliches Thema sein wird.

Das setzt allerdings voraus, dass Omikron – oder mögliche neue Mutationen – nicht gefährlicher sein werden, als wir zurzeit denken. Gesundheitsminister Karl Lauterbach warnte, dass die Menschen im Herbst 2022 ohne Impfungen unzureichend geschützt seien [7]. Doch welche Virusvarianten es dann geben mag, das kann er freilich auch nicht wissen.

Ich gehe davon aus, dass die allgemeine Impfpflicht entweder bis April kommen wird – oder gar nicht. Das gilt freilich nur unter der Annahme, dass die Pandemie keine unerwartete und dramatische Wendung nehmen wird.

Wenn die Anzahl der in den Krankenhäusern behandelten Covid-19-Patienten weiter abnimmt, könnte die Dringlichkeit bald vom Tisch sein. Dann könnte das Coronavirus schließlich so ungefährlich (und gefährlich) werden wie die saisonale Grippe.

Der Impfstoffhersteller Moderna arbeitet zurzeit tatsächlich an einem Kombi-Impfstoff gegen Corona und Influenza. Wer sich impfen lassen will, hatte dazu bisher zahlreiche Gelegenheiten, insbesondere in den Risikogruppen. Vielleicht wird bald jährliches Angebot für eine Kombi-Impfung so normal wie heute die Grippe-Impfung.

Das allgemeine Problem wird aber bleiben: Wie weit darf man die individuelle Freiheit einschränken, um die Gesundheit der Bevölkerung zu schützen? Es gibt zwar kein "Supergrundrecht" Sicherheit, wohl aber eine staatliche Verpflichtung zum Lebens- und Gesundheitsschutz.

Deutschland hat im internationalen Vergleich ein recht gutes Gesundheitssystem – noch. In der Coronapandemie hat man aber gesehen, wie wichtig die "Ressource" Mensch ist. Denn so ein Intensivbett können jedenfalls bis auf Weiteres nicht die Computer allein betreuen, sondern erfordert spezielle Fachkräfte.

In Zukunft mehr Arbeitsdruck

Der demografische Wandel lässt vorausahnen, dass der Druck nicht nur, aber auch im Gesundheitswesen zunehmen wird: Fachkräfte werden sich immer schwieriger finden – und halten lassen. Wenn die Arbeitsbedingungen zu schlecht sind, wechseln sie eben den Arbeitgeber und/oder gleich das Arbeitsgebiet.

Daher gehe ich davon aus, dass der individuelle Druck, sich "gesundheitskonform" zu verhalten, zunehmen wird. Juli Zeh hat in ihrem dystopischen Roman Corpus Delicti ein Szenario geschildert, in dem es Strafen gibt, wenn die Bürgerinnen und Bürger zu wenig Sport treiben oder etwa ihre Urinproben nicht ordnungsgemäß einschicken; Rauchen gilt darin fast schon als Terrorismus.

So weit werden die Einschränkungen in einem demokratischen Rechtsstaat wohl nicht gehen. Der Roman führt uns aber eine mögliche Richtung vor Augen. Ein Lösungsweg könnte sein, individuelle Freiheit stärker mit individueller Verantwortung zu verknüpfen.

Das heißt, dass sich Menschen nach wie vor ohne Strafen für oder gegen Impfungen entscheiden könnten. Falls sie sich aber dagegen entscheiden und es dann später zu einem großen Druck im Gesundheitssystem kommt, könnte ihre Entscheidung folgen haben.

In einem leichteren Szenario könnte das bedeuten, schlicht an den Kosten der Behandlung beteiligt zu werden – wenn man sich das denn leisten kann [8]. Bei einer schwereren Variante könnte beispielsweise der Impfstatus auch bei einer Triage-Entscheidung mitberücksichtigt werden.

Das dürfte bei Impfgegnern Empörung auslösen. Bei einer Triagesituation wird es aber immer Beteiligte geben müssen, die das Nachsehen haben. Die verfügbaren Mittel sind eben nicht unbegrenzt. Und nicht nur die Entscheidung über Leben und Tod, sondern auch schon der immense Arbeitsdruck für das Personal in den Gesundheitsberufen hat es in sich.

Oder mit anderen Worten: Unser Gesundheitssystem ist in dem Sinne solidarisch, als es allen Menschen hilft, die in Not sind. Solidarität ist aber keine Einbahnstraße. Anderen Menschen eine Härte aufzubürden, die leicht vermieden hätte werden können, ist auch nicht gerade solidarisch.

Alternative Verantwortlichkeit

Eine Alternative zur umstrittenen Impfpflicht könnte somit sein, die Entscheidungen erwachsener Menschen für oder gegen eine Impfung ernst zu nehmen. Und für die Individuen würde das bedeuten, Verantwortung für seine Entscheidungen zu übernehmen.

Wichtig ist, hier keine soziale Selektion vorzunehmen. Das wäre dann der Fall, wenn bestimmte Präventions- oder Impfmaßnahmen nur für wohlhabendere Menschen zur Verfügung stünden. Das ist bei den Impfstoffen aber in der Regel nicht der Fall: Diese sind frei verfügbar, auch wenn es nach Alter und Gesundheit (Beispiel Vorerkrankung) zu einer Priorisierung kommen kann.

Wir sind moralische Subjekte, weil wir einander als solche anerkennen. Im Rechtsstaat und aufgrund der Menschenwürde behält selbst derjenige einigen grundrechtlichen Schutz, der schwere Verbrechen begeht und damit grundlegende Interessen anderer Personen verletzt.

Übertragen aufs Gesundheitssystem könnte das bedeuten: Auch jemand, der prinzipiell gegen gesundheitsschützende Maßnahmen wie Impfungen ist, bekommt eine Grundversorgung. Eine Maximalbehandlung wäre dann aber, bei begrenzten Ressourcen, erst einmal denjenigen vorbehalten, die sich an die Spielregeln des Gesundheitssystems halten.

Das könnten neben Impfungen auch bestimmte Kontrolluntersuchungen sein. So würde auch die höhere Sterblichkeit unter Männern reduziert, die seltener zum Arzt gehen oder häufiger erst dann, wenn es schon zu spät ist.

Voraussetzung für ein solches Modell wäre ein großes Vertrauen in die Institutionen des Gesundheitssystems. Beispielsweise dürften Gewinninteressen privater Akteure oder großer Unternehmen deren Arbeit nicht beeinflussen. Entscheidungen müssten transparent und nachvollziehbar sein, Geheimverträge vermieden werden.

Letztere geraten irgendwann doch an die Öffentlichkeit und dann ist das Entsetzen groß. Bei Verträgen mit Impfstoffherstellern ist das in der Coronapandemie tatsächlich so passiert.

Wer ein solches Modell heute noch für unrealistisch hält, der möge sich einmal die demografische Entwicklung anschauen: Zwar gibt es immer technologische Innovationen, doch in zehn bis zwanzig Jahren wird ein viel kleinerer Teil der Gesellschaft noch am Arbeitsmarkt partizipieren. Wenn sich dann wieder ein gefährliches Virus verbreitet, könnte die Coronapandemie seit 2020 nur ein kleiner Vorgeschmack gewesen sein.

Dieser Artikel erscheint ebenfalls im Blog "Menschen-Bilder" [9] des Autors.


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-6338432

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2020/bvg20-036a.html;jsessionid=0D53D767E51E2B7272538E8135695307.1_cid344
[2] https://www.heise.de/tp/features/Wie-wahrscheinlich-ist-eine-Coronavirus-Impfpflicht-6139221.html
[3] https://www.zeit.de/politik/deutschland/2015-12/cdu-beschluss-impfpflicht-kinder-masern-windpocken
[4] https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1100739/umfrage/entwicklung-der-taeglichen-fallzahl-des-coronavirus-in-deutschland/
[5] https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0013935121002668
[6] https://www.heise.de/tp/features/Bundestagsgutachten-Hohe-Huerden-fuer-Corona-Impfpflicht-6277807.html
[7] https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/impfpflicht-debatte-133.html
[8] https://www.heise.de/tp/features/Was-heisst-Solidaritaet-in-der-Corona-Aera-6245180.html
[9] http://scilogs.spektrum.de/menschen-bilder/