Wie sich Europa der Demokratie entledigt

Seite 2: Je schwerer die Krise, desto wichtiger die Debatte

Selten ist die Krise der Demokratie in Europa so deutlich geworden wie in diesen Wochen. Kurz nach dem 60. Jahrestag des Élysée-Vertrags, der die Europäische Union über Jahrzehnte geprägt hat, hat die viel beschworene bürgerlich-freiheitliche Grundordnung in Berlin und Paris schwere Rückschläge erlitten.

Zum einen haben die Regierungsfraktionen im Bundestag, de facto mit Unterstützung der AfD, eine halbherzige Wahlrechtsreform beschlossen, die ihr Ziel verfehlt und stattdessen – inmitten einer Krise des repräsentativen Systems – den demokratischen Vertretungsanspruch des deutschen Parlaments weiter einschränkt.

Zum anderen hat der französische Staatspräsident eine Rentenreform gegen den massiven Widerstand des Souveräns durchgesetzt. "Mit dem Holzhammer", schreibt Telepolis-Autor Peter Nowak. Man könnte auch sagen: mit dem Polizeiknüppel.

Zunächst aber zur Reform des Wahlrechts in Deutschland. Viele Vorschläge lagen auf dem Tisch. Dass die Ampel-Koalition – für die eigenen Fraktionen ungefährlich – die Direktmandate faktisch abschafft. Denn diese Direktmandate sind der unmittelbare Ausdruck des demokratischen Volkswillens.

Der Ampel-Entwurf sei "bürgerfern", beklagten Verfassungsrechtler deshalb bei Anhörungen. Sie prognostizierten, dass eine zweistellige Zahl von Wahlkreisen nicht mehr durch Direktkandidaten im Bundestag vertreten wäre. Davon geht etwa der Staatsrechtler Philipp Austermann von der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung aus.

Damit wäre ein massiver Schaden für die ohnehin desolate bürgerliche Demokratie in der Bundesrepublik zu erwarten - und das, obwohl sich längst viele Menschen von diesem System abgewandt haben und eine wachsende radikale Minderheit sich aggressiv dagegen positioniert.

Unmittelbarer und brutaler zeigt sich der Demokratieabbau von oben in Frankreich. Dort kommt es nach einer per Dekret beschlossenen Verlängerung der Regelarbeitszeit um zwei Jahre zu anhaltenden wütenden Protesten. Zuletzt wurden mehr als 140 Festnahmen und Dutzende Verletzte gemeldet. Gewerkschaften belagerten mehrere Ölraffinerien, Benzin droht knapp zu werden.

Die Bilder von schweren Zusammenstößen zwischen Demonstranten und staatlichen Streitkräften wirken auf deutsche Fernsehzuschauer befremdlich. Doch die Art der Auseinandersetzungen droht einen Ausblick auf kommende Konflikte zwischen Staat und Bevölkerung zu geben.

Vor allem aber zeigt sich die Krise an der Peripherie des real existierenden Euro-Kapitalismus: in Griechenland. Dort richtet sich die Wut der Menschen nach einem verheerenden Zugunglück gegen einen Staat, der die Sicherheit der Menschen dem Spardiktat Brüssels untergeordnet hat. Gleichzeitig wurde der Mitte-Links-Politiker Jannis Varoufakis in einem Lokal in Athen von einem rechtsradikalen Kommando überfallen und schwer verletzt - offenbar ein gezielter Angriff.

Wie man es dreht und wendet: Diese Entwicklungen sind keine Einzelfälle mehr, sie sind auch nicht mehr umkehrbar. Die Frage ist, wie und von wem der Kampf um Demokratie und demokratische Erneuerung geführt wird.

Die Medien können und müssen diese Entwicklung stets kritisch begleiten – obwohl und, man möchte sagen, gerade weil auch sie Gegenstand politischer Kontroversen sind. Hier bleibt die Aufgabe, den enger werdenden Meinungskorridoren zu widerstehen. Krisenzeiten brauchen Debatten. Nicht im Rahmen persönlicher Befindlichkeiten, sondern in aller rechtsstaatlichen Breite und ohne Diffamierung.

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