Wie weit wird er gehen? Putins territoriale Ziele in der Ukraine
Kämpfe um Charkiw. Bild: armyinform.com.ua
Träume von einem totalen Sieg der Ukraine sind verflogen. Was könnte nach einer Niederlage Kiews kommen? Was strebt Russland militärisch an? Gastbeitrag.
Während die Aussicht auf einen russischen Militärsieg in der Ukraine immer wahrscheinlicher wird, nehmen die Spekulationen über das Ausmaß der territorialen Ambitionen von Präsident Wladimir Putin zu. Wie weit werden seine Panzer, Drohnen und Truppen nach Westen in die Ukraine vordringen?
Es wird auch viel Lobbyarbeit betrieben. Russische Hardliner drängen Putin, die Ukraine vollständig zu besiegen und zu besetzen, während westliche Gemäßigte auf einen Frieden hoffen, der Russlands Gebietseroberungen auf die Krim und die bereits besetzten Provinzen Cherson, Donezk, Luhansk und Saporischschja beschränkt.
Eine solche Regelung würde der Ukraine 80 Prozent ihres Vorkriegsgebiets, eine Pufferzone gegen Russland östlich des Dnjepr und einen wirtschaftlich wichtigen Zugang zum Schwarzen Meer belassen.
Erklärtes Ziel der von Putin im Februar 2022 eingeleiteten sogenannten militärischen Sonderoperation (SMO) war die Entmilitarisierung, Entnazifizierung und Neutralisierung der Ukraine. Es wurden keine territorialen Forderungen oder Ansprüche erhoben.
Die offizielle Anerkennung der Abspaltung von Donezk und Luhansk von der Ukraine durch Russland und die Unterzeichnung von Verteidigungspakten mit den beiden Kleinstaaten lieferten den Vorwand für den Krieg, aber sie traten der Russischen Föderation erst im Oktober 2022 bei.
Als Russland im März 2022 versuchte, einen Waffenstillstand und ein Friedensabkommen mit der Ukraine auszuhandeln, lag der Vorschlag auf dem Tisch, dass Donezk und Luhansk unabhängig bleiben sollten. Es wurde sogar vorgeschlagen, dass die Donbass-Rebellen schließlich unter die ukrainische Souveränität zurückkehren könnten, wenn auch mit einem sehr hohen Maß an regionaler Autonomie.
Das Scheitern der Friedensverhandlungen von Istanbul und die Fortsetzung des Krieges machten die russische Annexion des Donbass unausweichlich; dasselbe gilt für Cherson und Saporischschja. Diese beiden Provinzen an der Schwarzmeerküste, die im Rahmen der russischen Militäroperationen zur Sicherung der strategischen Lage der Halbinsel Krim besetzt wurden, beherbergen ebenfalls eine große Zahl ethnischer Russen, die sich von der Ukraine abspalten wollen, wenn auch in weit geringerer Zahl als im Donbass.
Im September 2022 fanden in allen vier Provinzen Volksabstimmungen statt, die vorhersehbar eine überwältigende Mehrheit für die Vereinigung mit Russland ergaben. Putin unterzeichnete die Beitrittsdekrete am 30. September und betonte, dass die Ergebnisse der Referenden die freie Entscheidung von Millionen von Menschen widerspiegelten.
Er forderte Kiew auf, an den Verhandlungstisch zurückzukehren, erklärte jedoch vor dem russischen Föderationsrat: "Die Entscheidung der Menschen in Donezk, Luhansk, Saporischschja und Cherson wird nicht diskutiert werden. Diese Entscheidung ist gefallen, und Russland wird sie nicht verraten". Das verkündete er unter tosendem Beifall.
Die Grenzen dieser neu eingegliederten Gebiete wurden jedoch nicht präzisiert. Hatte Russland das gesamte Gebiet der vier Regionen annektiert oder nur die Teile, die es derzeit besetzt hält?
Im Fall von Donezk zum Beispiel blieben 40 Prozent der Provinz unter ukrainischer Kontrolle. Putins Pressesprecher Dmitri Peskow verwirrte die Angelegenheit noch weiter, als er erklärte, die Grenzen von Donezk und Luhansk würden denen von 2014 entsprechen, während die genauen Grenzen von Saporischschja und Cherson nach Konsultationen vor Ort festgelegt würden.
In dieser Frage hat sich Putin an seinen eigenen Rat gehalten, aber aus symbolischen und strategischen Gründen wird er sicherlich die Eroberung der beiden Donbass-Gebiete anstreben, auch wenn die Frage, ob dieses Gebiet mit den Provinzgrenzen der Vorkriegsukraine zusammenfällt, unklar bleibt.
Russische Hardliner hoffen, dass er auch Ambitionen hat, den Schwarzmeerhafen Odessa zu erobern und im Norden die zweitgrößte Stadt der Ukraine, Charkiw, einzunehmen. Beide Städte liegen zwar innerhalb der territorialen Grenzen dessen, was Putin als historisches Russland betrachtet, werden aber auch von einer großen Zahl ethnischer Ukrainer und russischsprachiger Menschen bewohnt, von denen viele weiterhin das Kiewer Regime unterstützen.
Trotz der vielen militärischen Erfolge Russlands in der Ukraine ist es seinen Streitkräften bisher nur gelungen, eine sehr große Stadt – Mariupol bei Donezk – einzunehmen und zu halten. Ohne einen völligen Zusammenbruch der ukrainischen Streitkräfte wären die Kämpfe um Odessa und Charkiw langwierig, hart und kostspielig für die russische Seite. Auch unter der Zivilbevölkerung würde es massive Opfer geben, auch unter den pro-russischen Ukrainern.
Einige Beobachter glauben, dass Russland früher oder später versuchen wird, die gesamte Ukraine östlich des Dnjepr zu besetzen, einschließlich der Provinzen Charkiw, Dnipropetrowsk, Sumy, Tschernihiw und Poltawa – mit dem Ziel, die von Kiew kontrollierte Ukraine zu einem dysfunktionalen Rumpfstaat zu reduzieren, der selbst bei fortgesetzter westlicher Unterstützung keine strategische Bedrohung mehr für Russland darstellt.
Die Sirenengesänge in Russland
Das ist die glühende Hoffnung vieler russischer Nationalisten, aber die Eroberung und dauerhafte Besetzung eines so großen Gebiets würde weitere Phasen der russischen militärischen Mobilisierung erfordern und könnte Jahre dauern, bis sie abgeschlossen ist.
Die derzeitigen Aktionen und Stellungen der russischen Armee deuten auf die Absicht hin, den Zermürbungskrieg mit der Ukraine entlang der gesamten Kontaktlinie fortzusetzen, Awdijiwka einzunehmen und dann etwa 100 Kilometer bis zur Linie Kramatorsk-Slawjansk vorzurücken und damit den größten Teil von Donezk zu besetzen.
Russland baut zudem seine Streitkräfte und Ausrüstung kontinuierlich auf ein Niveau aus, das es ihm ermöglichen würde, großangelegte, kriegswichtige Offensivmanöver durchzuführen, allerdings wahrscheinlich nicht vor Sommer 2024.
Auf der Jahrestagung des Valdai-Clubs in Sotschi Anfang Oktober bezeichnete Putin den Ukraine-Krieg als einen "zivilisatorischen" und nicht als einen territorialen Konflikt, wobei das Hauptziel der "Spezialoperation" zunächst darin bestand, die Bevölkerung des Donbass zu schützen, die von den ukrainischen Streitkräften bombardiert wurde.
Auf der gleichen Veranstaltung fragte Margarita Simonyan, die Leiterin des Fernsehsenders RT, Putin, wo die militärische Operation aufhören würde, insbesondere, ob ihre territorialen Grenzen die historisch russische Stadt Odessa umfassen würden. Putin antwortete:
Bei der Frage, wo wir aufhören sollten, geht es nicht um Territorien, sondern um Sicherheitsgarantien für die Menschen in Russland und den russischen Staat, und das ist ein komplexeres Thema als die Frage nach einem Gebiet. Es geht um die Sicherheit der Menschen, die Russland als ihr Mutterland betrachten und die wir als unser Volk betrachten. Dies ist eine komplexe Frage, die diskutiert werden muss.
Eine weitere Valdai-Frage an Putin lautete: Worin liegt Russlands "Größe"? Auch hier wich er der territorialen Frage aus:
Was Russlands Größe betrifft, so liegt sie derzeit in der Stärkung seiner Souveränität. Souveränität basiert auf Autarkie in den Bereichen Technologie, Finanzen, Wirtschaft im Allgemeinen, Verteidigung und Sicherheit.
Auf einer Sitzung der Gesellschaftlichen Kammer der Russischen Föderation am 3. November, drängte Wladimir Rogow, der Chef der Regionalregierung vom besetzten Saporischschja, Putin, sich für die Einnahme der gleichnamigen Provinzhauptstadt einzusetzen, die weiterhin unter ukrainischer Kontrolle steht:
Ich komme aus der Stadt Saporischschja, die derzeit von einer Bande von Drogensüchtigen und Nazis besetzt ist. Als andere Einheimische erfuhren, dass ich an einem Treffen mit Ihnen teilnehmen würde, wollten sie Ihnen mitteilen, dass die Stadt Saporischschja auf russische Truppen wartet. Die Einwohner von Saporischschja Saporoshje sagen: "Russen helfen Russen", und "Alles für die Front, alles für den Sieg".
Putin wollte sich nicht festlegen. Stattdessen wiederholte er seine bekannten Ansichten über die willkürliche historische Entstehung der modernen ukrainischen Grenzen und erinnerte seine Zuhörer daran, dass die Hauptursachen des Krieges die Verfolgung der ukrainischen Bürger russischer Abstammung und die Expansion der Nato in die Ukraine waren.
Mit Nachdruck fügte er hinzu, dass, wenn die Beziehungen zwischen Russland und der Ukraine "brüderlich" geblieben wären, es nicht nötig gewesen wäre, überhaupt etwas zu unternehmen, auch nicht in Bezug auf die Krim. Aber …
wir mussten die Menschen vor diesem Nazi-Abschaum schützen. Was hätten wir denn tun sollen? Man hat uns einfach eine Entscheidung aufgezwungen, bei der wir nichts anderes tun konnten, als uns für die dort lebenden Menschen einzusetzen. Das Gleiche geschah mit dem Donbass und mit Noworossija ["Neurussland", d.h. Cherson und Saporischschja]. Natürlich müssen wir alles tun, damit der Beitritt dieser Gebiete reibungslos und natürlich verläuft und die Menschen das Ergebnis so schnell wie möglich spüren.
Ein weiterer Lokalpolitiker, der Putin auf bestimmte territoriale Ziele verpflichten will, ist Wolodymyr Saldo, der Chef der von Russland besetzten Teile der Provinz Cherson. In einer Rede auf einer von Putins Partei "Einiges Russland" Ende November organisierten Konferenz zum Thema "Stolzes Russland" versprach er, dass die namensgebende Provinzhauptstadt von Cherson, aus der sich die russischen Streitkräfte ein Jahr zuvor zurückziehen mussten, definitiv wieder unter russische Kontrolle gelangen werde. Auf seinem Telegramm-Kanal ging er sogar noch weiter und schrieb:
Ich habe am Freitag mit dem Oberbefehlshaber [Putin] und mit dem Militär gesprochen – alle sind entschlossen, nach Cherson zurückzukehren. Wir werden unser Land befreien. Die nächsten werden Mykolajiw, Odessa und Ismajil sein.
Bislang gibt es keine Bestätigung des Kremls, dass Putin so etwas gesagt oder angedeutet hat oder dass die Militäroffensive die Einnahme oder Rückeroberung dieser Städte zum Ziel hat. Aller Wahrscheinlichkeit nach handelt es sich bei Saldos Behauptung um reines Wunschdenken, was nicht heißen soll, dass seine Träume unerfüllt bleiben werden.
Ausgehend von Putins erklärter Position könnten seine territorialen Ambitionen in der Ukraine recht begrenzt sein. Er könnte bereit sein, auf künftige Gebietsgewinne zugunsten von Friedenslösungen zu verzichten, die Russlands Sicherheit und das Wohlergehen der Mitbürger, die Teil der Ukraine bleiben, gewährleisten. Mit seiner Haltung "Sicherheit vor Territorium" hält er sich jedoch alle Optionen offen, einschließlich der Besetzung von weit mehr ukrainischem Territorium.
Je länger der Krieg andauert, je weiter die russischen Streitkräfte in die Ukraine vordringen, je mehr die ukrainische Verteidigung ins Wanken gerät, desto größer wird die Versuchung für Putin, auf die Sirenengesänge der sogenannten Turbo-Patrioten zu hören und so viel ukrainisches Territorium wie möglich zu erobern.
Der Artikel erscheint in Kooperation mit Brave New Europe. Hier geht es zur englischen Version des Artikels. Übersetzung: David Goeßmann.
Geoffrey Roberts ist emeritierter Professor für Geschichte am University College Cork, National University of Ireland und Mitglied der Royal Irish Academy. Derzeit ist er Senior Fellow am Polish Institute of Advanced Studies in Warschau. Er ist ein weltweit anerkannter Experte für Stalin, den Zweiten Weltkrieg und die Geschichte der sowjetischen und russischen Militär- und Außenpolitik. Roberts hat rund 30 Bücher veröffentlicht. Die Biographie von ihm, "Stalins General: The Life of Georgy Zhukov" (2012), wurde von der Society for Military History mit dem Distinguished Book Award ausgezeichnet. Sein neuestes Buch (mit Martin Folly und Oleg Rzheshevsky) ist "Churchill and Stalin: Comrades-in-Arms during the Second World War" (2019). Er ist Kolumnist beim The Irish Examiner und The Irish Times und trägt regelmäßig zu irischen, britischen und russischen Radio- und Fernsehsendungen bei. Roberts hat zahlreiche internationale Preise und Auszeichnungen erhalten.