Wir brauchen Grenzen, um sie zu überwinden
Grenzenlos bornierte Kommunikation?
Die "Lieblingsredensart" von Pastor Hirte, einem Lehrer des jungen Thomas Buddenbrook, lautete: "grenzenlos borniert!" Dem fügte Thomas Mann in seinem Roman (1901) über den Verfall einer Familie aber sofort augenzwinkernd hinzu: "Es ist niemals aufgeklärt worden, ob dies ein bewußter Scherz war." Dem Autor gelang mit dieser Wortkombination mehr als ein Scherz, vielmehr eine dialektische Erkenntnis von scheinbar Gegensätzlichem. Eingerahmt, aber auch eingeklemmt zwischen dem Polnischen und dem Französischen hat das Deutsche sowohl das Wort "Grenze" als auch das der "Borniertheit" als Lehnwörter übernommen. "Grenze" ist ein slawisches Lehnwort (polnisch granica) und kam in den kriegerischen Konflikten der deutschen Ordensritter mit der polnischen Bevölkerung um die Mitte des 13. Jahrhunderts in die deutsche Sprache - "Borniertheit" kommt aus dem Französischen. Dort heißt "borner" beschränken, mit einem Grenzstein versehen. Im übertragenen Sinne meint "borniert" abwertend engstirnig, eingebildet, unbelehrbar.
Grenzenlos bornierte Kommunikation? Grenzenlose bornierte Kommunikation? Engstirnige Kommunikation ohne Ende? Die Grenzen von Kommunikation? Lässt sich Kommunikation be- und eingrenzen? Grenzüberschreitung, Transzendenz, Entgrenzung, Überschreiten von Raum und Zeit? Sind Meere und Flüsse trennend oder verbindend?
Sieht man die neuen Medien unter historischer Perspektive, fragt man also nach dem jeweils neuen Moment der alten Medien, dann fallen gerade in bezug auf das Thema des Grenzüberschreitens vielfältige Gemeinsamkeiten auf. Hier sei nur auf eine Parallele zwischen den Funkamateuren in den zwanziger Jahren und Computer-Hackern der Gegenwart aufmerksam gemacht. 1922 gab es in den USA etwa 25 000 Radio- und Funkamateure, die in Eigenregie mehr als 30 Radiosender betrieben. Ihre Losung "Internationale Wellenfreiheit" stand für eine radikal-libertäre Sichtweise der ungeregelten und ungehinderten Techniknutzung durch jedermann. Sie waren die wesentliche soziale Pressure-group, die dem Radio zum offiziellen Durchbruch verhalf.
Der damaligen Forderung nach "Internationaler Wellenfreiheit" entspricht heute eine Hacker-Ethik mit ihrem Credo "Alle Informationen sollen frei und unbeschränkt sein". Diese Forderung aus den achtziger Jahren korrespondiert mit den grenzenlosen Visionen des Internet in den neunziger Jahren. Exemplarisch sei hier aus einigen Internet-Resolutionen zitiert: "There are no borders in cyberspace" (The Global Internet Liberty Campaign). "Im Informationszeitalter sollten die Grenzen durchlässiger, die Nationalstaaten weltoffener und die Computernetze grenzenlos werden" (Online Magna Charta).
Dass Kommunikation verbindet, eine Brücke zwischen den Völkern stiftet, Freundschaften herstellt oder gar friedensfördernd wirkt - all dies ist gängige (empirisch freilich kaum abgesicherte) Münze in Alltag und Politik, aber auch in der Medien- und Kommunikationswissenschaft. Ob Kommunikation solche sozialen Funktionen erfüllen kann, hängt jedoch von einer Vielzahl von Bedingungen ab.
Es ist in diesem Zusammenhang sinnvoll, zwischen den Begriffen Grenze und Kontur (ital. contorno, mit einer Linie einfassen) zu unterscheiden. Wenn es beim Über-Setzen von der einen Sprache in die andere, von einem Land ins andere, also um ein Grenz-Überschreiten geht, sowie darum, den anderen zu verstehen, dann können Grenzen sicherlich zunächst Barrieren darstellen. Grenzen sind dann wie Mauern; sie engen ein, sie isolieren, sie machen einsam, sie grenzen aus, sie schaffen Exklusivitäten. Medien-, Kultur- und Sprachgrenzen sollen und müssen aber überwunden werden; hier ginge es um internationalen und interkulturellen Austausch. In diesem Fall sind also Brücken über Grenzen nötig.
Allerdings gilt auch das Folgende: Wird der Brückenbau zu intensiv betrieben, wird die Brücke mit derartig viel Verkehr und Kommunikation belastet, dass es schon bald keinen Unterschied mehr zwischen den Partnern auf beiden Seiten der Brücke gibt - und trocknet im Laufe der Kommunikation vielleicht sogar der Fluss unter der Brücke aus und versickert -, dann verlieren letztlich beide Partner ihre Eigenart, ihre Identität - also ihre Kontur. Grenzüberschreitende Kommunikation wäre also nur dann als völkerverbindend und harmoniestiftend einzuordnen, wenn sie dabei unterschiedliche Identitäten als solche belässt. Denn wer ohne Identität ist, kann keine Brücken zum anderen bauen. Nur wer zu sich selbst sprechen kann, sich selber achtet, kann auch zum Anderen sprechen und seine Eigenart achten.
"Crossover" - so heißt der neueste Trend im Geschäft der Künste, in der Kunstindustrie, im Kommerz der Galerien, der Events und der musealen Vermarktung. Halb Übersetzung, halb Teppichknüpfen - halb Komponieren, halb Dichten: alles geht hinüber, fließt, legt sich nicht fest, ist flüchtig. Modegeil und auf die Exotik des ganz Anderen setzend, um der eigenen Langeweile hier zu entfliehen, sich aber seinen Kick in anderen Kulturen zu holen, hieß es beispielsweise bei den Bregenzer Festspielen von 1999 (gesponsert von BankAustria) "have fun - cross culture". Schon in den sechziger Jahren notierte Theodor W. Adorno, dass in der "jüngsten Entwicklung die Grenzen der Kunstgattungen ineinander fließen und dass sich Demarkationslinien verfransen". Issey Miyake (geb. 1938), weltweit gefeierter japanischer Künstler des "crossover", sieht in der Aufhebung und Überschreitung traditioneller Kunstgattungen "grenzenlose Freiheit" - er übersieht, dass die Kosten dieser Freiheit kulturelle Homogenisierung, Formalismus ohne Inhalt, Spielerei nicht als Un-Sinn, sondern als Adrenalin-Kick oder Event statt Konzeption sein können. Und bei aller Betonung von Stil, Design und Form waren Futurismus, Surrealismus und Dadaismus in den zwanziger Jahren alle Mal politischer und gesellschaftlich provokanter als das modisch gemanagte "crossover" der Gegenwart.
Dass Markt und Kapital keinerlei Grenzen kennen, ist eine Binsenweisheit jeglicher Betriebs- und Volkswirtschaft. Dass die ungehemmten Markt- und Kapitalkräfte freilich im Bereich von Kommunikation, Kultur, Alltag und Psyche Konturen zerstören und somit aggressives gesellschaftliches Potential freilegen, ist vielfach belegt. Die von den ökonomischen Strukturen ausgehenden Tendenzen der Homogenisierung lassen sich vielfältig beobachten. Als Zerstörung von Identität macht sich Homogenisierung gerade dort am intensivsten bemerkbar, wo die drei Dimensionen menschlicher Identität berührt werden, die am ehesten "natürlich" und am wenigsten "sozial konstruiert" sind: nämlich Alter, Geschlecht und Ethnizität; es sind zugleich auch die drei Dimensionen, die sich einer bewussten Veränderbarkeit entziehen.
In bezug auf die Dimension von Kindheit und Alter ging Neil Postman bei seiner Analyse von Fernsehstrukturen schon Anfang der achtziger Jahre davon aus, dass Kindheit als eine deutlich abgegrenzte Reifungsphase im Schwinden sei. Wenn Kinder über die Fernsehrezeption Zugang zu allen Informationsangeboten der Erwachsenen hätten, dann ginge Wesentliches der Kindheit verloren. Nicht zufällig ging es Postman schon damals um das Arkanum, also den Bereich des Geheimnisses und des Heimlich-Wundersamen. Seine These lautete, dass elektronische Medien Geheimnisse unmöglich machen, dass aber ohne Geheimnisse Kindheit nicht denkbar sei. Knapp zehn Jahre vorher hatte der Psychoanalytiker Bruno Bettelheim in seinen Märchenanalysen die gleiche Auffassung vertreten: Kinder brauchen eine Welt der Verzauberung und der Privatheit. Ohne eine solche Phase, ohne die Erfahrung eines solchen Bereiches könne es später keine autonome, erwachsene Persönlichkeit geben.
Zahlreich sind die außermedialen Belege für eine Flexibilisierung von Altersphasen in unserer Gesellschaft für eine altersunabhängige Ästhetik der Jugend - freilich ist eine oft begrüßenswerte Flexibilisierung mit Statusverunsicherung, Angst und Identitätskonflikten verbunden. Infantilisiert sich die Gesellschaft so, dass die Kleinen sich groß fühlen und die Großen kindisch (nicht: kindlich) werden, dann verschwimmen viele Konturen. So verweist z.B. der Bremer Psychologe Gerhard Amendt auf die verhängnisvollen Konsequenzen einer zunehmenden Akzeptanz von Pädophilie oder der "kumpanenhaften Infantilisierung" persönlicher Kommunikation auf der "Du-Du"-Ebene auch in hierarchischen Berufsbezügen. Amendt sieht hinter der Akzeptanz von Pädophilie und dem kumpelhaften Duzen ähnliche Kräfte und Tendenzen: Indem das Inzesttabu sowie das Scham- und Schuldgefühl gelockert werden, indem einem hedonistischen, unstrukturierten Sättigungsgewinn nicht nur das Wort geredet wird, brechen die unsere Wirklichkeit immer noch strukturierenden Konturen zusammen.
Was in bezug auf die Dimension des Alters entfaltet wurde, kann gleichermaßen bei den beiden Dimensionen Geschlecht und Ethnizität gezeigt werden. Wo immer mehr Kinder in einer Gesellschaft verfetten, wo Kinder heute 15% schwerer sind als noch vor einer Generation, wo kleine Jungen kleine Brüste bekommen und dieselbe Fettigkeit die Brüste der kleinen Mädchen nicht mehr sichtbar macht, da zeigen sich Trends zur Aufhebung geschlechtlicher Differenzen. Schon 1980 vermutete Philippe Ariès, dass wir auf dem Wege zu einer "eingeschlechtlichen Gesellschaft" seien. Der Einheitslook ist ohne Geschlechtergrenzen. Ob Leonardo DiCaprio, Matt Damon, Helen Nutt, Winona Ryder, Carolyn Murphy, Kate Moss oder Maggie Rizer: Sie sehen einander ähnlich wie Geschwister. Sie verkörpern perfekt das aktuelle Schönheitsideal - Gesichter mit fast kindlichen Zügen, weichen, vollen Lippen, kleinen Näschen, breiten Backenknochen, ausgeprägter Kinnpartie und ovalen, eher schmalen Mandelaugen. Das Einheitsmodell der Gegenwart hat eine männliche Gestalt, aber eine weibliche Psyche. Die Grenzen werden aufgehoben in Richtung auf Autoerotik, sei sie narzisstisch, sei sie hermaphroditisch - sicher ist, dass sie immer weniger dialogischer Natur ist.
Auch die Dimension Ethnizität, zumindest die in Europa, erlebt gegenwärtig einen radikalen Bedeutungswandel. In einem falschen Modernisierungsverständnis in der Folge von Max Weber wird Ethnizität immer mehr mit Tradition und Vormoderne assoziiert, während die Utopie einer multikulturellen Gesellschaft, also das Überwinden ethnischer Grenzen, als Ausweis von Moderne angesehen wird. Diese Argumentation verkennt die empirisch-historischen Ereignisse, denn gerade die zweihundertjährige Geschichte der europäischen Moderne zeigt, dass Ethnizität eine äußerst lebendige Variable eben dieser Moderne ist.
Die europäische Geschichte seit der französischen Revolution lässt sich nur dann adäquat begreifen, wenn man sieht, dass sie der friedliche, zumeist aber brutal-kriegerische Ablauf war, eine Deckungsgleichheit zwischen Ethnizität, Sprache, Kultur und Nation herzustellen. Wo diese Deckungsgleichheit nicht mit eindeutigen Mehrheiten herzustellen war, da blieb - wie auf dem Balkan - jedes Zusammenleben unterschiedlicher Ethnien äußerst fragil. Es ist gerade die europäische Moderne, die lehrt, dass solche Fragilitäten viel weniger durch ein Miteinander als durch ein Nebeneinander zu überwinden sind. Es waren und sind Grenzen, die Frieden in Europa geschaffen haben, nicht aber deren Aufhebung; es war und ist das ethnisch seit Kriegsende eindeutig zwischen Polen und Deutschland Trennende, das beiden Ländern nun eine Freundschaft ermöglicht, und ein multi-ethnisches Kosovo ist nach den Erfahrungen der europäischen Moderne nicht zu realisieren. Genauso wie Sarajevo nur in der Projektion metropolitaner Politiker aus Westeuropa als Beispielstadt eines friedlichen Multi-Kulti-Ideals funktionieren wird, in der Realität freilich ein Protektorat ist, genauso wenig wird es ein friedliches Kosovo ohne Zäune geben können. Genau wegen einer guten Nachbarschaft zwischen Serben und Kosovaren sind Zäune nötig. Wir brauchen Grenzen, um sie überwinden zu können.
Wo Konturen und Identitäten sich auflösen, wo Ungebundenheit vorherrscht, wo alle Zäune fehlen, da wird Kommunikation schwierig. "Communicare" heißt ursprünglich "gemeinsam machen", heißt "teilen", heißt "mit-teilen". Teilen, Kommunizieren bedeutet aber mehr als nur Aufmerksamkeit in bezug auf den anderen und dessen Belange. Kommunizieren ist nicht nur ein dialogisches Prinzip zwischen zwei Menschen, es bedeutet darüber hinaus "in die Existenz des anderen einzutreten", wie der dänische Philosoph und Theologe Sören Kierkegaard es einmal formuliert hat.
Kommunizieren heißt also auch auf den anderen einzuwirken, und das geht nur, wenn er als anderer wahrgenommen wird. Wer jedoch identitäts- und konturenlos ist, wer von sich selbst nicht weiß, wer er ist, der ist kommunikationsunfähig. Wer - wie etwa der Pop-Star Michael Jackson - sein Alter, sein Geschlecht und seine Ethnizität aufgegeben hat, der kommuniziert nicht mehr mit dem anderen - auch wenn all die Veränderungen der eigenen Identität nur diesem Zweck dienen sollen -, sondern nur noch mit sich selbst. Adelbert von Chamisso hat diesen Identitätsverlust, die Gefahr der Selbstentfremdung in seinem "Peter Schlemihl" (1814) - der Mann, der seinen Schatten verkaufte - eindrücklich geschildert.