Wir brauchen eine rationale Debatte über die Bedrohung durch Russland
Wird Moskau nach der Ukraine "nach Polen weiterziehen", wie Biden meint? Wohl kaum, meint unser Gastautor. Er sieht eine andere Gefahr.
Die Absichten eines potenziellen Gegners zu verstehen, ist eine der wichtigsten und zugleich schwierigsten Herausforderungen für jeden Außenpolitiker. Werden die aggressiven Absichten eines Staates unterschätzt, kann dies dazu führen, dass umsichtige Verteidigungsvorbereitungen unterlassen werden, die zur Abschreckung vor einem Krieg notwendig sind – wie dies im Vorfeld des Zweiten Weltkriegs der Fall war.
Eine Überschätzung kann zu einem Teufelskreis von immer bedrohlicheren militärischen Maßnahmen führen, die in einen von keiner Seite gewollten Konflikt münden – wie dies am Vorabend des Ersten Weltkriegs der Fall war.
Zwischen diesen beiden Extremen den goldenen Mittelweg zu finden, ist entscheidend im Umgang mit den Absichten Russlands gegenüber der Nato, die unlängst mit einem Gipfeltreffen in Washington ihr 75-jähriges Bestehen gefeiert hat.
Die richtige Balance zwischen Abschreckung und Diplomatie zu finden, ist angesichts des massiven russischen Atomwaffenarsenals besonders wichtig, da ein direkter Konflikt zwischen Russland und der Nato potenziell existenzielle Folgen haben könnte.
Nach der Rhetorik der Nato zu urteilen, ist ein solch sensibles Gleichgewicht jedoch nicht erforderlich: Die russische Herausforderung wird als moderne Wiederholung der Aggression Nazi-Deutschlands betrachtet.
Und die größte Gefahr für das Bündnis wird in der Versuchung gesehen, zu beschwichtigen und damit weitere russische Eroberungen zu fördern. Daher die jüngste Äußerung von US-Präsident Biden, wenn das russische Militär in der Ukraine nicht entschieden gestoppt werde, werde es "nach Polen und anderswo weiterziehen".
Hat Russland tatsächlich militärische Eroberungsabsichten gegen Nato-Staaten? Angesichts der Vorsicht, mit der Putin im Ukraine-Krieg bisher direkte Angriffe auf Nato-Mitglieder vermieden hat, kann man das getrost verneinen.
Und für diese Zurückhaltung gibt es einen sehr nachvollziehbaren Grund. Wie meine Kollegen Anatol Lieven sowie Mark Episkopos und ich in einem neuen Kurzbericht des Quincy-Instituts darlegen, muss man sich nicht allzu tiefgründig mit dem konventionellen militärischen Gleichgewicht zwischen Russland und der Nato befassen, um zu erkennen, dass das russische Militär in einem Krieg mit dem Nordatlantikpakt deutlich unterlegen wäre. Moskau hätte guten Grund zu der Annahme, dass ein Angriff auf ein einzelnes Nato-Mitglied schnell zu einem Konflikt mit dem Bündnis als Ganzes führen würde.
Wie es im Quincy-Papier heißt,
… ist die NATO Russland bei den aktiven Bodentruppen mehr als drei zu eins überlegen. ... Bei den Kampfflugzeugen hat das Bündnis einen Vorsprung von zehn zu eins und auch einen großen qualitativen Vorsprung, sodass die Möglichkeit einer totalen Luftüberlegenheit besteht. Auf See wäre die Nato wahrscheinlich in der Lage, eine Seeblockade gegen den russischen Schiffsverkehr zu verhängen, deren Kosten die derzeitigen Wirtschaftssanktionen in den Schatten stellen würden. Obwohl Russland einigen Nato-Staaten, insbesondere in den baltischen Staaten, eindeutig überlegen ist, ist es äußerst unwahrscheinlich, dass es diesen Vorteil nutzen könnte, ohne einen größeren Krieg mit dem gesamten Bündnis auszulösen.
Diese Einschätzung basiert auf mehr als nur einem einfachen Vergleich der Gefechtsordnung zwischen russischen und westlichen Streitkräften.
In den realen Kämpfen haben die Russen große Anstrengungen unternommen, um eine weitaus weniger beeindruckende ukrainische Armee zu unterwerfen, und das unter ungleich günstigeren Bedingungen als in einem Krieg mit der Nato.
Denn in einem solchen Konflikt hätten sie längere Nachschubwege, weniger Kenntnisse des Geländes und den örtlichen Gegebenheiten sowie einen entscheidenden Nachteil bei der Militärtechnologie, insbesondere bei den Luft- und Seestreitkräften.
Wenn man sich vorstellt, dass Russland einen Krieg mit der Nato beginnen würde, obwohl es sich als wenig fähig erwiesen hat, den größten Teil des ukrainischen Territoriums zu erobern, geschweige denn zu besetzen und zu regieren, dann muss man dem Kreml ein Maß an Irrationalität unterstellen, das weit über das hinausgeht, was er bisher an den Tag gelegt hat.
Diese Analyse deckt sich auch mit der russischen Rhetorik. Moskau hat wiederholt bestritten, dass es Pläne hat, Nato-Gebiete anzugreifen, und es gibt auch keinen vermeintlichen Grund, dies zu tun. Im Gegensatz zur Ukraine, die seit Langem als zentral für die russische Geschichte und Kultur betrachtet wird und in der Moskau seit geraumer Zeit die Möglichkeit einer militärischen Präsenz der Nato fürchtet.
"Russland hat keinen Grund, kein Interesse – kein geopolitisches, kein wirtschaftliches, kein politisches, kein militärisches – mit Nato-Staaten zu kämpfen", sagte Putin Ende 2023.
"Ihre Behauptungen über unsere angebliche Absicht, Europa nach der Ukraine anzugreifen, sind blanker Unsinn", erklärte er Anfang 2024.
Die These, Russland habe wahrscheinlich weder einen Grund noch die Fähigkeit, in einen Nato-Staat einzumarschieren, bedeutet jedoch nicht, dass die Gefahr eines Krieges zwischen Russland und dem Westen unbedeutend wäre. Das Gegenteil ist der Fall.
Die konventionelle militärische Unterlegenheit Russlands wird wahrscheinlich dazu führen, dass es sich stärker auf sein Nukleararsenal verlässt, um der wahrgenommenen Bedrohung durch die Nato zu begegnen, wodurch die Sicherheit des Kontinents zum ersten Mal seit Inkrafttreten des Vertrags über nukleare Mittelstreckenwaffen Mitte der 1980er-Jahre auf dem Spiel stünde.
Ferner gibt es in Europa eine Reihe potenzieller Kriegsschauplätze, an denen eine neue Krise zwischen Russland und dem Westen ausbrechen könnte, darunter Belarus, die Republik Moldau, der Balkan, Georgien und Kaliningrad.
Die starke militärische Abschreckung der Nato kann Europa nur dann Stabilität bringen, wenn sie mit diplomatischen Bemühungen einhergeht, eine für beide Seiten akzeptable Lösung in der Ukraine zu finden und Regeln wiederherzustellen, die dazu beitragen, neue Krisen zu vermeiden oder zu bewältigen. Ziel wäre auch, zu verhindern, dass die Spannungen zwischen Russland und der Nato außer Kontrolle geraten.
Anderenfalls müssen wir zwar keine neue Teilung Europas noch eine bewusste russische Invasion in einen Nato-Staat fürchten. Wohl aber, wie wir in unserer Analyse darlegen, eine neue Periode erheblicher Instabilität in Europa: Es drohte …
… eine erneut nukleare und unberechenbare hybride Konfrontation zwischen einem Westen, der weniger geeint und selbstbewusst ist, als es den Anschein hat, und einem Russland, das diese Konfrontation als existenziell betrachtet und daher Anreize haben wird, die internen Schwächen des Westens auszunutzen und zu verschärfen.
Um dies zu verhindern, sollten sich die Staats- und Regierungschefs der Nato weniger Sorgen darüber machen, ob sie die Fehler Neville Chamberlains wiederholen wollen. Und, warum die europäischen Staats- und Regierungschefs schlafwandlerisch in den Ersten Weltkrieg hineingezogen worden sind.
George Beebe verbrachte mehr als zwei Jahrzehnte in der Regierung als Geheimdienstanalyst, Diplomat und politischer Berater, unter anderem als Leiter der Russland-Analyse der CIA und als Berater von Vizepräsident Cheney in Russland-Fragen. Er ist Autor von "The Russia Trap: How Our Shadow War with Russia Could Spiral into Nuclear Catastrophe" (2019).
Dieser Beitrag erschien zuerst auf Englisch bei unserer US-Partnerredaktion Responsible Statecraft