Wird Migranten-Gewalt in Deutschland unter Tabu gestellt?

Am "Kotti" soll eine Polizeiwache im Zentrum Berlin-Kreuzbergs eingerichtet werden. Foto: Matthias Coers

Die Angriffe auf Rettungskräfte in der Silvesternacht haben eine Empörungswelle ausgelöst. Im Fokus: Gewalt mit Migrationshintergrund. Es ist ein gefährlicher Mythos, den Politik und Medien erneut vorantreiben. Eine Einordnung.

Nach den Böller-Unfällen in der Silvesternacht, insbesondere dem Beschuss von Rettungskräften in Berlin, ist eine breite Debatte in Deutschland ausgelöst worden, nicht nur über ein Böllerverbot, sondern auch über gescheiterte Integration von Zuwanderern und eine offene Berichterstattung über Migrantengewalt.

Während sich die ersten Medienmeldungen noch auf die Silvester-Vorfälle im allgemeinen konzentrierten, wurde die Debatte im Verlauf schnell fokussiert auf den Berliner Krawall. Dabei ging es weniger um den Beschuss an sich, sondern hauptsächlich um die Täter, insbesondere ihre Herkunft.

Die Polizei listete schließlich die Nationalitäten bzw. die Staatsbürgerschaft der einzelnen Verdächtigen penibel auf. Danach sollen unter den insgesamt 145 vorübergehend festgenommenen Personen 18 Nationalitäten und 45 deutsche Staatsbürger festgestellt worden sein.

Bundesinnenmnisterin Nancy Faeser (SPD) forderte von der Politik, klar zu benennen, was Sache ist:

Wir haben in deutschen Großstädten ein Problem mit bestimmten jungen Männern mit Migrationshintergrund, die unseren Staat verachten, Gewalttaten begehen und mit Bildungs- und Integrationsprogrammen kaum erreicht werden.

Es folgten die fast schon erwartbaren Reaktionen von Konservativen und Rechten, die die Skandalisierung, wie es Hanno Hauenstein von der Berliner Zeitung nennt, für "xenophobe und teils offen rassistische Polemik" nutzten. So wurde von Politiker:innen der CDU/CSU, FDP und der AfD eine Ressentiment geladene Generaldebatte über Zuwanderung gestartet, bevor es überhaupt konkrete Angaben zu den Verdächtigen gab. Man übersah dabei geflissentlich, dass der Berliner Lagebericht des Vorjahres bei 88.600 Übergriffen etwa 70 Prozent deutsche Staatsbürger als Verdächtige erfasste.

Mit Blick auf die vermeintliche Herkunft der Täter, ihres Migrationshintergrunds, wurde von einem "asozialen Mob", "kultureller Überfremdung", "kompletten Parallelgesellschaften", "ungeregelter Migration" oder "fehlendem Respekt vor dem Staat" gesprochen. Der CDU-Abgeordnete Christoph de Vries mahnte an, dass man jetzt auch über "die Rolle von Personen, Phänotypus: westasiatisch, dunklerer Hauttyp sprechen" müsse.

Man hätte sich auch, wie Telepolis-Autor Peter Nowak schreibt, auf den Fakt konzentrieren können, dass es fast ausschließlich Männer gewesen sind – wie bei anderen Böller-Eskapaden auch. Ausgeblendet wurden auch die vielfältigen Diskriminierungserfahrungen und die Perspektivlosigkeit frustrierter Jugendlicher und Zuwanderergruppen in abgehängten, sozial unterversorgten Stadtvierteln, die Treiber von solchen Straftaten sind. Damit ist nichts gerechtfertigt. Doch es macht klar, dass nicht Migrant-Sein zu Übergriffen führt.

Und was Respektlosigkeit gegenüber "unserem Staat" und toxische Männlichkeit angeht: "Biodeutsche" Neonazis, Rechtsradikale, Rassisten, Reichsbürger, Corona-Leugner oder auch AfD-Abgeordnete zeigen mit aller Deutlichkeit, dass Verachtung von staatlichen Ordnungskräften kein Migrantenproblem ist. In Umfragen zeigt sich sogar, dass Flüchtlinge im Vergleich zur Mehrheitsgesellschaft ein genauso hohes Vertrauen in die Demokratie besitzen.

Sicherlich kamen auch vereinzelt mahnende Stimmen in einigen Medien zu Wort, die zu Mäßigung aufriefen und versuchten, gegen den sich ausbreitenden Generalverdacht zu argumentierten. Doch diese Einwände wirkten angesichts der losgetretenen nationalen Empörungswelle, mit der die Skandalisierung der "Migranten-Krawalle" in Berliner Brennpunkt-Vierteln immer weiter vorangetrieben wurde, hilflos und verzweifelt.

Die Debatte um Migranten (sprich: Araber, Afrikaner und Muslime) als Straftäter, Kriminelle, Staatsgefährder, aber auch Vergewaltiger und Integrationsunwillige, die mit ihrem Machotum und der Unterdrückung von Frauen Parallelgesellschaften erzeugen, ist nicht neu und schon gar nicht auf Deutschland begrenzt. In allen westlichen Staaten findet sie statt. Sie ist nicht zuletzt eine Begleiterscheinung der neoliberalen Atomisierung der Gesellschaft, die ständig nach neuen Sündenböcken für durchaus legitimen Frust sucht.

Einen starken Auftrieb haben Araber- und Muslimen-Diffamierungen seit den Anschlägen vom 11. September 2001 in den USA bekommen. Die Bush-Regierung rief im Anschluss daran zu einem Kreuzzug, einem Krieg gegen den Terrorismus auf. Die USA überfielen mit Unterstützung von Nato-Staaten eine Reihe von arabisch und muslimisch geprägten Ländern, besetzten sie über zwei Jahrzehnte, was ganze Regionen verwüstete, Bürgerkriege auslöste und schon in den ersten 12 Jahren über eine Million Menschen tötete.

Gleichzeitig wurden Muslime und Araber in westlichen Ländern zunehmend an den Pranger gestellt. Das gipfelte schließlich in Trumps Formulierung für afrikanische und andere ärmere Länder als "Arschlochstaaten" und dem Einreiseverbot für Muslime in die USA.

Studien belegen zudem, wie in den USA und Europa Muslime und Muslima sowie Araber:innen und Afrikaner:innen vielfältig und weitreichend diskriminiert werden, von Behörden bis zur Polizei, und in der Öffentlichkeit überwiegend als "Problem", "Problemmenschen" und "Störer der gesellschaftlichen Ordnung" dargestellt werden.

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