Böller-Exzesse: Patriarchatskritik statt Ethnisierung!
Debatte um Böllerverbot könnte Dauerthema um Silvester werden. Rechte, die ein Verbot ablehnen, schieben das Fehlverhalten auf Migranten. Dabei fällt vor allem der übergroße Männeranteil auf. Hinzu kommt ein Klassenaspekt.
Am Jahresanfang ist noch wenig los, schlechte Zeit also für Medien, könnte man denken. Doch nun könnte die Böllerdebatte etwas Leben in die winterliche Sauregurkenzeit bringen. Jetzt wird Anfang Januar in verschiedenen Zeitungen über das Pro und Kontra eines Böllerverbots diskutiert, im Deutschlandfunk spielte das Thema in der Sendung "Kontrovers" eine wichtige Rolle.
Anlass waren Angriff auf Einsatz- und Rettungskräfte mit Pyrotechnik in der Silvesternacht. In einer zweiten Pressemitteilung ging die Berliner Polizei noch einmal auf die Vorfälle ein.
Schnell zeichnete sich ab, dass daraus eine Law-and-Order-Debatte wird. Das wurde bei der Kontrovers-Debatte im Deutschlandfunk am 2. Januar deutlich. Dort sollte es zunächst um die allgemeine Frage gehen "2023 – Was kommt auf Deutschland zu?" Die Böllerdebatte wurde dann aus aktuellen Anlass eingeschoben. Schnell hatte man den Eindruck, das hier ein Teil der eingeladenen Gäste, aber auch viele Hörerinnen und Hörer einen Diskurs pflegten, der auch an die AfD anschlussfähig ist.
Da wurde lamentiert, dass man in Deutschland die Nationalität der Beschuldigten nicht mehr sagen könne, dass oft weggeschaut werde, wenn Migranten an Straftaten beteiligt seien – und dass wieder einmal Deutsche, die nur friedlich feiern wollen, die Leidtragenden seien, wenn es dann zum Böllerverbot komme.
Erst "deutsches Brauchtum", dann "neudeutsche" Unsitte?
Das ist auch die Argumentation von AfD und anderer rechter Gruppen, die von einer "neudeutschen Jahresbegrüßung" sprachen. Sie nahmen damit die übliche Ethnisierung vor, um Menschen, die überwiegend in Deutschland geboren wurden und oft auch die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen, aus dem Land auszugrenzen.
Dabei hatte gerade die AfD betont, dass Böllern zum "deutschen Brauchtum" gehöre, als es Ende 2021 unterbunden werden sollte, um die Kliniken zu entlasten. Sobald es nicht zuletzt alkoholbedingt aus dem Ruder läuft, will man dann aber nichts mehr damit zu tun haben.
Nun wird ein mögliches Böllerverbot als zusätzliche Bestrafung der "Altdeutschen" skandalisiert, um die Ethnisierung noch weiter voranzutreiben. Auch Unionspolitiker haben sich in diesem Sinne geäußert. Kritikerinnen und Kritiker, die die Debatte darauf zu lenken versuchen, dass an den Bölleraktionen in der großen Mehrheit Männer beteiligt sind, haben es schwer, gehört zu werden. Unter den 103 Tatverdächtigen, die in der Silvesternacht in Berlin vor allem wegen Angriffen mit Pyrotechnik festgenommen wurden, waren nur fünf Frauen.
Die Debatte erinnert an eine ähnliche Ethnisierung, die nach der berühmt-berüchtigten Kölner Silvesternacht 2016 erfolgte und wesentlich zum Aufstieg der AfD beigetragen hat. Damals hatte es eine feministische Kritik schwer, die betonte, dass bei der Gewalt gegen Frauen Männer die Täter sind, unabhängig von ihrer Nationalität. Aktuell versuchen auch linke und feministische Kreise, den Aspekt des klassischen "Mackerverhaltens" beim exzessiven Böllern zu thematisieren.
Die Nationalität ist nicht das entschiedene Kriterium. Viele setzen sich daher auch für ein generelles Verbot des Böllerns ein, was Union und AfD ablehnen. Sie haben es leicht, die Grünen vorzuführen, weil die ja bereits vor Monaten ein Böllerverbot vor Silvester gefordert hatten, damals aus Umwelt- und Gesundheitsgründen.
Kriminalisiert ein Böllerverbot die Armen?
Auch in linken und linksliberalen Kreisen wird ein Böllerverbot seit Jahren kontrovers diskutiert. Das außerparlamentarische linke Netzwerk A3w Saar hat sich immer mit guten Argumenten gegen die christliche "Kampagne Brot statt Böller" gewandt. Sie sahen darin eine genuss- und lustfeindliche Verzichtskampagne.
Dabei sieht Alex Feuerherdt von A3WSaar auch eine Klassenkomponente:
Der Verbots - Aufruf misst mit doppelten Standards, da er zwischen guten und bösen Feuerwerken unterscheidet. Die Kritik am Feuerwerk setzt erst dann ein, wenn ‚die breite Masse‘ an Silvester Raketen zündet", so Feuerherdt. Nicht kritisiert werden die Feuerwerke der Besserbetuchten, beispielsweise nach Klassik-Open-Air-Konzerten oder das Feuerwerk bei der offiziellen Feier am Vorabend des Jahrestages der französischen Revolution in Saarbrücken. Dort und bei gestalteten Feuerwerken wie "Rhein in Flammen" und der Heidelberger Schloss.
Alex Feuerherdt, A3 W Saar
Böllerverbot als Klassenfrage
Auch der Publizist Oliver David sieht in einem Essay in der taz in der Diskussion um das Böllerverbot eine Klassenfrage. Die Attraktivität des Böllerns für arme Menschen erklärt sich David so:
Das Geld langt vorne und hinten nicht, aber wenigstens an ein oder zwei Tagen im Jahr möchte ich die Realität, in der ich als Verlierer gebrandmarkt werde, vergessen und so feiern, als wäre ich der König der Welt.
Oliver David, taz
Der Autor kritisiert die Verbotsbefürworter scharf:
So hehr die Absichten hinter linksliberaler Kumpanei mit der Polizeigewerkschaft auch sein mögen: Wer ein Böllerverbot fordert, der ruft nach Kriminalisierung. Denn wo etwas verboten wird, da muss das Verbot umgesetzt werden. Zuständig dafür ist die Polizei, die genau dazu gegründet wurde – zur Sanktionierung armer Menschen. In Hamburg und Berlin (dort in Koalition mit der Linken) wird diese Kontinuität unter rot-grünen Landesregierungen auch diesen Silvester fortgesetzt, wenn migrantische Jugendliche durch ihre Viertel gejagt werden. Das ist weder progressiv noch links.
Oliver David, taz
Oliver Davids Text war vor der aktuellen Verbotsdebatte fertig. Es wird sich zeigen, wie lange sie sich hält. Doch klar ist, dass sie wohl künftig den Jahreswechsel begleiten wird. Es wird wohl auf Verschärfungen hinauslaufen, aber sicher nicht sofort zu einen Totalverbot kommen. Wahrscheinlich werden die Verbotszonen in den Großstädten ausgeweitet, die ja in Berlin schon in einigen Berichten existieren und laut Polizeibericht auch eingehalten wurden.