Mit Böller-Proletkult gegen Law-and-Order-Rassismus?
Die Debatte nach der Berliner Silvesternacht hat mehrere Ebenen. Eine Ausweitung von Böller-Verbotszonen könnte Diskriminierung fördern. Ein bundesweites Böller-Verkaufsverbot eher nicht.
Die Debatte um Böllerangriffe auf Menschen, vor allem Rettungskräfte und Polizeibeamte, in der Silvesternacht sowie mögliche Konsequenzen geht weiter. Nachdem die Gewerkschaft der Polizei (GdP) ein bundeseinheitliches Böllerverbot gefordert hat, um "die Verfügbarkeit von legalem Feuerwerk einzuschränken", fokussieren sich Politiker und Medien auf bestimmte Personengruppen.
Berlins Regierende Bürgermeisterin (SPD) Franziska Giffey will einen Gipfel gegen "Jugendgewalt" veranstalten. Als Antwort auf die "massive Respektlosigkeit" und die Gewalt brauche es einen "Mix aus ausgestreckter Hand und Stopp-Signal", sagte sie am Mittwoch im rbb24 Inforadio. Straftaten müssten konsequent und schnell geahndet werden, so Giffey.
Sie erinnerte an das "Neuköllner Modell" der Jugendrichterin Kirsten Heisig († 2010), die sich für das Prinzip der zeitnahen Bestrafung von jugendlichen Delinquenten und "Intensivtätern" eingesetzt hatte.
Dafür sprach jenseits vom reinen Law-and-Order-Diskurs zumindest ein Argument: Jugendliche können sich relativ schnell weiterentwickeln und sollten nicht ein Jahr nach der Tat bestraft werden, wenn sie vielleicht schon von sich aus aufgehört haben, "Scheiße zu bauen", um sich auf eine gerade begonnene Ausbildung zu konzentrieren. Eine solche Entwicklung durch späte Strafen zu sabotieren, ist das Gegenteil von Resozialisierung.
Es wahlkämpfet sehr
Aber solche Feinheiten gehen aktuell in der Debatte weitgehend unter. Es ist schließlich auch Wahlkampf in Berlin, da am 12. Februar wegen diverser Pannen die Abgeordnetenhauswahl vom September 2021 wiederholt werden muss.
Von rechts kritisiert wird Giffey dafür, dass sie nicht die ethnische Herkunft der überwiegend männlichen Tatverdächtigen in den Mittelpunkt stellt. In der Hauptstadt wurden in diesem Zusammenhang insgesamt 145 Personen vorübergehend festgenommen. Die Polizei hat inzwischen deren Staatsbürgerschaft beziehungsweise Nationalitäten öffentlich aufgeschlüsselt.
Insgesamt wurden 18 verschiedene Nationalitäten erfasst, 45 Verdächtige sind demnach deutsche Staatsbürger. Bundesinnenmnisterin Nancy Faeser (SPD) erklärte dazu am Mittwoch, "gute Politik" müsse "klar benennen, was ist: Wir haben in deutschen Großstädten ein Problem mit bestimmten jungen Männern mit Migrationshintergrund, die unseren Staat verachten, Gewalttaten begehen und mit Bildungs- und Integrationsprogrammen kaum erreicht werden". Ein bundesweites Böller-Verkaufsverbot, wie es die GdP empfiehlt, lehnt Faeser allerdings ab.
Die AfD, die ebenfalls Böllerverbote ablehnt und in der Vergangenheit sogar betonte, dass Böller an Silvester zum "deutschen Brauchtum" gehören, hatte ohnehin sofort Schuldige ausgemacht, nachdem die Knallerei aus dem Ruder gelaufen war: "Einreiseverbot statt Böllerverbot" forderte sie am Dienstag.
Mackerhaft oder einfach "proletarisch"?
Linke sind sich nur in der Ablehnung rassistischer Hetze in diesem Zusammenhang weitgehend einig – nicht aber in der Frage, ob die Vorfälle selbst halb so wild waren; und erst recht nicht darüber, ob und in welcher Form ein Böllerverbot zu begrüßen wäre. Manche warnen in diesem Zusammenhang fast ausschließlich vor Repression, halten das Böllern für einen Teil der "proletarischen Feierkultur" – wie etwa Jörg Wimalasena in der taz – und die Abneigung dagegen für klein- oder großbürgerliche Arroganz.
Dabei wird ausgeblendet, dass auch in ärmeren Stadtteilen Menschen leben, die nicht gut darauf zu sprechen sind – gerade weil sie sich nicht leisten können, in der Silvesternacht mit dem Taxi nach Hause zu fahren, sondern zu Fuß durch Straßenzüge müssen, in denen Pyrotechnik auch einfach mal aus dem Fenster geworfen wird, oder sogar "zum Spaß" gezielt in Richtung von Personen.
Wer deshalb als Teil der lohnabhängigen Klasse eine Abneigung gegen das Böllern an sich entwickelt, hat nach dieser Logik eben zu wenig Klassenbewusstsein und soll sich mal nicht so haben. Diese Sicht hat aber einen unappetitlich sozialdarwinistischen Touch: Wer zu empfindlich für ein etwas raueres Klima in ärmeren Vierteln ist, aber kein Geld hat, dort wegzuziehen, gehört eben nirgendwo hin.
Sebastian Friedrich unterstellt im Freitag pauschal, wer über Böllerverbote sinniere, wolle von den Klassenverhältnissen nichts wissen.
Aber Klassensolidarität schließt auch ein Mindestmaß an Rücksichtnahme ein – sie kann nicht nur darin bestehen, jedes antisoziale Verhalten zu decken, es grundsätzlich okay zu finden, wenn auch stark alkoholisierte Personen mit Feuerwerk hantieren und auf keinen Fall die Polizei zu rufen, wenn mindestens fahrlässige Körperverletzung im Raum steht.
Im gemeinsamen Klasseninteresse sind andere Dinge als Böller
Zahlreiche Linke – nicht nur die Berliner Regierungslinken – fänden zumindest ein bundesweites Böller-Verkaufsverbot sinnvoll. Auch außerparlamentarische Linke sehen das zum Teil so, weil sie es leid sind, Schlagworte wie "Freiheit" und "Eigenverantwortung" immer wieder im Zusammenhang mit Rücksichtslosigkeit, Umweltverschmutzung und Mackerverhalten zu hören.
Daraus einen Proletkult zu machen, beleidigt große Teile einer in Wirklichkeit sehr diversen Klasse, deren gemeinsame Interessen eher faire Löhne und bezahlbares Wohnen sind als eine bestimmte "Feierkultur".
Ein Konsens unter Linken ist vielleicht zu erzielen, wenn es darum geht, ob es in Großstädten wie Berlin oder Hamburg mehr "Verbotszonen" geben sollte. Letzteres wäre tatsächlich eine Steilvorlage für erhöhte Polizeipräsenz und potenziell diskriminierende Personenkontrollen. Außerdem wäre damit absehbar, dass es außerhalb der Verbotszonen umso schlimmer wird.
Wer dort wohnt und nicht drauf steht, hat dann Pech gehabt. Die Reichenviertel dürften verschont bleiben und ärmere Menschen von ihnen ferngehalten werden. Die Befürchtung, dass Menschen mit nicht ganz heller Haut dann bis auf die Unterhose durchsucht würden, wenn sie in "besseren" Gegenden Silvester feiern wollen, ist nicht aus der Luft gegriffen, sondern basiert auf den Erfahrungen Betroffener von Rassismus.
Ein bundesweites Böller-Verkaufsverbot hätte aber dieses Diskriminierungspotenzial nicht.