Wird der Nato-Gipfel einen unendlichen Krieg in Europa eröffnen?

Nato-Verteidigungsministerkonferenz im Hauptquartier in Brüssel, 15. Februar 2023. Bild: U.S. Secretary of Defense / CC BY 2.0

Der Druck wächst, der Ukraine in Vilnius eine Beitrittsperspektive zu geben. Hardliner und einige osteuropäische Staaten wollen ein klares Zeichen. Warum das keine gute Idee ist.

In einem Artikel der New York Times wird erklärt, dass auf Biden Druck ausgeübt wird, auf dem Nato-Gipfel in Vilnius am 11. und 12. Juli einen Zeitplan für die ukrainische Nato-Mitgliedschaft bekannt zu geben.

David Sacks ist US-Unternehmer, Investor in Internettechnologiefirmen und Publizist.

Angeblich ist Biden mit seiner Zurückhaltung bezüglich eines Zeitplans unter den Nato-Verbündeten "isoliert", obwohl diese Behauptung durch den letzten Absatz des Artikels selbst widerlegt wird (jener Absatz also, von dem Noam Chomsky einmal sagte, man solle ihn zuerst lesen), in dem eingeräumt wird, dass "andere leiser argumentieren", dass die Nato-Mitgliedschaft "Putin mehr Anreize geben könnte, den Krieg fortzusetzen oder ihn zu eskalieren".

Da Moskau die Nato-Mitgliedschaft der Ukraine bereits als völlig inakzeptabel und existenzielle Bedrohung bezeichnet hat – und ihre Verhinderung eines der russischen Hauptkriegsziele ist –, würde eine Erklärung in Vilnius, wonach die Ukraine der Nato beitreten wird, wenn der Krieg zu Ende ist, effektiv dafür sorgen, dass der Krieg für immer weitergeht.

Damit wäre auch das zentrale Druckmittel des Westens zur Erreichung des Friedens, nämlich eine neutrale Ukraine, vom Tisch.

Es ist klar, dass der "Druck" auf Biden von Selenskyj und einigen der östlichen Nato-Staaten, insbesondere Polen und den baltischen Ländern, ausgeht. Selenskyj sagte vor zwei Wochen, dass die Ukraine nicht einmal am Gipfel von Vilnius teilnehmen würde, wenn sie nicht ein klares Signal zu ihrer letztendlichen Mitgliedschaft erhält.

Der ehemalige Nato-Generalsekretär Anders Rasmussen, jetzt Berater von Selenskyj, drohte sogar damit, dass, "wenn sich die Nato nicht auf einen klaren Weg für die Ukraine einigen kann, die Möglichkeit besteht, dass einige Länder einzeln Maßnahmen ergreifen". Vor allem "die Polen würden ernsthaft in Erwägung ziehen, einzugreifen", was einen direkten Krieg zwischen der Nato und Russland auslösen würde.

In dem Times-Artikel wird angedeutet, dass der derzeitige Generalsekretär Jens Stoltenberg mit den Hardlinern übereinstimmt, was die Notwendigkeit eines konkreten Zeitplans für die Aufnahme der Ukraine in die Nato angeht. Er machte aber während seiner Rede bei einem Treffen mit Präsident Biden Mitte Juni keine derartigen Zusagen.

Stoltenberg und die Nato erklärten, dass in Vilnius kein konkreter Zeitplan für die Nato-Mitgliedschaft der Ukraine auf der Tagesordnung stehen würde. Er wiederholte seine Äußerungen vom April, wonach "die Zukunft der Ukraine in der Nato liegt", und fügte hinzu, die Mitgliedstaaten würden sich auf ein "mehrjähriges Programm" einigen, um der Ukraine zu helfen, "gänzlich mit der Nato zusammenarbeiten zu können". Er wollte sich aber nicht auf konkrete Daten festlegen.

Offensichtlich sind es Selenskyj und seine Verbündeten entlang der russischen Grenze, die "isoliert" sind, und nicht Präsident Biden.

Was auch immer Stoltenbergs persönliche Ansichten sein mögen, er weiß, dass die Nato in der Frage der Aufnahme der Ukraine in naher Zukunft gespalten ist. Sogar die New York Times nennt drei Länder – Deutschland, Ungarn und die Türkei –, deren Staatsoberhäupter eine Mitgliedschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt definitiv ablehnen würden.

Viele weitere Staats- und Regierungschefs haben privat ihre Besorgnis geäußert, und Biden scheint, was ihm hoch anzurechnen ist, einer von ihnen zu sein.

Auch wenn sein Verhalten und seine Rhetorik insgesamt sehr aggressiv waren (und ich behaupte nach wie vor, dass er diesen Krieg mit besserer Diplomatie in den Monaten vor dem Krieg hätte vermeiden können), so war Biden doch bewundernswert konsequent in seinem Wunsch, Amerika nicht in einen direkten Krieg mit Russland zu stürzen.

Die Drohungen von Rasmussen machen deutlich, wie leicht ein Stellvertreterkrieg in einem Bündnis, in dem alle Mitglieder zur militärischen Verteidigung eines Mitglieds verpflichtet sind, zu einem echten Krieg werden kann.

Israel-Status und Lockvogel-Strategie

Das US-amerikanische Volk könnte sich fragen, ob es klug ist, neue Garantien nach Artikel 5 zu vergeben, wenn Leute wie Rasmussen die bestehenden nutzen können, um die Vereinigten Staaten zu rücksichtslosem Handeln zu erpressen.

Polnische oder ukrainische Interessen sollten nicht die USA in den Dritten Weltkrieg drängen.

Anstatt der Ukraine die Sicherheitsgarantien zu geben, die die Nato-Mitgliedschaft bietet, haben einige in Bidens außenpolitischem Umfeld, wie Außenminister Antony Blinken, eine andere Idee vorangetrieben, nämlich der Ukraine den "Israel-Status" zu geben.

Dieser besteht aus langfristigen Sicherheitsgarantien (die im Falle Israels für zehn Jahre gelten), einschließlich Waffen, Munition und Geld, "die nicht vom Schicksal der aktuellen Gegenoffensive oder dem Wahlkalender abhängen". Mit anderen Worten: Die Vereinigten Staaten werden ihre Unterstützung nicht neu bewerten, selbst wenn die Gegenoffensive scheitert.

Also soll die Unterstützung selbst dann nicht aufhören, wenn jene nervigen Wähler in den USA ihre Meinung ändern. Bidens Krieg für die Demokratie ist scheinbar zu wichtig, um ihn von Wahlen abhängig zu machen.

Dazu kommt die klassische Lockangebotsstrategie. Letztes Jahr, nachdem die Ukraine die Gebiete um Charkiw und Cherson zurückerobert hatte, wurde den US-Bürgern zugesichert, dass die Ukrainer die Aufgabe im Frühjahr und Sommer 2023 abschließen würden.

Die ukrainische Gegenoffensive würde die russischen Gebietsgewinne zunichtemachen, vielleicht sogar die russische Stellung auf der Krim bedrohen und damit Moskau an den Verhandlungstisch zwingen und den Krieg beenden. Viele US-Amerikaner unterstützten auf dieser Grundlage die Bereitstellung von Mitteln in Höhe von über 100 Milliarden Dollar für die Ukraine.

Das implizite Versprechen war, dass es sich dabei um eine einmalige Ausgabe handele und nicht eine jährliche Mittelzuweisung in einem neuen ewigen Krieg.

Der schwierige Start der Gegenoffensive und der Vorschlag einer mehrjährigen Vereinbarung beim Gipfel in Vilnius machen deutlich, dass es eine Lüge bzw. ein Hirngespinst gewesen ist. Aber ist das nicht immer so?

Die Regierungen locken uns mit dem Versprechen eines schnellen und einfachen Siegs in den Krieg und sagen uns dann, wenn wir erst einmal mittendrin sind, dass wir uns nicht zurückziehen können, egal, was es kostet, weil die Glaubwürdigkeit der USA auf dem Spiel steht.

Es ist wie in Vietnam, Afghanistan oder Irak, nur diesmal mit einem nuklear bewaffneten Gegner, der das Risiko erhöht, dass der Krieg jederzeit zum Dritten Weltkrieg eskalieren könnte.

Der vielleicht sinnloseste Aspekt der gegenwärtigen Debatte unter den Nato-Mitgliedern besteht darin, dass eine Erklärung von Vilnius, wonach die Ukraine der Nato beitreten wird, mit oder ohne Zeitplan ein Versprechen ist, das nicht eingelöst werden kann, wenn sich das Schicksal der Ukraine auf dem Schlachtfeld nicht grundlegend ändert.

Eine solche Erklärung kann den Nato-Beitritt der Ukraine ebenso wenig garantieren wie ihr Vorläufer auf dem Bukarester Gipfel von 2008. Sie wird lediglich dafür sorgen, dass die Russen unerbittlich und entschlossen bleiben, die Aufnahme zu verhindern, indem sie den Krieg so lange wie nötig fortsetzen.

Das westliche Beharren darauf, dass die Ukraine "eines Tages" der Nato beitreten darf, gekoppelt mit unserem (vernünftigen) Wunsch, nicht in den Dritten Weltkrieg hineingezogen zu werden, bedeutet also, dass "eines Tages" niemals kommen wird.

Das wirft die Frage auf: Warum sollte man ein Versprechen aufrechterhalten, wenn es keinen realistischen Weg gibt, es zu erreichen? Warum sollte man sich über einen Grundsatz (die "offene Tür" der Nato) streiten, der ohnehin weitgehend theoretisch ist, weil die Ukraine dem Bündnis nicht beitreten kann, ohne jenen Flächenbrand auszulösen, den die Nato bei seiner Gründung vermeiden wollte?

Die Staats- und Regierungschefs, die in Vilnius zusammentreffen, stellen sich diese Frage vielleicht nicht, aber künftige Historiker, die über sie urteilen, werden es sicherlich tun.

Der Artikel erscheint in Kooperation mit Responsible Statecraft. Das englische Original finden Sie hier. Übersetzung: David Goeßmann.