Wirtschaftliche Auswirkungen der Corona-Lockdowns
Daten und Fakten, die in unseren Leitmedien wenig Beachtung finden
Nach Angaben der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) droht durch die weltweiten Corona-Lockdowns nach westlichem Vorbild fast der Hälfte aller Arbeitskräfte der Erde eine existenzielle Bedrohung der Lebensgrundlage. Betroffen seien vor allem 1,6 der zwei Milliarden Menschen, die irregulärer Arbeit nachgehen, also ohne Arbeitsverträge, und die oft von der Hand in den Mund leben, berichtet die ILO in Genf:
Für Millionen Arbeiter bedeutet kein Einkommen kein Essen, keine Sicherheit, keine Zukunft. Millionen Unternehmen rund um die Welt können kaum atmen. Sie haben keine Ersparnisse oder Zugang zu Krediten. Dies sind die wahren Gesichter der Arbeitswelt. Wenn wir ihnen jetzt nicht helfen, werden sie einfach untergehen.
ILO
Das Einkommen dieser Menschen sei, so DW, im weltweiten Durchschnitt um 60 Prozent eingebrochen, in Afrika und Lateinamerika sogar um mehr als 80 Prozent. Der Grund: 436 Millionen Unternehmen und Selbständige weltweit sind in Branchen tätig, die besonders stark unter den Lockdown-Maßnahmen leiden.
Laut Wall Street Journal wird sich 2020 die Zahl der hungernden Menschen auf der Welt von 130 auf 260 Millionen verdoppeln. Darunter sind erfahrungsgemäß sehr viele Kinder. Davon sterben immer ziemlich viele.
Vermutlich werden wir schon dieses Jahr mehrere Millionen zusätzliche Hungertote sehen, vor allem Kinder, vor allem Mädchen, vor allem Schwarze und Farbige. Der Grund: Die Covid-Lockdown-Maßnahmen, die von dem Vorbild westlichen Welt ausgingen und unhinterfragt in den meisten Ländern der Dritten Welt übernommen wurden. Zum Vergleich: Die Zahl der Corona-Toten weltweit liegt momentan bei knapp 0,6 Millionen. Das Durchschnitts- und Medianalter der teilweise grausam an Covid Verstorbenen liegt über 80, die meisten Covid-Toten waren mehrfach schwer vorerkrankt. Die Hungertoten in der Dritten Welt dagegen sind häufig sehr jung, es betrifft vor allem Kinder.
Ein Beispiel: In Indien brachen Exporte und Importe im April 2020 gegenüber dem Vorjahr um 60 Prozent ein, im Mai waren es 37 (Exporte) und 51 Prozent (Importe). Es wurden etwa 100 Millionen Inder durch die Covid-Lockdowns in die Arbeitslosigkeit geschickt.
36 Länder der Dritten Welt stehen laut Wall Street Journal vor starken Schuldenproblemen. In Banksprache: Die Bonität vieler Bonds wackelt. Ich war sieben Jahre Investmentbanker und denke, diese Finanzprobleme werden für einige Länder und viele hundert Millionen Menschen übel ausgehen. Denn die Weltkonjunktur und damit Gewinne und Cash Flows, also die Fähigkeit, Schulden zurückzuzahlen, geht in den Keller, die ausstehenden Schulden bleiben jedoch bestehen. Das kann schwerlich ohne Schuldenausfall, Schuldenschnitt, Schuldenverzicht oder Insolvenzen funktionieren. Diese führen häufig zu Finanzkrisen, Währungsturbulenzen und Import-/ Export-Problemen in den betroffenen Ländern. Begleitet wird das meistens von hoher Arbeitslosigkeit, Armut, Elend und sozialen Unruhen. Der Grund für die kommende Bondkrise: Corona-Lockdowns weltweit nach westlichem, nach unserem Vorbild. Dadurch verursachen wir in den armen Ländern dieser Welt Elend, Leid und Tod in erheblichem Ausmaß.
Die Situation in den USA
Laut Economist vom 16. April 2020 hat ein Viertel aller kleinen Unternehmen in den USA nicht genügend Cash, um einen Monat Zahlungsausfall zu überstehen. Von 21. März bis 4. Juli 2020 haben sich in den USA 50 Millionen Menschen arbeitslos gemeldet. Die offizielle Arbeitslosenrate lag im Juni 2020 bei 11,1, die Jugendarbeitslosigkeit bei 20,7 Prozent. Fachleute weisen allerdings darauf hin, dass die offizielle Arbeitslosenquote zu niedrig wiedergegeben wird.
Laut Wall Street Journal fanden im Mai in den USA über 30 Prozent der 16-19-Jährigen keinen Job. Besonders hart betroffen: Schwarze. Ende April 2020 waren in den USA etwa 40 Prozent der US-Haushalte mit Kindern unter 13 "food insecure", das heißt, die befragten Mütter wussten nicht, wie sie ihre Kinder ernähren sollen. Der Anteil der Mütter mit Kindern unter 13, die berichteten, dass das eingekaufte Essen nicht reicht, erhöhte sich durch den Lockdown um 170 Prozent gegenüber 2018.
Einer der Gründe: Schon vor der derzeitigen Lockdown-induzierten Wirtschaftsdepression waren die Vermögen der untersten 20 Prozent der US-Haushalte - zwischen 2007 und 2019 - laut Wall Street Journal um etwa ein Drittel gefallen, ihre Einkommen waren in diesen 12 Jahren real um 2 Prozent zurückgegangen. Dann kam der Lockdown. Er hat das unterste Fünftel der US-Bevölkerung entsprechend hart erwischt, vor allem die Minderheiten, die Schwarzen und die Farbigen. Im unteren Viertel der US-Bevölkerung ist die Arbeitslosenquote laut Wall Street Journal mit über 30 Prozent sehr viel höher als im Landesdurchschnitt, weil die unqualifizierten Tätigkeiten häufig sehr service-orientiert sind und dort wenig home office möglich ist.
Ein Blick nach Deutschland
Die offizielle Arbeitslosenrate lag im Mai bei 3,9 Prozent. Das entspricht 2,85 Millionen Menschen. Dazu kamen im April (neuere Daten liegen leider nicht vor) 6,8 Millionen Menschen in Kurzarbeit. Das waren insgesamt also etwa 9,7 Millionen Arbeitnehmer von insgesamt ungefähr 45 Millionen Beschäftigten bei uns. Also mehr als 21 Prozent der Arbeitnehmer haben im April nicht normal, nicht voll oder gar nicht gearbeitet.
Allerdings sind das alles letztlich nur Schätzungen. Laut der arbeitgebernahen Denkfabrik Agenda Austria beliefen sich Kurzarbeit und Arbeitslosigkeit zusammen in Deutschland im April auf 30 Prozent. Zum Vergleich: In Schweden auf 14 Prozent. In Baden-Württemberg war im April jedes vierte Produktionsunternehmen geschlossen.
Die Auftragseingänge der Industrie sind von Januar bis April deutschlandweit um 38 Prozent gegenüber dem Vorjahr gesunken. Im Mai lagen sie um 29 Prozent unter Vorjahr. In der Automobilindustrie waren die Auftragseingänge im April 47 Prozent unter dem Niveau von Februar 2020. Das verheißt für die kommenden Monate nichts Gutes auf dem Arbeitsmarkt. Daimler gab am 11.7. bekannt, dass 15.000 Stellen abgebaut würden.
Exporte und Importe sind bis Mai 2020 implodiert: Exporte Mai 2020 minus 30 Prozent gegenüber Vorjahr, Importe minus 22 Prozent. Die meisten Menschen in unserem Land haben meiner Einschätzung nach noch nicht realisiert, dass die eigentliche Krise den Arbeitsmarkt erst in den kommenden Monaten in voller Wucht erfassen und einige Jahre dauern wird.
Irrtümliche Einschätzung über die künftige ökonomische Entwicklung
Viele Menschen werden durch das Kurzarbeitergeld in der Illusion gewiegt, dass bald alles wieder normal sein wird. Kurzarbeitergeld - so sinnvoll diese Maßnahme auch ist - ist aus psychologischer Sicht gewissermaßen Opium für die Arbeitnehmer. Sie werden dadurch über den eigentlichen Ernst der Lage betäubt. Viele Menschen glauben immer noch an eine Art V-Aufschwung, steil bergab mit der Konjunktur und dann wieder steil bergauf, und haben Angst vor einer "zweiten Welle" bei Corona-Infektionen. Das ist in meinen Augen unangemessen.
Eine "zweite Welle" ist für die große Mehrheit der Menschen, für über 80 Prozent laut Johns Hopkins University, nämlich junge, gesunde, nicht multimorbid Vorerkrankte, weitgehend harmlos, ebenso wie die erste Welle. Nicht aber der kommende Absturz am Arbeitsmarkt. Vor dem könnten die Menschen zu Recht Angst haben. Die Angst ist ganz auf das falsche Objekt abgelenkt.
Die irrtümliche Einschätzung über die künftige ökonomische Entwicklung geht von sehr vielen Ökonomen aus. Mit wenigen Ausnahmen, z.B. dem Leiter des ifo-Instituts, unterschätzten die allermeisten Mainstream-Ökonomen ebenso wie 2007 vollkommen das Ausmaß der aktuellen Krise. Der Grund dafür ist meiner Meinung nach, dass die zu Grunde liegenden mathematischen ökonomischen Modelle auf unzutreffenden, marktapologetischen Grundannahmen aufbauen und daher bestimmte gefährliche strukturelle Entwicklungen nicht erkennen können (siehe: Das Mephisto-Prinzip in unserer Wirtschaft). Das ist, wie wenn man eine Brille mit Milchglas für bestimmte Fragestellungen aufhätte.
Ein paar Beispiele: Der Internationale Währungsfonds prognostizierte am 20.3.2020 für Italien einen BIP-Rückgang 2020 von 0,6 Prozent. Mittlerweile liegen die Schrumpfungsschätzung bei über 10 Prozent. Am 4.4.2020 rechnete der IWF mit einer Schrumpfung des Welt-BIP von 3 Prozent. Auch das ist mittlerweile überholt. Unsere Wirtschaftsweisen, der Sachverständigenrat, rechnete am 30.3. mit einem BIP-Rückgang in Deutschland von 2,8 Prozent, "gefolgt von einem raschen Aufschwung". Der Abschwung werde keinesfalls so schlimm sein wie der von 2009. "Es gebe "keine massiven strukturellen Verwerfungen".
Die Wirtschaftsweisen waren bereits bei der Krise 2007-2009 gänzlich danebengelegen. Die Schweizer NZZ titelte am 13.3.2020: "Blinde Ökonomen". Allerdings waren und sind die Prognosen der NZZ auch nicht besser als die anderer Mainstream-Ökonomen, die dem Neoliberalismus anhängen. Auch das Wall Street Journal ist meiner Ansicht nach in der Einschätzung der Realität nicht besser als andere Wirtschaftsjournale.
Zuletzt sei noch auf den Vergleich mit Schweden hingewiesen, der zeigt, dass die schwedische Wirtschaft durch ihre gemäßigte Corona-Politik ungleich besser fährt als die deutsche, auch wenn das in den meisten Medien nicht in dieser Form berichtet wird. Das Wirtschaftswachstum in Deutschland betrug im ersten Quartal 2020 minus 2,3% gegenüber dem Vorjahr, in Schweden plus 0,4%. Die Autokäufe verzeichneten in Deutschland einen dramatischen Einbruch in den Monaten März-Juni, in Schweden gab es nur einen vergleichsweise mäßigen Rückgang, der nicht halb so stark war wie in Deutschland. Die Importe, die ein guter Indikator für die Binnennachfrage sind, erlebten in Deutschland einen dramatischen Einbruch, sie fielen zurück auf das Niveau von 2014, in Schweden fielen sie längst nicht so stark und ermäßigten sich auf das Niveau von 2017. Auch andere Zahlen wie Verkehrsbewegungen oder Stromverbrauch zeigen, dass Schweden ökonomisch sehr viel besser durch die Krise kam als beispielsweise Österreich, das ähnliche Covid-Lockdown-Maßnahmen ergriff wie Deutschland.
Warum habe ich diese Zahlen zusammengestellt? Weil sie sehr wenig beachtet werden. Durch das weitgehende Ausklammern dieser tragischen weltweiten Entwicklungen können wir in unserem Land heute viel leichter die vergangenen und die zahlreichen noch immer bestehenden Covid-Einschränkungen rechtfertigen. Diese Zahlen, Daten und Fakten zeigen meiner Meinung nach deutlich, dass die in unserem Land und weltweit ergriffenen freiheitseinschränkenden Covid-Maßnahmen unverhältnismäßig waren und sind. Sie richteten und richten einen sehr viel höheren Schaden an, als sie Nutzen stiften. Die Kur ist meiner Einschätzung nach um ein Vielfaches schlimmer als die Krankheit Corona.
Prof. Dr. Christian Kreiß, Jahrgang 1962: Studium und Promotion in Volkswirtschaftslehre und Wirtschaftsgeschichte an der LMU München. Neun Jahre Berufstätigkeit als Bankier, davon sieben Jahre als Investment Banker. Seit 2002 Professor an der Hochschule Aalen für Finanzierung und Volkswirtschaftslehre. Autor von sechs Büchern: Profitwahn - Warum sich eine menschgerechtere Wirtschaft lohnt (2013); Geplanter Verschleiß - Wie die Industrie uns zu immer mehr und immer schnellerem Konsum antreibt - und wie wir uns dagegen wehren können (2014); Gekaufte Forschung - Wissenschaft im Dienst der Konzerne (2015); Werbung nein danke - Warum wir ohne Werbung viel besser leben könnten (2016); BWL Blenden Wuchern Lamentieren - Wie die Betriebswirtschaftslehre zur Verrohung der Gesellschaft beiträgt (2019, zusammen mit Heinz Siebenbrock); Das Mephisto-Prinzip in unserer Wirtschaft (2019). Drei Einladungen in den Deutschen Bundestag als unabhängiger Experte (durch drei verschiedene politische Parteien), Mitglied bei ver.di. Zahlreiche Fernseh-, Rundfunk- und Zeitschriften-Interviews, öffentliche Vorträge und Veröffentlichungen. Homepage: Menschengerechte Wirtschaft. Kontakt: christian.kreiss@hs-aalen.de
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