Wissenschaftler fordern "Klima-Endspiel"
Die schlimmstmöglichen Folgen der Erderhitzung werden zu wenig erforscht, kritisieren Experten. Jeder zehnte Mensch könnte sterben – oder sogar die Menschheit insgesamt. Mehr Klarheit soll ein UN-Bericht bringen
Extreme Regenfälle haben im US-Bundesstaat Kentucky in dieser Woche mindestens 37 Menschen in den Tod gerissen, hunderte werden noch vermisst. Im Iran hat gerade eine "Jahrhundertflut" mehr als 100 Menschen getötet, während der Po in Italien ausgetrocknet ist. Längst zeigt der Klimawandel sein Gesicht überall auf der Welt, die Durchschnittstemperatur ist mittlerweile gegenüber der vorindustriellen Zeit im globalen Durchschnitt um 1,2 Grad angestiegen.
Wie sich das anfühlt, werden wir in den nächsten Tagen auch wieder in Deutschland erleben: Der Deutsche Wetterdienst hat gerade eine Hitzewarnung ausgegeben. Demnach wird es an diesem Donnerstag bis zu 40 Grad heiß. Ein Temperatursturz mit Extremwetter könnte dann auch hier am Wochenende folgen.
Im Klimaschutzabkommen von Paris haben sich die Staaten der Welt 2015 verpflichtet, dass die globale Temperaturerhöhung "deutlich unter zwei Grad über dem vorindustriellen Niveau gehalten wird und Anstrengungen unternommen werden, um den Temperaturanstieg auf 1,5 Grad zu begrenzen".
Es sei nämlich erkannt worden, "dass dies die Risiken und Auswirkungen der Klimaänderungen erheblich verringern würde". Dummerweise sind wir schon bei 1,2 Grad. Und dummerweise ist seit 2015 nichts passiert im Kampf gegen die Treibhausgasproduktion: Im vergangenen Jahr stieg sie gegenüber dem Vorjahr sogar um den Rekordwert von sechs Prozent!
Auf dem Weg in eine Welt mit deutlich über zwei Grad mehr
Laut einer Erhebung der Internationalen Energieagentur IEA wuchsen die energiebedingten Emissionen 2021 auf rund 36,3 Milliarden Tonnen an – eine Zunahme von über zwei Milliarden Tonnen binnen zwölf Monaten.
Der "Corona-Effekt" von 2020, als es nicht durch Klimaschutz und Erneuerbare Energien, sondern durch die Lockdown-Politik einen Rückgang gegeben hatte, ist damit vollständig verpufft. Bislang stiegen die Emissionen im Jahresvergleich lediglich um 1,5 bis drei Prozent. Wir sind also vielmehr auf einem Weg in eine Welt, die deutlich über zwei Grad wärmer wird.
Namhafte Wissenschaftler:innen haben nun mehr Beachtung für solch extreme Szenarien gefordert. Die aktuellen IPCC-Berichte würden davon ausgehen, dass bei einer Verdoppelung des atmosphärischen Kohlendioxidgehalts die Wahrscheinlichkeit eines Temperaturanstiegs von mehr als 4,5 Grad bei etwa 18 Prozent liegt.
Die Hälfte dieser Verdopplung sei aber grob bereits heute erreicht. Dennoch würden die Folgen extremer Temperaturerhöhungen um mehr als drei Grad zu wenig beachtet, schreibt die Gruppe. Bisher seien neue Erkenntnisse auf diesem Gebiet immer eine Grund zur Sorge gewesen, betont Johan Rockström, Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (PIK) und einer der Autoren der Studie, die in den Proceedings der US-Nationalen Akademie der Wissenschaften erschienen ist:
Unumkehrbare und potenziell katastrophale Risiken, die durch den vom Menschen verursachten Klimawandel verursacht werden, müssen in unsere Planung und unser Handeln einfließen. Wenn es einen roten Faden in der Wissenschaft der letzten 30 Jahre gibt, dann ist es dieser: Je mehr wir darüber lernen, wie unser Planet funktioniert, desto mehr Grund zur Sorge gibt es.
Johan Rockström, Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (PIK)
Es geht um die Kipp-Punkte im Klimasystem, jene 16 Systeme auf dem Planeten, die bei mehr als zwei Grad den Menschen machtlos gegen die Klimaerhitzung machen. Einmal in Gang gesetzt, können die angeschobenen Prozesse nicht mehr aufgehalten werden. Millionen Tonnen Treibhausgase, die heute noch in der Natur gespeichert sind, werden dann freigesetzt. Wie von selbst heizen sie die Erde weiter an, ohne dass dagegen etwas unternommen werden könnte.
Diese Kipp-Punkte würden immer näher rücken, sagt Johan Rockström, "nicht nur, weil die Menschheit immer mehr klimaschädliche Treibhausgase ausstößt, sondern auch, weil wir zunehmend verstehen, dass unser Planet anfälliger ist". Das Absterben des Amazonas oder das beschleunigte Abschmelzen des Grönlandeises seien Beispiele für Systeme, die schnell von kühlenden Kohlenstoffsenken zu Quellen weiterer Erwärmung werden können.
Rockström: "Das bedeutet, dass wir uns nicht damit begnügen können, nur Mittelwerte zu betrachten, sondern, dass wir nichtlineare extreme Risiken einkalkulieren müssen."
Die Mathematik der Katastrophe durchzurechnen, könnte der Schlüssel dazu sein, sie zu vermeiden.
Johan Rockström
Mit seinen Kolleg:innen fordert Rockström deshalb ein "Klima-Endspiel": Die Erforschung katastrophaler Szenarien der Klimaerhitzung sei zu wenig vorangetrieben worden, so ihre Kritik. Stärker in den Blick nehmen sollte die Wissenschaft die vier großen Gefahren Extremwetter, Hunger und Mangelernährung, Konflikte um Wasser und Ackerboden sowie das Auftreten neuer ansteckender Krankheiten.
Einen wissenschaftlichen UN-Bericht zu "katastrophalen Klimawandelszenarien", fordern Rockström und Kolleg:innen, zu denen etwa die US-amerikanische Gesundheitswissenschaftlerin Kristie L. Ebi gehört, der australische Zivilisationsforscher Luke Kemp oder Hans Joachim Schellnhuber, vormaliger Direktor des PIK. Einen wissenschaftlichen UN-Bericht – den müsste der Weltklimarat IPCC erstellen.
Tatsächlich hatte der IPCC 2018 in einem Sonderbericht erforscht, was der Unterschied zwischen einer 1,5 Grad wärmeren und einer 2 Grad wärmeren Welt ist. "Es gibt aber vielfache Hinweise darauf, dass die Erderwärmung eine katastrophale Größenordnung erreichen könnte", schreiben die Wissenschaftler:innen.
Sie sehen die Klimaerhitzung auf dem Weg zu 2,1 bis 3,9 Grad Ende des Jahrhunderts. Dennoch konzentriere sich die Forschung auf Szenarien mit moderatem Temperaturanstieg, kritisieren sie. Extrem-Szenarien nicht zu betrachten sei bestenfalls naiv, "schlimmstenfalls verhängnisvoll töricht".
Allerdings ist der Weltklimarat IPCC kein unabhängiges Gremium der Wissenschaft, sondern ein Zwischenstaatlicher Ausschuss, angesiedelt bei der UN. Eigene Forschungsarbeit leistet der IPCC gar nicht, in seinem Auftrag bewerten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler weltweit den aktuellen Stand der Forschung.
Den Arbeitsauftrag erteilt dem IPCC wiederum die Politik – und die müsste dem Weltklimarat den Auftrag erteilen, zu erforschen, was passiert, wenn sie beim Klimaschutz scheitert. Ein Auftrag zum "Klima-Endspiel" an den IPCC - schlechterdings schwer vorstellbar. Stattdessen empfahl der Weltklimarat via Twitter gerade, mehr Parks und Teiche in den Städten anzulegen – als Kühlelement gegen die zunehmende Hitze.
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